Katharsis. Drama einer Familie. Michael Reh
und die blauen Kacheln voller Blut. Ihre Augen blickten ihn entsetzt an und erloschen.
Den alten Mann hinter ihm hatte er nicht gleich bemerkt. »Was machst du denn da, bist du verrückt worden?«, krächzte der Greis.
Ohne zu zögern drehte er sich um und hieb die Eisenstange mit voller Wucht gegen den Hals des alten Mannes. Mit einem unangenehm klingenden Knacken brachen die Halswirbel. Der Alte röchelte kurz und sank an dem Einbauschrank des Badezimmers in sich zusammen.
»So ist es gut«, sagte er zu sich selbst. Dann wusch er das Blut von der Eisenstange, verließ das Badezimmer und ging durch die Küche in den Flur. Der Fernseher im Wohnzimmer plärrte immer noch vor sich hin. Ohne zu zögern griff er zu dem altmodischen Telefon. Festanschluss! Erneut ein Gedanke wie ein Vogelflügel, so zart, so leicht und schon wieder vorbei. Er wählte 110 und sagte der Frau, die sich meldete, dass in der Hauptstraße 66 ein Mord begangen worden war und er auf sie warten würde. Er blieb ruhig auf dem Sofa sitzen, die Polizei würde bald eintreffen.
Der Ring aus Angst und Wut um seinen Hals, ein Leben lang gefühlt, lockerte sich. Endlich!
Er sah aus dem Fenster. Zum ersten Mal, seitdem die beiden den Bann um ihn und seine Sinne gelegt hatten, konnte er die Welt wieder klar wahrnehmen.
Er öffnete das Küchenfenster, das auf den betonierten Hof hinausging. Die Schwüle hatte abgenommen und ein frischer Luftzug strömte ihm entgegen. Gierig sog er ihn auf.
Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge kamen näher.
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Freitagnachmittag in Psychopolis
Freitag, der 11. Juni, schien ein Tag wie viele andere im Leben von Max Remark. Aber es war der Freitag, an dem sich alles ändern sollte.
Er erwachte aus dem Delirium der letzten Drogennacht mit einem zentnerschweren Kopf und einer ebenso schweren Zunge. Eine Handvoll Aspirin, literweise Espresso und viel Zucker halfen ihm meist über die erste Depression hinweg. So auch an diesem Morgen. Es gehörte zum guten Ton, sich koksend die Nächte um die Ohren zu schlagen, ohne an den Morgen danach zu denken. Zumindest in seiner Welt.
Alle taten es und in der Modeszene kamen die Dealer ins Studio, man musste keine Drogen auf der Straße kaufen oder sich in irgendwelchen dunklen Ecken schlechtes Zeug andrehen lassen. Jeder zog seine Lines, ohne sich um Geheimniskrämerei zu scheren. Irgendwann erwischte es im Laufe der Zeit jeden und obwohl Max über die Jahre viele Talente vor die Hunde gehen sah, zog es ihn immer wieder in den Strudel des anfänglichen Verzückens, des hemmungslosen Sex und der Gier nach mehr.
Ab einem gewissen Moment machten ihn die ständig gezogenen Lines zwar völlig verrückt, aber Pillen, Alkohol und ein dicker Joint holten ihn runter und irgendwann ebbte der Rausch und später auch die Depression ab. Es war alles eine Frage der Zeit.
Irgendjemand hatte ihm vor ein paar Jahren Koks auf einer Party angeboten. Zuerst nahm er die Droge nur ab und zu. Dann jedes Wochenende, kurz darauf hatte er ein, zwei oder drei Nummern von Dealern. Sein Dealer fuhr einen Porsche.
Er ließ sich immer wieder verführen, so wie all die anderen funktionierenden und nicht funktionierenden Junkies in New York. Diesem großen, wurmstichigen Apfel, der schon lange an keinem Ast mehr Halt gefunden hatte und am Boden liegend vor sich hin rottete.
Max lebte seit fast zwanzig Jahren in New York, jenem Apfel, den Eva angeblich Adam hingehalten hatte und den dieser voller Zorn auf den Boden hätte schmeißen sollen. Aber der Dummkopf nahm erst einen Bissen, ließ ihn fallen und schickte dann die Menschheit in das faulende Verderben.
Max und seine Freunde waren der festen Überzeugung, dass der Cocktail aus Uppers und Downers, schnellem Sex, Diätpillen, ADS-Syndromen, fettfreien Diäten, Botox und Cosmopolitans ungefährlich sei, dazu noch chic und ewig dauernd. Der Drahtseilakt namens New York Life forderte ständige Bereitschaft.
Der Tod ist ein langsamer Tänzer und Max stürzte sich ins Leben, aus Angst, etwas zu verpassen, oder, was viel schlimmer gewesen wäre, nicht mehr hip zu sein. Denn das wäre der wahre Tod eines jeden Bewohners von Manhattan.
