Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach
betrachtete das Treiben neugierig. Je näher sie dem Tor kamen, umso dichter wurde auch der Menschenstrom, der es passieren wollte. Einige Händler und Bauern boten bereits vor dem Tor ihre Waren feil, um so dem Wegezoll zu entgehen, obwohl dies vom Grafen untersagt war. Das Verbot gegen den Handel schreckte sie allerdings nicht ab, selbst wenn sie vor dem Wall den Schutz des allgemein geltenden Marktfriedens nicht genießen konnten. Güter wechselten hier ebenso den Besitzer, meist in einem der düsteren Verschläge, fernab von den wachsamen Augen der Soldaten des Landesfürsten. Vor dem Tor beobachtete Faolán ein Gedränge vieler mürrischer Menschen. Einige von ihnen gaben ihren Unmut lauthals preis und stritten mit einem jeden, der sich in ihre Angelegenheiten mischte.
Die Gerüche der Feuer mischten sich mit Düften von Garküchen, sowie dem Gestank tierischer und menschlicher Ausdünstungen und Ausscheidungen. Es war eine Übelkeit erregende Mischung und Faolán bedeckte seine Nase mit seinem Ärmel, um sich vor dem ekelhaften Gestank zu schützen.
Bauern und Leibeigene waren ebenso zwischen den Verschlägen zu sehen, wie Frauen mit bunten Tüchern und merkwürdig grell bemalten Gesichtern, aber auch Handwerker, Gesinde und Krieger. Kinder wie Erwachsene schlugen ihr Wasser neben den Feuerstellen oder Hütten ab, wo andere gerade ihre Mahlzeiten aßen. Hunde paarten sich, während eine Frau ein wild um sich schlagendes, geköpftes Huhn zu bändigen versuchte. Ein Rind ließ seinen Kot fallen und einige Knaben feixten darüber. Sie ärgerten ein vorbeigehendes Mädchen, indem sie die noch warme, dampfende Masse mit einem Ast in ihre Richtung schleuderten. Faolán sog all diese Eindrücke in sich auf.
Unmittelbar vor dem Tor wurde der Klosterwagen von einem der Bewaffneten gestoppt, die zu beiden Seiten des Durchgangs den Strom der Marktbesucher überwachten. „Das sind die Recken des Grafen“, erklärte Bruder Ivo etwas gereizt, und Faolán beobachtete, wie der Kellermeister kurz in seine Geldkatze blickte, eine Münze hervorholte und sie missbilligend betrachtete. „Oder sollte ich sie besser die Halsabschneider des Grafen nennen?“
Der Benediktiner verstummte, denn direkt neben ihm stand jetzt einer von Ruriks Kriegern. Schwer bewaffnet sah er furchterregend aus, und Faolán konnte sich gut vorstellen, dass diese Männer den Markt zu schützen wussten. Der Kellermeister murmelte dem Mann etwas zu und ließ seine Münze in die nach oben gestreckte Hand des Recken fallen. Daraufhin gab der Krieger ein Zeichen und der Wagen durfte seinen Weg in das Innere der Stadt fortsetzen.
Nachdem sie sich außer Hörweite der Wachen befanden, erklärte der Mönch seinem Gehilfen weiter: „Seit der Erteilung der Marktrechte ist der Wegezoll auf ein Mehrfaches der ursprünglichen Summe angewachsen. Für viele der armen Bauern ist er zu hoch, um ihre Ware auf dem Markt sicher anbieten zu können. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Güter vor dem Tor zu verkaufen. Dass sie dabei meist betrogen werden, ist ein Nachteil, den sie in Kauf nehmen müssen. Beutelschneider und Betrüger tummeln sich dort zuhauf. Die anderen aber, die sich den Wegezoll noch leisten können, versuchen die überhöhte Abgabe durch höhere Preise auszugleichen. Du wirst dich sicherlich fragen, ob die Erhöhung des Wegezolls eine sinnvolle Idee des Grafen war. Offensichtlich, denn es füllt seine Börse!“
Der Cellerar legte eine nachdenkliche Pause ein, fuhr dann aber leise fort: „Dieser Rurik begründet die Abgabenhöhe mit der Sicherheit durch die Markthüter und den Kosten für den Bau dieses gigantischen Steinwalls, der in Zukunft einen noch viel besseren Schutz für die gesamte Stadt bieten wird. Er behauptet zwar, dass der Großteil dieser Kosten aus seinen Truhen bezahlt würde. Doch Rurik ist gerissen genug, um sich das Geld wieder vom Volk durch überhöhte Abgaben zurück zu holen.“
Beeindruckt von diesen weltlichen Belangen betrachtete Faolán das Treiben in den Straßen der Siedlung. Hatte er zuvor geglaubt, die Ausmaße Neustatts bereits begriffen zu haben, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Vor ihm erstreckte sich ein wirres Netz aus Straßen und Gassen. Dicht an dicht reihten sich unzählige kleine Häuser zu beiden Seiten. Die größeren Straßen waren zwar meist breit genug, um zwei Karren gleichzeitig Platz zu bieten, doch waren heute so viele Menschen unterwegs, dass sie sich gegenseitig nur noch in gemächlichem Tempo voranschoben.
