Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach
saß ein Mann, der offensichtlich die Befehlsgewalt innehatte. Genervt und grimmig blickte er drein und erhob sich, um zu sehen, weshalb man ihn unterbrochen hatte.
Der Krieger war groß gewachsen und von kräftiger Statur. Seine Gewandung bestand aus gutem Leder, das offensichtlich aufwendig gepflegt wurde. Der Hals wurde durch eine Brünne aus feinen Eisenringen bester Qualität geschützt. Futteral und Heft des Langschwertes zu seiner Linken waren kunstvoll gearbeitet und reich verziert. Dieser Mann war eindeutig von adeligem Stande und Brandolf wusste sofort, wer es war, obwohl er ihn noch niemals zuvor gesehen hatte. Es war Rurik, der jüngere Bruder des verstorbenen Grafen.
Brandolf war zwar bekannt, dass Rurik mitsamt seinem Gefolge heute auf der Burg erwartet wurde, doch dass er noch vor dem Morgengrauen und damit rechtzeitig zur Rettung der Burg eingetroffen war, überraschte ihn sehr. Es war ungewöhnlich, einen solchen Tross durch die Nacht reiten zu lassen, statt ein sicheres Lager aufzuschlagen.
Brandolf und Rurik starrten einander schweigend an. Keiner der Anwesenden regte sich. Nicht einmal ein Husten oder Räuspern war zu vernehmen. Die stummen Blicke der beiden Männer kamen einem Kräftemessen gleich, ausgetragen ohne Waffen. Allein die Willenskraft war hierbei entscheidend. Es war ein ungleiches Ringen, das Brandolf, von den Kämpfen der vergangenen Nacht erschöpft, jedes einzelne Gran mentaler Stärke abverlangte. Doch er hielt stand.
Rurik, beinahe einen Kopf größer als sein Gegenüber, blickte abschätzig auf den durchnässten und verdreckten Krieger herab. Im Gegensatz zu Brandolf machte er nicht den Eindruck, als habe er in dieser Nacht auch nur einmal sein Schwert gezogen. Kein einziger Spritzer Blut haftete an ihm und seine Stiefel waren kaum schlammverkrustet.
Die Stille des Raumes wurde immer schwerer und lastete bleiern auf Brandolf, wie auch die Last in seinen Armen mit einem Mal unerträglich wurde. Als ihm die Machtprobe die letzten Kräfte zu rauben drohte, kniete er schließlich nieder und legte den Leichnam behutsam zu Füßen des großen Mannes ab. Dann richtete er sich wieder auf und blickte Rurik erneut in die kalten Augen.
„Die Gräfin, Eure Schwägerin, ist tot.“ Die Worte hallten im Gebälk des Dachstuhles wider, so still war es in dem Saal.
„Das sehe ich!“, raunte Rurik. Seine Stimme klang kratzig, als käme sie aus einem tiefen, schroffen Brunnen. Weder Haltung noch Mimik ließen eine Gefühlsregung erkennen. Rurik reagierte, als habe man ihm soeben einen erlegten Rehbock zu Füßen gelegt. Vielleicht hätte er diesen noch mit einem Blick gewürdigt, Sigruns Leichnam hingegen ignorierte er gänzlich. Was würde er wohl sagen, wenn er vom Tod seines Bruders erfuhr? Oder wusste er bereits davon und war deshalb so kühl und wortkarg?
Brandolf unterband diesen Gedanken. Ihm lag bereits eine bissige Bemerkung wegen des Grafensitzes auf der Zunge, denn es gefiel ihm nicht, dass Rurik darauf Platz genommen hatte. Er hatte kein Recht, das Kommando zu übernehmen! Wahrscheinlich war er über das Schicksal seines Bruders im Bilde. Brandolfs Gedanken rasten wild durch seinen Schädel und er suchte hastig nach den richtigen Worten, um das bleierne Schweigen zu beenden.
„Sie hatte nicht die geringste Aussicht auf eine Flucht!“ Seine Worte klangen nahezu wie ein Vorwurf. Als sie seine Lippen verließen, begriff er, dass dieser Vorwurf berechtigt und genau dem richtigen Mann gegenüber ausgesprochen worden war. Wieder schossen Brandolf die letzten Worte des Grafen durch den Kopf: ‚Eine List … Verflucht seien er und dieses Weib …
Ruriks Antwort konnte kaum verächtlicher klingen. „Auch das sehe ich, Mann! Denkst du etwa, ich sei mit Blindheit geschlagen? Ich habe bessere Augen im Kopf als manch anderer hier. Befände ich mich sonst dort, wo ich im Augenblick stehe?“
Brandolf war wachsam. Sein Gegenüber war auf eine Konfrontation aus. Diplomatie und Behutsamkeit waren jetzt gefragt.
„Nein, natürlich nicht“, antwortete er scheinbar beschämt.
„Wer bist du überhaupt, dass du mir derart unter die Augen trittst? Wie lautet dein Name?“
Rurik trat einen Schritt näher und betrachtete Brandolf genauer.
