Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
»Wir waren Freunde. Uns verband … eine Zuneigung. Er kümmerte sich um uns und brachte uns Dinge bei, an die wir uns den Rest unserer Karriere als Sportler erinnerten.«
In ihrem Laden in Arcabuco erzählte mir Raúls Schwester Maribel: »Als Nairo nach seinem Sieg bei der Tour de l’Avenir [2010] nach Arcabuco zurückkam, sagte er in seiner Rede: ›Ich verdanke diesen Sieg jemandem, der nicht mehr hier ist.‹ Ich fing an zu weinen und schaute mich um und sah, dass alle mit mir weinten. Jeder wusste, über wen er sprach.«
Raúl Malagón hat seine Spuren nicht nur in Nairos überragender Karriere, sondern auch in der Aussprache seines Namens hinterlassen. In Arcabuco wird er ausnahmslos »Nairon« genannt. Jeder, mit dem ich mich unterhalten habe, hat ihn so ausgesprochen. Tatsächlich ergibt einer der Spitznamen, die ihm hin und wieder verpasst werden, »Nairoman«, eigentlich nur in der Diktion des Dorfes Sinn, denn das »n« sorgt für den Reim mit der spanischen Aussprache von »Ironman«. Niemand schien eine Erklärung für diese Anomalie zu haben. Ich gelangte zu der Vermutung, dass sie auf Raúl zurückging, dessen Neffe, der Sohn seiner Schwester Maribel, Byron hieß. Vielleicht fügte er unabsichtlich das abschließende »n« hinzu, wenn er im Dorf angeregt von seinem erstaunlichen Schützling erzählte – Nairo quasi als Variation von Byron – und, mitgerissen von seiner Emotionalität, tat es ihm das ganze Dorf gleich.
Hernán Darío Casas war Assistenztrainer der Bahnrad-Mannschaft von Boyacá, als er Nairo zum ersten Mal begegnete:
Es war an einem windigen Tag Anfang 2008. Ich kam auf meinem Motorrad aus Duitama und da war er. Ich sagte: »Hey, mijo [eine vertrauliche Anrede, wörtlich ›mein Sohn‹]. Geh raus aus dem Wind und ich begleite dich nach Tunja.« Ich fuhr ein recht flottes Tempo, aber er hatte kein Problem, mir zu folgen. Er teilte mir mit, woher er kam, und ich lud ihn auf die Bahn in Duitama ein.
Als ich nach Hause kam, sagte ich zu meinem Vater: »Papa, ich bin einem Jungen begegnet, negrito, negrito, negrito [soll heißen ›klein und sehr dunkelhäutig‹], und der wird es zu was bringen.« Er war ernst, selbstsicher, stand seinen eigenen Mann. Man sah den Ehrgeiz.
Angeleitet von Hernán, begann Nairo, auf der Bahn zu trainieren und Rennen zu bestreiten. Beim kolumbianischen Bahnpokal in Duitama im März 2008 nahm er am Punktefahren teil.
»Nairo hatte einen Rennanzug und ein Scheibenrad«, erzählte mir Hernán Casas, »und er war mit beidem vollauf zufrieden. Aber als ich an seinem Rad eine Übersetzung von 51x14 montierte, protestierte er. ›Nein, Profe [die Standardanrede jedes kolumbianischen Sportlers für seinen Trainer, abgeleitet von Profesor], geben Sie mir ein 52er, ich komme schon zurecht.‹
›Nein, mijo, auf der Bahn kommt es auf Kadenz und Agilität an. Keine Sorge.‹«
Bei den ersten Sprints fuhr Nairo nur hinterher. Dann, mittels Handzeichen und Pfiffen, wies Hernán Casas ihn an, zu attackieren, hielt ihn aber davon ab, einen Rundengewinn herauszufahren. Sprint um Sprint holte Nairo die volle Punktzahl und übernahm die Führung, bevor er in eine Gruppe ging und das Feld noch überrundete.
Es war eine seiner seltenen Annäherungen an die etablierten Teams und Strukturen, zu denen Nairo im Allgemeinen gern eine gewisse Distanz wahrte. Nur widerwillig war er der Radsportschule von Tunja beigetreten, die von einer örtlichen Druckerei namens Ediciones Mar gesponsert wurde, um seine Rennlizenz zu erhalten. Im Grunde hielt er das ganze Lizenzierungssystem für Nepp.
»Um vom Verband eine Lizenz zu bekommen, muss man der Liga angehören, und um der Liga anzugehören, braucht man einen Club, daher erhoben die Clubs hohe Mitgliedsbeiträge und man bekam dafür nichts außer ein Renn-Outfit, das mit dem Namen des Sponsors übersät war. Sofern man nicht einen gewissen ökonomischen Stand hatte« – sprich, es sich leisten konnte, jemanden zu schmieren – »war es schwer, irgendwo unterzukommen, wenn man keiner der großen Namen war. Auf mich traf weder das eine noch das andere zu, daher zog ich es vor, mich herauszuhalten.«
Stattdessen fuhr er einfach für den Meistbietenden. Infolgedessen gibt es von ihm Fotos in den Trikots vieler verschiedener Mannschaften. Nairos Unwille, sich anzupassen, ließ bereits etwas von dem erwachsenen Mann erahnen, der sich aktiv für die Belange der Landbevölkerung einsetzte und es sogar mit dem Radsportverband selbst aufnahm.
