Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach
Kunst ist, dabei nicht in die Abgründe der Ungerechtigkeit zu stürzen.“
„Und wer unter den Menschen beherrscht diese Kunst, die so schwer auszuüben ist?“
„In der Tat gibt es nur wenige Männer unter Gottes weitem Himmel, die solches Recht sprechen können. Von unserem Standpunkt aus betrachtet, kann man allerdings behaupten, dass der Heilige Vater in Rom, mit all der Unterstützung unseres Herrn, sicherlich den richtigen Weg beschreitet und wahres Recht spricht, sofern es notwendig ist. Bei den weltlichen Herren sieht es wiederum etwas anders aus. Die Zahl der Adligen ist zwar groß, doch ihre Reihen lichten sich, wenn man nach einem gerechten Mann sucht. Vor vielen Generationen allerdings gab es einen Kaiser, von dem man noch heute behauptet, er habe die Weisheit besessen, gerecht zu urteilen: Sein Name lautete Karl. Doch selbst er war nicht frei von Fehl und Irrtum. Karl hat aber Recht gesetzt und für seine Einhaltung im Reich gesorgt. Einst gehörten auch unsere Lande zu seinem Reich, doch das existiert nicht mehr.“
„Wenn dieser Mann so mächtig war, weshalb gibt es sein Reich nicht mehr?“
„Nachdem sich Karls Enkel nicht auf einen Herrscher einigen konnten, teilten sie das einst so große Reich der Franken nach altem Brauch in drei kleinere Königreiche. Unsere Gegend gehörte zum ostfränkischen Reich. Ein weiteres war das Reich der westlichen Franken und das dritte war das Reich Lothars.“
„Eiferte denn niemand dem Vorbild dieses Kaisers nach?“
„Natürlich, und es gab auch viele kleine Adlige, die das überlieferte Recht beizubehalten versuchten. Selbst heute gibt es sie noch. Die Mehrzahl der weltlichen Herren sehnt sich allerdings mehr nach persönlicher Macht als nach Gerechtigkeit. Sie erkennen schnell, dass man einfacher an diese Macht gelangen und sie behalten kann, wenn man nicht immer nach dem Recht handelt, sondern nach Vorteilen. Den eigenen Vorteilen und denen mächtigerer Männer, in deren Gunst sie stehen wollen.“
„Das bedeutet also, dass niemand die Missetaten der Markthüter in Neustatt ahnden wird!“
„So wird es sein“, stimmte der Abt dem Jungen zu. „In diesem Fall, wie auch in vielen anderen, herrscht das Recht des Stärkeren. Gerechtigkeit ist in unserer Grafschaft nicht immer gefragt und wird von vielen auch gar nicht gewollt.“
„Bedarf es dann nicht eines Grafen, der entschieden gegen diese mangelnde Gerechtigkeit vorgeht? Weshalb hat der Kaiser den ungerechten Rurik zum Grafen ernannt?“
„Selbst Kaiser Otto unterliegt gewissen Zwängen. Er benötigt tatkräftige Vasallen wie Rurik, um seine Feldzüge erfolgreich führen zu können. Deshalb hat er ihn zum Grafen ernannt.“
Faolán hatte verstanden und folgerte schließlich: „Der Nachfolger dieses Vasallen wird eines Tages Drogo sein! Der wird der waltenden Ungerechtigkeit mit Sicherheit keinen Riegel vorschieben. Im Gegenteil: Wahrscheinlich wird er sich inmitten der Schurken am wohlsten fühlen.“ Faolán war entsetzt. Er überlegte und raufte sich dabei das dunkle Haar. Schließlich sah er nur einen Lichtblick: „Hoffentlich lebt der rechtmäßige Erbe der Grafschaft und gibt sich eines Tages doch noch zu erkennen.“
Die Äußerung ließ Degenar aufhorchen. Schnell versuchte er Faolán abzulenken: „Diese Hoffnung teilen noch andere. Doch im Augenblick liegen die Dinge nun einmal anders. Zudem sind es weltliche Belange, die uns nicht unmittelbar betreffen. Innerhalb unseres Klosters herrscht ein gerechter Herr. Ihm sollen wir uns widmen, keinem anderen. Menschen hingegen sind niemals frei von Fehlern.“
Plötzlich stand Faolán auf und blickte trotzig drein. Er sammelte all seinen Mut und sprach schließlich aus, was ihm auf dem Herzen lag: „Wenn kein Mensch frei von Fehlern ist, schließt das auch den Heiligen Vater in Rom ein! Was ist dann mit seiner Rechtsprechung? Und was ist mit Jesus? Auch er war ein Mensch, wenn man es genau betrachtet. Was ist mit ihm?“
Nachdem Faolán dies ausgesprochen hatte, hob Abt Degenar mahnend den Zeigefinger. „Vorsicht, Faolán! Bei aller Liebe zur Kritik und einem wachen Verstand, du gehst zu weit. Jesus war sicherlich ein Mensch aus Fleisch und Blut, doch ein ganz außergewöhnlicher. Er ist der Sohn Gottes, unser Herr, der Menschengestalt angenommen hat, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Hüte dich in Zukunft vor solchen Rückschlüssen, sie führen dich auf den Pfad der ewigen Verdammnis.“