„Ich bin Brandolf, Sohn des Edelherrn Gerold und Vasall des Grafen“, antwortete der Befragte ruhig, obwohl in ihm die Wut brodelte. Am liebsten hätte Brandolf Rurik die Antwort ins Gesicht gespuckt, ganz gleich welche Konsequenzen es haben würde. Doch er hielt sich im Zaum und bewahrte Haltung.
Mit erhobenen Augenbrauen nahm Rurik die Antwort zur Kenntnis. „So, ein Vasall des Grafen … Ist dein Vater das tatsächlich?“
Die Frage klang skeptisch, beinahe hohnvoll, als galt es, diese Behauptung unter Beweis zu stellen. Wollte er am Ende Brandolfs Lehenstreue ins Lächerliche ziehen? Rurik drehte sich einem seiner Männer zu und wechselte ein paar leise Worte, danach schenkte er ihm wieder seine Aufmerksamkeit. „Brandolf, Sohn des Gerold, was wisst … Ihr zu berichten?“
Jede einzelne Faser des jungen Kriegers spannte sich an, als bereite er sich, einer Katze gleich, auf einen fluchtartigen Sprung vor. Ein Instinkt gebot ihm, jetzt mehr denn je Vorsicht walten zu lassen. Er wählte seine Worte behutsam und berichtete von dem Augenblick an, als er durch den Überfall geweckt worden war. Er führte seine Zuhörer durch die Nacht des Kampfes und des Todes bis zu jenem Moment, da sich ihm kein Gegner mehr in den Weg gestellt hatte.
Doch Brandolf berichtete nicht alles. Einige Details ließ er bewusst aus. Weder erwähnte er Rogars Flucht, noch dass die Gräfin vor dem Stalltor ermordet worden war. Diese Information hätte vielleicht Hinweise auf Rogars Verbleib gegeben und Brandolf wollte Rurik dies auf keinen Fall anvertrauen. Ebenso behielt er die letzten Worte seines Herrn und den geleisteten Eid für sich. Wieder war es ein merkwürdiger Instinkt, der ihn zum Schweigen veranlasste, obwohl hier doch der Bruder seines verstorbenen Herrn, der momentane Befehlshaber der Burg, vor ihm stand.
Während des gesamten Rapports behielt Rurik sein Gegenüber stets im Blick. Es schien, als versuche er, Brandolfs Augen zu durchdringen, um das dahinter Verborgene zu ergründen. Er wartete förmlich darauf, einen Widerspruch zu entdecken und Brandolf zur Rede stellen zu können.
Doch der junge Krieger kannte dieses Spiel. Obwohl er einige Begebenheiten der Nacht ausließ, blieb er dennoch bei der Wahrheit und verstrickte sich nicht in Ungereimtheiten. Dies war die einfachste Art, in diesem Spiel zu bestehen und dem Blick dieses Mannes standhalten zu können. Die ganze Zeit über sah er Sigruns Leichnam aus den Augenwinkeln. Ihr Anblick, mit all seiner im Tode vereinten Ungerechtigkeit, gab ihm zusätzliche Stärke, um in diesem Kräftemessen zu bestehen. Nachdem er seinen Bericht abgeschlossen hatte, stand Brandolf aufrechter vor Rurik als zu Beginn. Der vorläufige Burgherr ließ ihm keine Zeit und stellte sofort seine nächste Frage:
„Wo ist der Sohn?“
„Wessen Sohn?“
Zornesröte stieg in Ruriks Gesicht, als er die Gegenfrage vernahm. Seine Stimme klang laut und polternd in der Halle. „Wessen Sohn? Des Hufschmieds Balg! Wollt Ihr mich zum Narren halten? Natürlich der Sohn meines Bruders! Den Erben der Grafschaft, Rogar!“
Der plötzliche Wutausbruch überraschte die anwesenden Burgbewohner derart, dass die vorderste Reihe nahezu einheitlich erschrocken einen Schritt nach hinten trat. Ruriks Frage und seine Wut ließen Hoffnung in Brandolf aufkeimen: Sollte Rogar es in dem Chaos der Nacht tatsächlich gelungen sein, sich Ruriks vielen Händen zu entziehen und unerkannt zu fliehen? Niemand schien zu ahnen, dass Rogar längst nicht mehr in der Burg war. Alle wähnten ihn noch in der Feste, irgendwo versteckt oder gar von den Barbaren erschlagen.
„Es tut mir leid, darüber kann ich Euch keine Auskunft geben.“
„Könnt Ihr oder wollt Ihr es nicht?“
„Ich kann es nicht, denn weder weiß ich etwas über den Verbleib des Jungen, noch kenne ich sein Schicksal nach dieser blutigen Nacht.“
„Ich frage mich, ob Ihr es mir anvertrauen würdet, wenn Ihr Kenntnis über seinen Verbleib hättet?“
Brandolf setzte zu einer Antwort an, doch Rurik gebot ihm Einhalt und fuhr selbst fort. „Spart Euch die Worte. Mir ist durchaus bewusst, dass Ihr nicht so dumm seid, mir eine falsche Antwort zu geben.“