Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne. Federica de Cesco

Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne - Federica de Cesco


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Tanzkleid verkauft hatte, um sich Alkohol zu besorgen. Inzwischen hatte ich ihm alles verziehen, aber der Schmerz saß noch tief in mir und es genügte, daran zu denken, um ihn wieder ganz nahe, am Rande des Herzens, zu spüren. Ein solcher Schmerz vergeht nie und ich hatte mittlerweile akzeptiert, dass er zu mir gehörte und Teil meiner Lebenserfahrung war, die mir keiner nehmen konnte. Ich aber konnte diesen Schmerz in etwas Gutes verwandeln: in Musik.

      Mike kannte diese Art von Problemen nicht. Er kam aus einer intakten Familie. Keine Wohlfahrt-Junkies, aber intellektuelles Milieu.

      Das alles war bei uns nicht selbstverständlich. Die sozialen Probleme waren groß und das lag vor allem daran, dass einst unser Lebensmut gebrochen worden war. Wir – die First Nations – waren vielen Leuten im Weg gewesen. Leute, die unser Land, unsere Bodenschätze wollten. Sie hatten uns alles genommen und obendrein noch versucht, uns auszurotten. Aber das war ihnen nicht ganz gelungen. Wir holten wieder auf. Von einer Generation zur anderen wurde es besser. Bald würden wir wieder die gleiche Stärke besitzen wie früher.

      Jetzt ergriff Mike wieder das Wort: »Fast niemand weiß, dass mein Vater aus dem berühmten Geschlecht der Shenandoah kommt. Zehn Generationen von Chiefs, stell dir das mal vor! Und meine Großmutter war eine sehr mächtige Frau, eine Heilerin, die von allen verehrt wurde.«

      »Hast du sie noch gekannt?«

      »Kaum. Ich war vier, als sie starb. Aber ich habe Bilder von ihr gesehen. Sie hatte ein Gesicht, das kannst du dir nicht vorstellen!«

      »Wie sah es denn aus?«

      Er zögerte.

      »Die Weißen verehren ihren Gott und sagen, er hätte sie nach seinem Abbild geformt. Es hört sich vielleicht bescheuert an, aber wenn ich das Bild meiner Großmutter vor Augen habe, denke ich immer noch, Gott muss so aussehen wie sie.«

      Bescheuert? Ich schüttelte den Kopf. Es gab einfach Dinge auf der Welt, die sich nicht erklären ließen. Trotzdem hatten wir vielleicht ein feineres Gespür dafür als die Weißen. Zumindest bildete ich mir das ein.

      »Ich erinnere mich«, fuhr Mike fort, »wie geschockt ich war, als Castaldi mir ganz am Anfang mal erzählte, dass er manche Schüler über Jahre unterrichtet, ohne dass etwas passierte. Das brauche viel Geduld, hat er gesagt. Es sei, als pflege er eine Topfpflanze, ohne dass sie wächst. Ich dachte: Scheiße, jetzt setzt er mich vor die Tür. Aber dann hat er mich angeschaut, weißt du, mit diesen Augen, so blau und klar wie Wasser, und hat wie beiläufig hinzugefügt:

      ›Und dann, ganz unerwartet, beginnt die Pflanze zu blühen.‹«

      Mike lachte sein schönes, offenes Lachen.

      »Und da habe ich begriffen, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte!«

      Ich öffnete die Augen, als wir im Landeanflug auf London waren, und lehnte mich zurück, die Erinnerungen noch immer klar in meinem Kopf.

      Das Gespräch mit Castaldi war kurz vor meiner Abreise gewesen. Ich war zuvor schon mehrmals in Kanada aufgetreten und mit unserem Symphonieorchester in den Vereinigten Staaten auf Tournee gewesen. Es gehörte zu unserer Ausbildung dazu, dass wir früh an Konzerte gewöhnt werden sollten. Wir hatten in verschiedenen Städten Gastspiele gegeben: Boston, Chicago, Seattle und sogar in New York. Damals war ich sehr aufgeregt gewesen. Denn für Künstler galt nach wie vor der berühmte Spruch If you do it there, you do it everywhere. Seltsamerweise hatte man immer nur am Rande von mir Notiz genommen. Es hatte freundlichen Applaus gegeben, mehr aber nicht. Mein Name wurde zwar erwähnt, mein Spiel auch von den Kritikern gelobt. Aber es gab eine zusätzliche Hürde, an die ich nicht gedacht hatte, bis mich Castaldi mit der Nase darauf stupste. »Wärst du Russin oder meinetwegen Chinesin, hätte man mehr Notiz von dir genommen.«

      Vorurteile, dachte ich. Immer noch diese verdammten Vorurteile! Ich war Castaldi dankbar, dass er mir reinen Wein eingeschenkt hatte. Er wusste, dass ich trotz meiner stillen Art voll impulsiver Gefühle war. Deshalb schonte er mich nicht, sondern stellte mich immer wieder vor unbequeme Tatsachen und brachte mich so, Schritt für Schritt, einer Welt entgegen, die ungerecht und brutal sein konnte. Die Amerikaner mochten die First Nations nicht besonders: Es gab zu viele Leute bei uns, die von der Wohlfahrt lebten, und Amerika steckte in der Krise. Die Politik griff auch in die Musikwelt über, die Hälfte der Gage wurde für Steuern abgezogen und es gab immer weniger Klassikstars, die mit ihrem Namen ganze Konzertsäle füllen konnten.