Faolán kam wieder zur Besinnung. „Vergebt mir, ehrwürdiger Abt. Ich habe in Rage gesprochen. Das war falsch.“
Degenar ging auf die Entschuldigung nicht weiter ein. „Bei den Gedanken über Recht und Unrecht darfst du eines nicht vergessen: Obwohl uns Menschen ständig Fehler unterlaufen und widerfahren, unterstehen wir einem gerechten und auch barmherzigen Gott. Es ist nicht immer richtig, auf irdisches Recht und eine Bestrafung zu bestehen. Vielmehr sollten wir uns in Barmherzigkeit üben und Gnade walten lassen. Vergeben ist eine göttliche Tugend und nur wer nach ihr zu leben vermag, ist wahrlich gesegnet.“
Nachdenklich starrte Faolán vor sich hin. Der Abt war der Ansicht, dieses Thema genügend diskutiert zu haben: „Ich denke, du hast noch genug für den morgigen Tag vorzubereiten. Eile nun und denke über unser Gespräch nach. Beobachte morgen alles, doch urteile nicht zu schnell.“
Dann beugte sich der Abt vor und tat etwas, was er noch niemals zuvor in seinem Leben bei einem Novizen getan hatte: Er küsste Faolán sachte auf die Stirn. Er wusste nicht, weshalb er es tat, sondern gab nur einem überwältigenden Gefühl nach. Ein gewisser Stolz lag darin. Stolz, dass sich unter seinem Einfluss ein kleiner Knabe, den er vor vielen Jahren schützend in das Kloster aufgenommen hatte, zu einem aufgeweckten Jüngling mit wachem Verstand entwickelt hatte. Wäre für Degenar je ein weltliches Leben mit einer Familie in Frage gekommen, so hätte er sich in diesem Augenblick keinen besseren Sohn vorstellen können als Faolán. Mit diesen verwirrenden Gedanken entließ Degenar den Novizen schließlich.
* * *
Am nächsten Morgen verließen der Kellermeister und sein Gehilfe sehr früh mit dem Segen des Abtes das Kloster. Dass Degenar dabei den Cellerar besonders ermahnte, auf sich und sein Mundwerk zu achten, stieß bei Faolán auf etwas Unverständnis. Schließlich war er es doch, der am Tag zuvor zu viele Dinge ausgesprochen hatte, die er besser für sich behalten hätte.
Die Fahrt zum Markt verlief ohne Zwischenfälle. Dicht vor Neustatt wurde es auf der Straße wieder lebhafter. Der Klosterwagen passierte auch diesmal die Lücke des zukünftigen Tores und die mehr oder weniger stabilen Verschläge, Zelte und Hütten entlang des Weges. Die Menschen gingen ihren Geschäften nach und Faolán beobachtete sie erneut mit Interesse. Ungehindert fuhren sie bis zum alten Palisadenwall, wo sie den Wegezoll entrichteten.
Wiederholt stellte Faolán fest, dass sich das Treiben in der Stadt gänzlich vom Leben im Kloster unterschied. Es waren nicht nur die vielen dicht gedrängten Menschen, sondern auch der über allem hängende Gestank. Er hinderte ihn buchstäblich am Atmen. Auf dem Marktplatz suchten sie wieder den Platz direkt vor der Kirche auf. Flink half der Novize dem Kellermeister dann beim Aufbau des Standes, und bald darauf begann das Handeln. Der Tag wurde zunehmend wärmer und viele Marktgänger suchten den willkommenen Schatten des Klosterstandes auf, erstanden saftiges Obst oder gewässerten Wein zur Erfrischung oder Stärkung. Es war ein reges Kommen und Gehen und Faolán beobachtete nicht nur das Handeln des Cellerars, sondern bediente heute bei größerem Andrang seine ersten Kunden. Einige Interessenten witterten ihre Gelegenheit und glaubten, einen jungen, unerfahrenen Novizen übervorteilen zu können. Doch Faolán erwies sich beim Feilschen hartnäckiger als sie geglaubt hatten. Keine der Waren verließ den Stand ohne nicht mindestens den zuvor mit Bruder Ivo abgesprochenen Preis zu erzielen.
Es war früher Nachmittag, als der Andrang nachließ und der Cellerar seinen Gehilfen auf den Markt schickte. Faolán machte sich sofort auf. Seltsamerweise hatte er heute nur wenig Interesse an den anderen Händlern. Einzig eine kleine Truppe von Gauklern und Musikanten zogen ihn für einige Augenblicke in ihren Bann. Lustige Musik mit Flöten und Trommeln erklang, wie Faolán sie noch nie zuvor vernommen hatte. Ein Narr mit seiner tollpatschigen Jonglage brachte ihn sogar zum Lachen.
Sein Blick löste sich jedoch schon bald wieder von ihm und Faolán suchte weiter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich auf der Suche