Der Klosterwagen befand sich inmitten dieser trägen Masse und kam gerade so schnell voran, wie es der Pulk gestattete. Die Straßen selbst bestanden aus bloßer, gestampfter Erde. Es gab die eine oder andere schlammige Stelle, hervorgerufen durch die Ausscheidungen von Menschen und Tieren. Ein abscheulicher Gestank füllte die ganze Stadt und sammelte sich unerträglich in ihrer Mitte, am Marktplatz.
Je näher sie diesem kamen, umso dichter drängten sich die Gebäude aneinander. Jeder Flecken Erde schien in Beschlag genommen zu sein und es gab Bauten, die sogar ein zweites Stockwerk besaßen. Es gab keinen Hinweis mehr auf die einstigen Dorfwiesen innerhalb der Palisaden, die man früher als gemeinsamen Weidegrund genutzt hatte. Nur noch vereinzelt fand man kleinere Plätze mit einem Baum. Faolán wunderte es deshalb nicht mehr, dass die neue Wehranlage mit einem großen Abstand zum alten Palisadenwall errichtet wurde.
Neustatt schien wie ein übervoller Sack, kurz vor dem Bersten.
Den Kellermeister schien all dies nicht zu beeindrucken. Er lenkte den Wagen mit stoischer Ruhe durch die Menge. Auf dem Marktplatz waren Lärm und Gestank am penetrantesten. Teilweise wurde der Unrat auf dem Boden durch verteiltes Stroh gebunden, doch oft gab es nichts, was dem üblen Geruch Einhalt gebot. Die meisten hatten sich wohl an diese Umstände gewöhnt und schienen den Gestank nicht einmal zu bemerken. Unweigerlich wurde Faolán an das Aborthaus des Klosters erinnert.
Wortlos und ruhig stieg Bruder Ivo vom Wagen und führte das Pferd den Rest des Weges am Rande des Marktplatzes entlang, bis sie an eine noch im Bau befindliche Kirche gelangten. Wie schon bei der Wehranlage bewunderte Faolán die Gerüste, die an den hohen Mauern des künftigen Gotteshauses in schwindelerregende Höhen gen Himmel strebten.
In unmittelbarer Nähe gab es noch einen verfügbaren Platz vor einem der wenigen Bäume der Stadt, einer großen, alten Linde. Diese Stelle war genau passend für den Klosterwagen. Während der Mönch das Pferd abschirrte und versorgte, begann Faolán an dem Karren ein Vordach aus Tuch und Stangen aufzubauen. Schnell war das Linnen gespannt und warf einen kühlenden Schatten an diesem heißen Tag. Danach entluden Mönch und Novize den Wagen. Körbe und Kisten wurden aufgereiht und Säcke geöffnet, um jedem Marktgänger einen Blick auf das Angebot zu ermöglichen.
Der Verkauf begann schleppend. Zwar erkundigten sich immer wieder Interessenten nach Preisen und Qualität, doch zu einem Handschlag kam es nur selten. Früh tauchten die Jünglinge auf, die in Gruppen über den Markt streiften und danach trachteten, ein Stück Obst oder etwas Brot zu stehlen. Ivo hatte Faolán darauf vorbereitet und so behielt er sie stets im Auge.
Mit der Zeit wickelte Bruder Ivo immer mehr Verkäufe ab, wobei auf beiden Seiten kräftig gefeilscht wurde. Wenn es weniger geschäftig war, erklärte der Mönch Faolán die besonderen Einzelheiten eines jeden Handels.
Am wichtigsten war es, höchste Konzentration bei der Bezahlung walten zu lassen, ganz gleich ob es sich dabei um Naturalien oder, in seltenen Fällen, auch um Münzen handelte. Bei der Bezahlung nutzte nämlich so mancher Schurke das Geschick seiner Finger, um den Handelspartner zu betrügen.
Um die Mittagszeit ließ die Geschäftigkeit auf dem Markt etwas nach. Bruder Ivo fand es nun an der Zeit, seinen Schützling für eine Weile in das Treiben zu schicken, während er beim Wagen bleiben wollte. Aufgeregt nahm Faolán das Angebot an.
Zunächst bahnte er sich noch etwas zögerlich seinen Weg zwischen Buden, Wagen und Menschen hindurch. Oft blieb er interessiert an Ständen oder Karren stehen, bestaunte die Waren, sog Gerüche von Kräutern und Gewürzen ein, die gelegentlich den penetranten Gestank überflügelten. Ein Schmied erregte viel Aufsehen, als er sich am fauligen Zahn einer Alten zu schaffen machte. Faolán wohnte dem blutigen Spektakel bei, bis Applaus beim Vorzeigen des erfolgreich gezogenen Übeltäters erklang. Danach schlenderte er neugierig weiter über den Markt und beobachtete die Menschen. Manch ein Händler versuchte, selbst das etwas faulige Obst einem unachtsamen Käufer unterzujubeln. Wurde es vom Kunden bemerkt, stellten es die Kaufleute als ein Versehen hin und beschwichtigten den Betrogenen schnell mit einer kostenlosen Dreingabe. Denn eines wollte keiner der Händler riskieren: Die Aufmerksamkeit der Markthüter