Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach
Raum. In diesem Moment zeigte sich Farolds exzellente Beobachtungsgabe und sein Feingefühl in schwierigen Situationen, die ihn als Grafen auszeichneten. Und genau diese Eigenschaften waren es auch, die Sigrun als Erstes an ihm kennen und lieben lernte. Mit einer humorigen Bemerkung auf seine Kosten und einem kurzen, herzhaften Lachen kam der Graf auf sie zu und die Spannung im Raum löste sich auf. Dieser herzhafte, von Grund auf ehrliche Humor war das nächste, was Sigrun an Farold lieben lernte. Die eigentliche Liebe kam allerdings erst sehr viel später, lange nachdem sie verheiratet waren.
Zum Zeitpunkt der Trauung war Sigrun noch so unbedarft, dass sie nicht wusste, welches Leben sie an der Seite dieses Mannes erwartete. Geistig abwesend hatte sie ihm in der kleinen Kapelle der Greifburg das Eheversprechen gegeben. Auch ihre jüngeren Schwestern konnten ihr damals keinen Trost spenden, denn wovor sich die junge Braut am meisten fürchtete, war die bevorstehende Nacht mit ihrem Gemahl.
Sigrun war unter den fürsorglichen Augen ihrer Mutter aufgewachsen und unschuldig geblieben, hatte ihre so kostbar gehandelte Jungfräulichkeit für diesen Tag aufbewahrt. Aus Erzählungen und Kommentaren der Bediensteten konnte sich Sigrun immerhin eine vage Vorstellung von dem machen, was sie in dieser ersten Nacht der Ehe erwarten würde. Diese Ahnung ließ sie vor Furcht erstarren.
Das Betten der Frau in der Hochzeitsnacht kam einem Pflichtakt gleich. Der Beweis für den Vollzug der Ehe war das blutige Leintuch des Nachtlagers, das am nächsten Morgen von den Mägden entfernt wurde. Über all das wurde zwar niemals offen gesprochen, doch vom Wechseln der Linnen bis hin zum weit verbreiteten Gerücht würde es nicht einmal bis zum Abend dauern, und alle Anwesenden auf der Burg würden Kenntnis davon besitzen, ob das Tuch befleckt war oder nicht.
Aus Furcht vor dieser Nacht zog Sigrun es in Erwägung, sich ihrem Gemahl zu entziehen. Wenn er sie nicht mit Gewalt gefügig machen würde, könnte sie diese Erfahrung noch einige Zeit von sich fernhalten.
Ein unbeflecktes Bettleinen konnte allerdings zwei mögliche Gerüchte am nächsten Morgen zur Folge haben. Eines davon würde der Wahrheit entsprechen und lauten, dass in der Nacht nichts geschehen war. Es würde den frisch vermählten Grafen allerdings schwach erscheinen lassen, unfähig, sein Recht im Bett einzufordern. Ein fatales Gerücht für Farolds Machtstellung, denn diese Geschichte würde sich auch jenseits der Burgmauern wie ein Lauffeuer ausbreiten. Nicht nur Bauern würden diesen Worten lauschen, sondern auch Vasallen, Gleichgestellte und Mächtigere von höherem Stande.
Das andere mögliche Gerücht hätte Sigruns Unberührtheit in Frage gestellt, sollte sich ihr Gatte trotz fehlenden Blutes auf dem Linnen damit brüsten, seine Gemahlin ganz nach seinem Willen genommen zu haben. In diesem Zwiespalt gefangen verstrich der Tag der Vermählung viel zu schnell. Sigruns Gedanken weilten immer wieder bei der bevorstehenden Nacht und sie war wohl die einzige auf dem Fest, die keine Freude verspürte.
Als schließlich der gefürchtete Augenblick gekommen war, wurde das Paar von zwei Mägden zum Gemach begleitet und dann sich selbst überlassen.
In der Kammer war alles vorbereitet worden, um die Nacht so angenehm wie möglich zu gestalten. Blüten lagen verstreut auf Bett und Boden, ein Krug mit Wasser und eine Schale mit Früchten sorgten für Erfrischung. Eine Vielzahl von flackernden Kerzen versuchte den kalten Mauern ein bisschen Romantik abzutrotzen.
Vermählt und sich doch völlig fremd standen sich beide Eheleute mit respektvollem Abstand wortlos gegenüber. Keiner von ihnen rührte sich. Sigrun hatte sich im Verlauf des Abends vorgenommen, ihrem Gatten keinen Widerstand entgegenzubringen, doch den ersten Schritt wollte sie auch nicht machen.
Nach einer kleinen Ewigkeit des Schweigens zeigte sich langsam ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen des Grafen. Als habe er Sigruns Gedanken erraten, nickte er nur ein einziges Mal. Und dann ging alles ganz schnell.
Mit zwei großen Schritten stand Farold urplötzlich dicht bei ihr. Kräftig ergriff er Sigruns Handgelenke und zog sie zum Bett. Ihr Puls raste und das Blut rauschte in den Ohren. Sie hatte geglaubt, auf alles gefasst zu sein, doch was dann geschah, hatte sie sich selbst in ihren wildesten Vorstellungen nicht ausgemalt.
