Colombia Es Pasión!. Matt Rendell

Colombia Es Pasión! - Matt  Rendell


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anderen Straßenseite gelegen.

      Als sie 20 war, war Eloísa schwanger mit Willington Alfredo – benannt nach dem Fußballer Willington Ortiz, der 49-mal für Kolumbien spielte, allerdings von allen immer nur Alfredo genannt. Danach kamen Esperanza, zu Deutsch »Hoffnung«, und Leidy, ein Name, der Verbreitung fand, als Diana im Jahr 1981 Prinz Charles heiratete. Alfredo glaubt, dass seine Eltern die Namen der Geschwister vier und fünf, Nairo Alexander und Dayer Uberney, aus der Zeitung haben.

      Eloísa war als Kind verlassen worden. »Ich war eins von acht Kindern«, erzählte sie mir, »was ich aber erst seit kurzem weiß. Ich wurde von einer Frau namens Sagrario Rojas aufgezogen, die mich liebte wie ihre eigene Tochter.«

      Sagrario verstarb wenige Monate nach Nairos Geburt. Eloísa zog los, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, und nahm das Baby mit.

      »Die Krankheit setzte drei Tage danach ein«, sagte Eloísa. »Der Mann, der den Leichnam hergerichtet hatte, muss den kleinen Nairo berührt haben.«

      Nairo erzählte mir später von einem althergebrachten Glauben, demzufolge tote Körper eine »kalte Energie« absondern, die, bei Berührung, in ungeborene Kinder und Säuglinge eindringt.

      »Für die Behandlung können nur natürliche Heilmittel verwendet werden. Das ist keine Sache wissenschaftlicher Medizin.«

      Als Sportler ist Nairo seit seiner Teenagerzeit wissenschaftlicher Methodik unterworfen, und er weiß genau, wovon er spricht: dass moderne Wissenschaft und Medizin, bei allem Nutzen, den sie der Welt bringen, einer Lebenspraxis angehören, die die Gedankenwelt seiner eigenen Kindheit verdrängt hat. Das macht seine Krankheit und sein Überleben als Baby mindestens ebenso sehr zum Ausdruck von Identität und sogar zu einer Form von Widerstand, als sie medizinische oder biografische Fakten sind.

      »Los antiguos«, erzählte mir Isabel Monroy, bezogen auf die Gemeindeältesten, »wiesen Doña Eloísa an, die Knospen von neun Heilpflanzen zu sammeln, sie zu kochen und Nairito in dem Wasser zu baden.« Mir wurde nicht klar, ob das Ritual des Sammelns der Knospen selbst bereits Teil der Heilung war.

      Die Quintana-Kinder bekamen nur selten ein Fernsehgerät zu Gesicht. Deshalb war ihnen die filmische Sprache aus Gestik und Mimik, selbstverständliche Gewohnheit für diejenigen, die vor dem Bildschirm sozialisiert wurden, fremd. Auch hatten sie wenig Zeit für Musik und Tanz, wenngleich die Hügel rund um Cómbita widerhallten von den Klängen der tiples – 3/4-Gitarren mit vier Chören mit je drei Saiten – und der noch kleineren requintos und von einer Musikrichtung, die der Außenwelt als carranga bekannt ist, ausgeübt von Sängern wie Jorge Velosa und Ildefonzo Barrera, die beide, viele Jahre später, Lieder über Nairo komponieren würden.

      Eingebunden in diese Kultur aus heimischer Musik- und Tanztradition war eine Form improvisierten Sprechgesangs in vierzeiligen Strophen, die sogenannten coplas. Orlando Fals Bordas Abhandlung über Saucío nennt das Beispiel eines tres genannten Tanzes, bei dem drei Feiernde eine Acht beschreiben: »Wenn ein Tänzer ›schneidet‹, d.h. zwischen seinen beiden Partnern hindurchschreitet, wird von ihm erwartet, eine copla zu ›singen‹, ein vierzeiliges Liedchen im Reimschema a-b-c-b. Bis der Tänzer sich abwendet, um seine nächste ›Acht‹ zu beschreiben, ist er fertig mit Singen und einer seiner beiden Partner ist an der Reihe.«

