Katharsis. Drama einer Familie. Michael Reh

Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh


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bekam zwei weitere Geschwister, Knut und Marianne. Als der Stammhalter drei Jahre nach ihrer Geburt der Stolz der Familie wurde, buhlte sie noch um die Gunst der Mutter. Aber die Geburt ihrer Schwester, dem Nesthäkchen der Familie, bedeutete das Ende der emotionalen Verbindung zu Helene.

      Anna konzentrierte sich nun auf ihren geliebten und lustigen Vater, wurde nur dann lebendig, wenn er in ihrer Nähe war, und befolgte die Anweisungen der Mutter lautlos, deren Liebe sie nicht zu verdienen schien.

      Als sie zwölf Jahre alt war, wurde sie zum Hüter ihrer jüngeren Geschwister, der Vater hatte einen schweren Unfall. Bei der Arbeit in der Grube fielen Eisenstangen auf seine Beine, er musste für sechs Monate ins Krankenhaus und brauchte fast zwei Jahre, um wieder laufen zu können.

      Helene musste in diesen harten Nachkriegsjahren für ihre Mutter, ihren Mann und ihre drei Kinder sorgen und nahm den verhassten Beruf als Schneiderin wieder auf. Sie schneiderte sich tagsüber durch die Nachbarschaft und fuhr abends mit dem Fahrrad in das acht Kilometer entfernte Krankenhaus. Um ihr Leben aushalten zu können, vereiste sie innerlich und taute in den Jahren, die noch vor ihr lagen, nie wieder ganz auf.

      Anna witterte ihre Chance, der Mutter näherzukommen und versuchte, ihr alles recht zu machen. Helene registrierte es, sprach von Pflichterfüllung und Aufgaben, ganz im preußisch-deutschen Sinne.

      Anna wuchs zu einer Schönheit heran. Ihr wohlgeformter Körper, die grünen Augen, das dunkelblonde Haar und die vollen Lippen zogen viele Blicke auf sich, begehrliche der männlichen Spezies und neidische von der weiblichen Fraktion. Sie verbarg ihre Unsicherheit hinter der Maske einer Frohnatur, perfekt gespielt bis zum Tode. Sie lachte, was das Zeug hielt, und blühte auf, als ihre Pubertät sich dem Ende zuneigte.

      Sie hatte eine Reihe von Verehrern, blieb aber keusch. Das Ideal der fünfziger Jahre, die Ära Adenauers und der katholischen Kirche, wollte, dass eine Frau unberührt in die Ehe ging, um dann das Desaster der sexuellen Frustration ausgiebig genießen zu können.

      Sie fuhr, ganz im Sinne des Schlagers der fünfziger Jahre, in den Urlaub nach Italien, wurde zum ersten Mal braun, aß Spaghetti, saß unter Palmen und flirtete mit knackigen Italienern. Gesehen werden und doch unerreichbar bleiben, so glaubte sie, sei der richtige Weg, um sich für den Mann aufzusparen, der sie ehelichen sollte.

      Die zwei Wochen in Italien im Sommer 1959 hatten sie erwachsen werden lassen. Sie kam als Frau zurück ins Provinzkaff, wo sie das Netz aus Kirchenchor, Berufsschule und Nachbartratsch erbarmungslos umgab. Anna bekam einen Job als Auszubildende in der Villa Hügel in Essen und wurde Sekretärin.

      Es waren die Jahre des Wirtschaftswachstums, der kollektiven Verdrängung, die Zeiten von Caterina Valente, Freddy Quinn und Peter Alexander, der Lügen, um überleben zu können, des Heimatfilms, der diese Lügen weiter bestärkte, und der Seidenstrümpfe.

      Später erinnerten sich Max’ Großeltern gerne auf Familienfesten an diese Zeit, als Deutschland im Aufbruch war und erfolgreich als wachsende Wirtschaftsnation wieder im Rampenlicht stehen konnte. Als man dann noch das Wunder von Bern erlebte, Weltmeister wurde, keimte der gebrochene Nationalstolz zaghaft wieder auf.

      Worin viele Deutsche wirklich Weltmeister waren, bezog sich eher auf ihre fast grandiose Fähigkeit, die jüngste Vergangenheit zu verdrängen. »Ich war es nicht, Hitler ist es gewesen« stand vielen auf der Stirn geschrieben. Man hatte ja von nichts gewusst und sich um seinen eigenen Kram geschert, ums Überleben gekämpft, als der Iwan kam, und sich gefreut, als der Ami endlich aufgeräumt hatte.

      Anna, geistig unberührt von der braunen Plage ihrer frühen Kindheit, genoss ihren vermeintlich höheren sozialen Status, da sie nun täglich in der Villa Hügel arbeiten durfte, ohne zu wissen, dass sie im Hause der hitlerschen Kollaborateure tätig war.