Farold wies seine junge Gemahlin mit ruhiger Stimme an, sich auf die Mitte des Bettes zu knien, während er seinen Dolch aus dem Futteral zog. Sigruns Augen weiteten sich in grenzenloser Furcht und sie vergaß für einen Moment seiner Aufforderung Folge zu leisten. Mit entblößter Klinge wartete der Graf geduldig, bis sie die Bettmitte eingenommen hatte. Sigrun konnte die flinke, mit sicherer Hand geführte Schneide kaum sehen, als der Graf ihr Kleid an einigen Stellen auftrennte und es ihr vom Leib riss.
Mit Entsetzen haftete Sigruns Blick auf den Fetzen des eigens für die Trauung angefertigten Gewandes, so dass sie den Dolch nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ein scharfer Schmerz und ihr kurzer Aufschrei erschreckten sie so sehr, dass sie den Atem anhielt. Angsterfüllt sah sie Blut aus einem feinen Schnitt am ihrem linken Oberarm laufen. Ohne ein einziges Wort zu verlieren stand der Graf vom Lager auf und holte den Krug. Er goss ein Rinnsal Wasser über die Wunde, das seinen Weg auf das Leintuch über den Ellenbogen fand. Die Tropfen zerplatzten dort in hellem, zartem Rosa und wurden von den Fasern des Linnens gierig aufgesogen. Sigrun glaubte, die Zeit bliebe stehen, als sie ihren Lebenssaft im Tuch versickern sah.
Wie aus einem Albtraum brachte ihr Gemahl sie wieder zur Besinnung, indem er die Wunde mit einem Tuch sanft abtupfte. Er presste damit so lange auf den Schnitt, bis kein Blut mehr hervortrat. Für diesen Augenblick waren sie sich so nahe, dass Sigrun den Atem ihres Gatten auf ihrer nackten Haut spürte. Sein Blick durchdrang sie bis ins Mark und ein Schauer durchlief ihren Körper. Mit einem Mal begriff sie, was all das zu bedeuten hatte.
Die Nähe der beiden war nur von kurzer Dauer. Der Graf nahm das Tuch von der Wunde, rieb es anschließend über die blutige Stelle auf dem Leintuch und verteilte so das helle Rot zu einem ungleichmäßigen Fleck. Danach erhob er sich vom Bett und setzte sich in einen hohen Stuhl neben einem der kleinen Fenster, mit dem Rücken zu seiner jungen, hübschen Gemahlin.
Sigrun glitt aus ihrer knienden Haltung und starrte Farold ungläubig an. Was er soeben vollbracht hatte, war eine ebenso liebevolle wie einfache Lösung, um aus einer für beide schwierigen Situation zu gelangen. Die junge Gräfin wusste, dass Farold sie heute Nacht zu nichts zwingen würde. Nicht in dieser Nacht und auch nicht in den nächsten. Erst viel später wurde ihr bewusst, dass er mit dieser Tat den Grundstein für das Fundament gelegt hatte, das später einmal die starke Feste ihrer unerschütterlichen Liebe tragen würde.
Ihre Liebe benötigte Zeit und sie entwickelte sich langsam. Je besser sie sich kennen lernten, umso näher kamen sie sich. Als der Tag schließlich gekommen war, an dem sie ihn ebenso begehrte wie er sie, war es weder Nacht noch befanden sie sich in ihrem Schlafgemach. Es war lichter Tag und ihr Lager war ein Felsen im nahe gelegenen Wald. Sigruns Verlangen war so groß, dass der kurze, reißende Schmerz in ihrem Unterleib sehr schnell einem unbekannten, viel angenehmeren Gefühl wich, als er sie mit seiner Männlichkeit ausfüllte. Es war in jeder Beziehung anders, als sie es sich aufgrund der grausigen Erzählungen vorgestellt hatte. Und nachdem sie einmal von dieser süßen Frucht der Leidenschaft gekostet hatte, hatte Farold alle Hände voll zu tun, sie zu sättigen.
Diese schönen Erinnerungen an vergangene Tage zauberten ein Lächeln auf Sigruns Lippen und sie spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. Dabei gab es nichts, wofür sie sich hätte schämen müssen, schon gar nicht ob der Liebe zu ihrem Gatten. Aus dieser Liebe war so viel entsprungen.
Rogar war nicht ihr erstes Kind gewesen, doch er war das einzige, das ihnen geblieben war. Sigrun hatte vor ihm bereits zwei Geburten bewältigt, doch beide Kinder, ein Mädchen und ein Junge, wurden nur ein, beziehungsweise drei Jahre alt. Sie starben beide an einer unbekannten Krankheit, gegen die man kein Heilmittel kannte. Weder Mönchsärzte noch sonstige Heiler vermochten die Kinder zu retten. Am Ende blieben nur die Worte der Kleriker, welche die Krankheiten als Prüfung Gottes deuteten und vom Jenseits und Sühne sprachen. Worte, die weder halfen, noch Trost spendeten.
Auch Rogar erkrankte in seinem vierten Lebensjahr so schwer, dass alle Heilkundigen erneut ratlos um sein Krankenlager standen und es als weitere Prüfung Gottes deuteten. Sigrun war verzweifelt und befürchtete, auch ihr drittes Kind zu verlieren. Als dann die Pusteln aufbrachen