Insbesondere schloss er sich nicht dem größten Rennstall in Tunja an, dem Team Chocolate Sol, für das Maurico Soler, der bei der Tour de France 2007 eine Etappe und die Bergwertung gewann, 2001 bei der Vuelta del Porvenir triumphiert hatte.
»Chocolate Sol holte Fahrer aus ganz Boyacá und führte wahre Kriege in den Rennen«, erinnert sich Dayer Quintana. »Nairo war oft auf sich allein gestellt und setzte sich gegen eine ganze Chocolate-Sol-Mannschaft aus acht oder neun Fahrern durch, darunter Talente wie Michael Rodríguez, Edward Beltrán und Darwin Pantoja.«
Nairo verstand sich jedoch nicht mit dem Manager des Teams, Serafín Bernal. »Ich mochte seinen Charakter nicht oder die Art, wie er andere Menschen behandelte, deswegen wollte ich nicht für seine Mannschaft fahren. Und er mochte mich auch nicht.«
Seine erste Reise ins Ausland trat Nairo dennoch im Dienste von Chocolate Sol an. Im Juni 2008, mit 18, machte er sich mit seinem getreuen, schweren Rad auf dem Rücken von zu Hause auf und nahm den Bus nach Cúcuta an der Grenze, um sich mit einem Teamwagen zu treffen, der auf dem Weg in die nahe gelegene venezolanische Stadt San Cristóbal war, und die Volta à Venezuela der Junioren zu bestreiten.
Für dieses eine Rennen hatte Serafín Bernal einen zusätzlichen Sponsor aufgetan, ein Sportartikelgeschäft aus Cúcuta namens Zapatillas Ulloa. Nairos Onkel José, der Bruder seines Vaters, Busfahrer in Cúcuta, hatte dafür gesorgt, dass Nairo Teil des Deals war. Es war eine seltsame Vereinbarung und sie stand sinnbildlich für Nairos Unabhängigkeitssinn: In der Renndokumentation werden seine Teamkollegen als Fahrer von Zapatillas Ulloa – Chocolate Sol ausgewiesen. Neben Nairos Name hingegen steht Ulloa Deportes.
Man gab ihm für das Rennen ein moderneres, leichteres Rad. Es brach ihm das Herz, auf seine eigene Maschine zu verzichten. Dennoch verhalf er seinem Kapitän Heiner Parra zum Gesamtsieg, während er selbst locker in die Top Ten fuhr und Zweiter im Zeitfahren wurde.
Allerdings hatte er nicht die Erlaubnis seiner Schule eingeholt, zu dem Rennen fahren zu dürfen. Sein Sozialkundelehrer Leonardo Cárdenas zeigte mir das Klassenzimmer, in dem Nairo, ganz hinten an der Wand, in zweiter oder dritter Reihe, sein Pult hatte.
»Don Luís kam, um mit dem Schulleiter zu sprechen, aber der antwortete, er könne die Reise nicht genehmigen. Luís sagte zu ihm: ›Zu spät, er ist schon fort.‹«
Hinterher ließ ihn sein Sportlehrer in der Prüfung durchfallen und der Rektor forderte ihn auf, in einer öffentlichen Ansprache um die Vergebung seiner Klassenkameraden zu bitten. Stattdessen zog Nairo sie mit Erzählungen von seinem Abenteuer in den Bann, unter anderem wie er den Kampf gegen eine Gruppe venezolanischer Fahrer gewann, die ihn während des Rennens attackierten.
»Er war kein Dummkopf«, sagt sein alter Lehrer Leonardo Cárdenas. »Er ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Er wurde nie drangsaliert. Er war wohlerzogen, aber er war kein Feigling. Und er war edelmütig.«
Ungeachtet dieser Unstimmigkeiten schätzte Nairo seine alte Schule sehr und besucht sie noch heute regelmäßig, um sich mit den Kindern zu unterhalten. Die Prüfung in Sport bestand er allerdings nie.
Etwa zu der Zeit hörte Nairo auf, freitags und sonntags auf den Markt in Tuta und Tunja zu fahren, und fing etwas Neues an: »Wir bauten daheim im Laden Öfen ein und ich begann, Brot zu backen, wenn ich von der Schule heimkam. Ich bediente bis abends um zehn oder elf Uhr an der Theke, dann ging ich wieder an die Öfen und buk für den nächsten Tag.«
Seinen Schlafgewohnheiten war das nicht eben förderlich. »Als ich mit dem Radsport anfing, stand ich oft bis vier Uhr morgens in der Backstube und um sechs machten wir uns auf den Weg zum Ort, wo ich Rennen fuhr.«
Hernán Casas erzählte mir: »Mein Vater war Bäcker, also fragte Nairo ihn, wie man