Träume hatte er keine, die Suche nach Liebe abgeschlossen. Liebe war nur eine Erfindung der Literaten und von Hollywood, denn die machten Geld damit.
Mit Mitte zwanzig war Max von Paris nach New York gezogen, hoffnungsvoll seinem neuen Leben entgegen, unwissend um die Ereignisse, die in seiner Vergangenheit stattgefunden hatten. Er hatte seine Vergangenheit so erfolgreich verdrängt, dass sie keine Chance hatte, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorzukriechen und sich ihm zu offenbaren.
Er wurde Fotograf, war talentiert, hatte ein gutes Auge für die Schönheit der anderen. Er war erfolgreich, die Modeszene mochte seinen Blick auf die Dinge des Lebens. Und obwohl er oft erst mittags wieder nüchtern war und den Kopf nicht mehr zwischen den Schenkeln irgendeiner Unbekannten hatte, verzieh man es ihm. Meistens.
Kreative dürfen, ja müssen anders sein als der Rest der Welt. Zauberkinder, Wunderkinder, Exoten. Zumindest solange sie das gewünschte Ergebnis erzielen und gut verkaufen. Geht der Verkauf zurück, heißt es: »Hasta la vista, Baby«, und eine ganze Armee von Nachfolgern steht auf der Matte, um einen ins Tal der Versenkung zu stoßen. Von da gibt es keinen Aufstieg mehr, außer man inszenierte seine Auf- und Abstiege so gekonnt wie Cher.
Ständig tanzten am Set zehn hysterische Menschen um Max herum: Stylisten, Artdirektoren, Assistenten, Assistenten von Assistenten, Make-up- und Hairstylisten und Redakteure, meist weiblichen Geschlechts, die offensichtlich seit Jahrhunderten keinen Sex mit einem anderen Menschen hatten und dies nicht unbedingt freiwillig. »Mal baisé«, wie der Franzose sagt, denn kein Sex bedeutet eben auf Dauer bei den meisten Warmblütern auch schlechte Laune.
Max hingegen hatte so viel Sex, dass er ihm schon fast aus den Ohren wieder herauskam. Machte ein Teil von ihm aufgrund der Kokserei mal schlapp, nahm er die Wunderwaffe gegen Impotenz: kleine blaue Pillen zu zwei Dollar das Stück, aus dem Internet frei Haus geliefert.
Nach jeder durchgemachten Nacht versprach er sich hoch und heilig: »Never again«, und war doch am Nachmittag wieder bereit für die nächste Rutschpartie ins vermeintliche Glück. Er hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt und machte sein Ding, egal ob high oder nicht, irgendwie kam immer etwas dabei heraus.
Der Heroinchic entstand nicht ohne Grund. Dass so viele Mädchen auf der Welt magersüchtig wurden, weil sie aussehen wollten wie Models, war nicht sein Problem. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Manche Models rauchten, schnupften oder spritzten Heroin in die Bikinizone, denn da sah man die Einstiche nicht. Kippten sie um, nahmen sie einfach eine Nase und bis fünf war alles im Kasten. Die Kasse stimmte.
An diesem Freitagabend war eine große Party in einem angesagten Club und Max wollte seinen besten Freund Jean-Marie dort treffen, den er seit zwanzig Jahren kannte. Es war ihnen egal, mit wem sie die Nacht verbrachten und Jean-Marie schlief mit allem, was zwei Beine hatte. Sex war wie Fahren auf der Autobahn. Es hing ganz davon ab, wie high sie waren, das Leben glich einem gezielten Drauflosfahren auf die Leitplanke. Volles Rohr drauf los und Whamm! Sex war Leben und Tod zugleich.
Jean-Marie, von allen nur JM genannt, konnte seit einigen Tagen sein Gesicht nicht mehr richtig bewegen – zu viel Botox. Er fand, er sah gut aus, mindestens fünf Jahre jünger, und wollte dies auch von jedem bestätigt wissen. Irgendwie war er immer noch der kleine Klosterschüler aus einem Pyrenäendorf in Saint-Marie. Sein Kommunionsbild mit den gefalteten Händen und der strahlenden Haut hing in Lebensgröße auf dem Gästeklo seines Penthouses in Chelsea.
JM war süchtig nach allem, was das Leben bot: Geld, Erfolg, Liebe, Essen, Sex, Alkohol, Macht, Klamotten, Koks, egal. Hauptsache, er bekam einen Kick und musste nicht daran denken, dass er als 16-Jähriger seine Schwester mit einem geklauten Jaguar gegen eine Wand im Pyrenäendorf gefahren hatte. Sie war sofort tot und er kotzte jedes Mal, wenn er während einer Panikattacke daran dachte. Silvester wollte er traditionsgemäß vom Dach seines Penthauses springen. Keine Therapien der Welt halfen ihm, mit beiden Beinen auf dem sumpfigen Boden Manhattans zu bleiben.
Egal ob Buddhismus, Hinduismus, Bagwhan, ja selbst Kabbala: Nichts hielt ihn mehr als