      »Vergiss einstweilen mal New York«, hatte damals Castaldi zu mir gesagt. »Jetzt schicken wir dich zunächst mal nach London.«

      Er arbeitete eng mit Clotilde Peyre zusammen, eine englische Agentin, die mit Begeisterung junge Talente vermittelte.

      »Sie ist liebenswürdig, aber hartnäckig«, hatte Castaldi zu mir gesagt. »Sie erreicht alles, was sie erreichen will. Und sie mag deine Art zu spielen.«

      Die bevorstehenden Semesterferien sollten für die längere Reise genutzt werden. Ich sollte im Barbican Center auftreten. Eine Wohltätigkeitsveranstaltung mit viel Prestige, aber geringer Gage. Wir würden drei Solisten sein: ein junger Russe, der schon verschiedene Preise gewonnen hatte, und eine Amerikanerin. Zunächst London, also. Dann Paris und Venedig.

      Ich freute mich sehr und war so neugierig auf Europa! Ein bisschen Angst mischte sich auch hinzu: Bisher war ich nur mit meinem vertrauten Orchester unterwegs gewesen. Jetzt musste ich mit Dirigenten arbeiten, die ich nicht kannte, mich einer vollkommen fremden Formation anpassen.

      Mike hatte das alles nicht so tragisch genommen.

      »Das schaffst du schon, stark, wie du bist«, hatte er mir versichert.

      Ich würde ihn vermissen, sehr sogar. Er gab mir sehr viel Halt, auch wenn es stimmte, dass ich stark war. Viel stärker, als ich mir bisweilen zutraute. Außerdem würde die Trennung kurz sein. Nur zwölf Tage. Und diese Tournee war wichtig für mich.

      Die Stadt lag unter einer grauen Wolkenschicht. Wir hatten starken Seitenwind. Die Maschine senkte sich, hüpfte und driftete ab. Mir wurde es etwas mulmig in der Magengrube. Es war einer dieser Momente, in denen ich feuchte Hände bekam. Auch der dicke Herr geriet ins Schwitzen. Endlich landete die Maschine, von Windstößen geschüttelt.

      Mit Geige und Schultertasche beladen, stieg ich aus, leicht benommen. Ich erledigte die Ankunftsformalitäten, zeigte die Papiere für mein Instrument. In einer fremden Stadt überließ Robert Castaldi seine Schützlinge nie sich selbst. Er hatte ein dichtes Netz von Beziehungen geknüpft und alles war perfekt organisiert. So ging ich mit schnellen, zuversichtlichen Schritten dem Ausgang entgegen. Ich wusste ja, dass ich abgeholt werden würde.

      Es war eine etwas füllige Dame, die mir schon von Weitem zuwinkte und mich strahlend begrüßte.

      »Hi, Shana! Ich bin Clotilde Peyre! Sag ruhig Clotilde zu mir. Schön, dass du da bist! Wie war der Flug?«

      »Danke, gut«, sagte ich, etwas atemlos. »Ich habe viel geschlafen.«

      »Wunderbar, wenn man das kann!«, rief Clotilde. »Ich bringe im Flugzeug nie ein Auge zu. Es sei denn, dass ich stockvoll bin!«

      Ich lachte. Clotilde – ursprünglich eine Französin – war Intendantin der Musikhochschule und arbeitete schon jahrelang mit Robert Castaldi zusammen. Sie trug Schwarz, was ihrem imponierenden Umfang etwas Elegant-gebieterisches gab. Ihr Gesicht war nahezu faltenlos, das schneeweiße, gewellte Haar umrahmte es wie eine wippende Aura. Sie trug an jedem Finger einen Ring und an den Füßen elegante High Heels. Wohlwollend und neugierig betrachtete sie mich.

      »Robert hat mir viel von dir erzählt. Mir ist, als würde ich dich schon lange kennen.«

      Ihre energische Unkompliziertheit ließ mich an Leona denken und so fasste ich sofort Vertrauen zu ihr.

      »Ist das alles Gepäck, das du bei dir hast?«, erkundigte sie sich überrascht. »So wenig?«

      Ich lächelte ihr zu.

      »Ich


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