      Am Wochenende musste sie allerdings wieder in die Rolle der braven Tochter im Elternhause schlüpfen, die Hühner füttern, Treppen putzen und mit der Übermutter Helene und der entfremdeten Schwester Marianne auf den Markt gehen. Nie sonderlich interessiert, was Hausarbeit und Kochen betraf, quälte sie sich mit der Zubereitung von Frikadellen und Sauerbraten und versalzte dennoch jede noch so einfache Suppe.

      Einmal im Monat gab es den Tanzabend der katholischen Kirchengemeinde, einmal im Monat konnte sie lachen, tanzen, flirten und den jungen Männern den Kopf verdrehen, wenn auch nur bis 23 Uhr. Denn dann, und darauf bestand Helene, war Zapfenstreich für unberührte junge Damen.

      Von einem dieser legendären Abende im Jugendheim gab es Fotos, auf denen Anna zu sehen ist. Nie allein, der Mann auf den Fotos an ihrer Seite wechselte ständig. Lachend, hinreißend und ausgelassen, so dass selbst der katholische Pfarrer, Herr Weferdam, ein Tänzchen mit Tibors hübscher Tochter wagte.

      Nur ein Foto fiel aus dem Rahmen. Aufgefordert von einem jungen Mann mit schwarzen Haaren und Übergewicht, schwebt Anna, ernst und zurückhaltend, über das lädierte Parkett. Es war das erste gemeinsame Foto von Max’ Eltern.

      Der linkische Herrmann verliebte sich sofort in dieses Wundergeschöpf, das nur aus Lachen und Lebensfreude zu bestehen schien. All das, was er nie sein durfte, nie sein würde, manifestierte sich in dieser jungen Frau.

      Acht Monate später gab er stolz die Verlobung mit Anna bekannt.

      6

      Die Entscheidung

      Lange hatte Max nicht mehr an seine Mutter gedacht. Während er regungslos auf der Couch lag und darauf wartete, dass sein Kater sich verzog, stiegen immer mehr Bilder aus der Vergangenheit aus den Tiefen seines Unterbewusstseins an die Oberfläche. Längst vergessene Situationen spulten sich wie ein alter Stummfilm vor seinem geistigen Auge ab. Er sah Nikolas und sich an einem warmen sommerlichen Sonntag in der Zinkbadewanne im Garten der Großeltern fröhlich herumplantschen. Sie aßen Zuckerwatte und Aal auf der Pflaumenkirmes und lernten vom Großvater Tibor, wie man Orangen schält. Sie kuschelten mit Anna, fühlten sich geborgen, kratzten die Schüssel mit den Teigresten aus, wenn Helene einen Kuchen backte.

      Jeder liebte die blonden Engelszwillinge. Egal wo sie erschienen, schien sich die Welt nur um die beiden zu drehen. Die Erinnerung an diese Bilder brannte plötzlich in seinem durchlöcherten Gehirn und Max konnte den aufsteigenden Schmerz beim Gedanken an diese verlorene Zeit kaum unterdrücken. Er spürte die tiefe Liebe zu seinem Bruder und bekam keine Luft mehr.

      Trotz der Exzesse der vergangenen 36 Stunden griff er zum Telefon, um den Schneemann anzurufen. Keine Antwort.

      Seine Augen brannten, während er wartete, und ihm wurde bewusst, dass er das weiße Pulver brauchte, um nicht vollends von der Vergangenheit eingeholt zu werden.

      Erneut wählte er die Nummer, die sich in den letzten Jahren in seinen Kopf eingebrannt hatte, setzte sich ungeduldig und schwitzend auf das Sofa. Immer wieder lief er zum Fenster und sah hinunter auf die Straße, in der Hoffnung, den weißen Porsche heranfahren zu sehen, doch nichts passierte.

      Nach weiteren 15 Minuten wurde Max wütend. Warum rief dieser Scheißdealer nicht an und ließ ihn hier in der Hölle der Erinnerung schmoren? Die Minuten zogen sich wie Kaugummi, nichts konnte seine Gedanken vom Telefon und dem erlösenden Anruf trennen.

      Dann, nach einer Ewigkeit, wie es schien, rief der Schneemann zurück, um zu sagen, dass er in einer halben Stunde kommen würde.

      Max’ Magen verkrampfte sich mehr und mehr, er rauchte eine Zigarette nach der anderen, lief wie ein Tiger im Käfig von Wand zu Wand. Die Sonne verschwand hinter dem gegenüberliegenden Haus.

      Plötzlich und unvorbereitet sah er seine eigene Reflektion im Fenster. Es war wie ein Peitschenhieb quer durch sein Gesicht. Einen Moment lang war er so geschockt, als hätte er ein Gespenst gesehen. Die Haare standen wild ab, er trug die gleichen Klamotten wie am Freitag und hatte eine Klammer auf der Stirn, die sein Gehirn davon abhielt zu platzen.

      Doch das war es nicht, was ihn erschreckte, er hatte sich oft so gesehen, darüber gelacht und sich innerhalb kurzer Zeit restauriert. Ein Stehaufmännchen, das andere perfekt blendete.

      Heute war es anders. Durch das zweiminütige Telefonat mit Marie hatte ihn die Vergangenheit eingeholt.


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