      Die bemerkenswerte örtliche Lehrerin Elba Rosa Camargo – niemand Geringeres als Kolumbiens »Lehrerin des Jahres 2015« – verriet mir mehr über die coplas. Sie war im Jahr 2006 an das Umwelttechnische Institut in Vereda Sote Panelas versetzt worden, nicht weit von dem Haus, in dem Nairo aufwuchs, allerdings höher am Hang gelegen, weiter weg von der Hauptstraße. »Ich hatte zuvor in Tunja gearbeitet, in einer städtischen Schule, wo die Kinder sich laut und freimütig unterhielten«, erzählte sie mir. »Plötzlich fand ich mich in einer sehr ruhigen Gemeinde wieder, deren Mitglieder weit voneinander entfernt lebten und denen Hausbesuche unangenehm waren. Ich war nur 20 Minuten von Tunja entfernt, aber es fühlte sich ziemlich fremd an. Ich empfand die Stille als schrecklich.«

      Coplas boten eine Möglichkeit, das eisige Schweigen in ihrem Klassenzimmer zu brechen. Vor ihren Kindern trug sie eine vor, die sie sich ausgedacht hatte:

       Dame un besito, mi vida,

       como siempre me lo dabas,

       con un tricito de lengua

       con nariz, mocos y babas.

      (Küss mich, mein Liebling,

      wie wir uns früher küssten,

      mit ein bisschen Zunge,

      etwas Nase, Schnodder und Spucke.)

      Meisterhaft darauf ausgerichtet, bei ihren Schülern Überraschung und Ekel zu provozieren, erregte der Vortrag deren gespannte Aufmerksamkeit. Kannte einer von ihnen, wollte sie wissen, selbst irgendwelche coplas?

      Ein Junge hob die Hand:

       Y allá arriba, en aquel alto

       y allá abajo en aquel otro,

       se ríen la gallinas de ver

       el gallo en peloto.

      (Auf diesem Gipfel da oben

      und auf dem anderen da unten

      lachen sich die Hennen eins,

      den Hahn splitternackt zu sehen.)

      »Die anderen Kinder lachten. Dann ging eine weitere Hand hoch und noch eine. Bald hatten alle die Hände gehoben.«

      Ihren Enthusiasmus entfacht, prahlten sie: »Mein Vater kennt tausend coplas«, »Meine Mutter kennt zweitausend«, und das Eis war gebrochen.

      Als Format für bisweilen derben Humor dienen coplas außerdem als eine Art Bibliothek des Bauerntums in Boyacá. Traditionelle Formen des Wissens wie beispielsweise die Verwendung von Heilpflanzen werden nicht in Büchern bewahrt, sondern in coplas. Sie bildeten einen Teil von Nairos Erziehung und verschaffen uns eine gewisse Vorstellung von seinem Innenleben.

      »Ich mochte Gedichte und coplas, seit ich sehr klein war. Ich dachte mir kleine gereimte Sprüche aus. Manchmal mache ich das heute noch«, erzählte er mir.

      Doch als ich ihn und seinen Bruder Alfredo bat, einige für mich vorzutragen, lehnten sie ab. Erst später wurde mir klar, dass ich sie gebeten hatte, die Welt ihrer Kindheit, die ihnen ihre Identitäten vermittelt hatte, als eine Art Performance aufzuführen.

      Aus den gesammelten medizinischen coplas ihrer Schüler erfuhr Elba Rosa Camargo, dass ein großer Teil der Vegetation rund um Sote Panelas für traditionelle Behandlungen genutzt wird. »Den Arzt suchen sie nur auf, wenn es nicht gelungen ist, die Krankheit mit ihrer eigenen Medizin zu heilen.«

      Aber Luís Quintana, Nairos Vater, litt seit seiner Kindheit unter eingeschränkter Mobilität und war deshalb gezwungen, regelmäßig das Krankenhaus aufzusuchen.

      Nairo erklärte: »Als er sieben war, wurde mein Vater von einem Auto angefahren und brach sich die Beine und die Hüfte. Sein Vater war bei der Armee, also brachte man ihn in ein Militär-Krankenhaus. Die Operation verlief nicht gut und er trug zu lange einen Gips. Da er noch im Wachstum war, verkümmerte ein Fuß. Dann hatte er beim Spielen in der Schule einen weiteren Unfall und trug erneut Brüche davon. Seitdem geht er auf Krücken und lebt mit Schmerzen.«

      »Sie wollten sein schlimmes Bein amputieren«, erinnerte sich Nairos Bruder Alfredo. »Meine Mutter und mein Onkel begleiteten ihn ins Krankenhaus und der Arzt erläuterte seine Beweggründe, aber die Familie wollte es nicht zulassen.«

      Nach der Grundschule in Vereda San Rafael gingen Alfredo und Esperanza auf das Colegio Normal in Tunja. Als aber Leidy als drittes der


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