Smaragdgrau. Severin Perrig

Smaragdgrau - Severin Perrig


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hineinspazieren? In etwas, das es gar nicht gibt? Etwa ins Grau?

      Wenn ich junge Studierende oder alte Bekannte frage, was sie mit Grau assoziieren, so ist eine ihrer häufigsten Antworten: ein Garnichts. Es fällt ihnen dazu einfach nicht mehr ein. Ja, vielfach sind sie nicht einmal ganz sicher, ob es sich überhaupt um eine Farbe handelt. Das Graue liegt eben ganz im Unbestimmten, im geradezu Flüchtigen. Wie eine quasi stets sich selber aufzehrende Bewegung tendiert alles an ihm ins Farblose, Mehrdeutige und Unansehnliche, sodass es den allermeisten als Nicht-Farbe schlechthin erscheint. Das Fahle genießt entsprechend keinen allzu guten Ruf. Nimmersatt und freudlos verschlingt es alles in sein Grau-in-Grau und gibt ihm eine unsaubere Erstarrung. Derart gesättigt spricht sein seelenloser Ausdruck von einer ungeheuren Gleichgültigkeit, jenseits jeglicher Persönlichkeit. Es ist ein jämmerlich undefinierbares Mittelding, das sein mehrdeutiges Gepräge im Vorratsraum der Bilder und Zeichen einer es umgebenden, grellbunten Welt zu finden meint. »Grau ist klanglos und unbeweglich«, schreibt 1911 der Maler und Farbthe oretiker Wassily Kandinsky und bedauert demgemäß das »Trostlose« und »Erstickende« dieser Farbnegation.

      Wenn es aber ein richtiger, eigenständiger Farbton sein soll, dann höchstens einer von zweiter Ordnung. In seiner matten, trüben und rauen Art vermag das Grau allerdings den Farben erster Ordnung zu ihrem Glanz zu verhelfen. Zumal dann, wenn diese in ihrer Reinheit, laut dem romantischen Maler und Farbsystematiker des frühen 19. Jahrhunderts, Philipp Otto Runge, für uns gar nicht wirklich wahrnehmbar seien. Diese bedürften vielmehr einer »Verunreinigung« oder »Verschmutzung« durch Grau, um überhaupt Teil der für den Menschen sichtbaren Welt zu werden. Insofern nivelliert es zunächst alles auf eine allgemeine Gesichts- und Namenlosigkeit. Nur bleibt mit dieser Ungenauigkeit dennoch eine tiefe Sehnsucht nach einer gewichtigen Ur- und Grundfarbe verbunden, welche als Tönung wie die Grundelemente der Erde wirken sollte. Alle natürlich vorhandenen Basisfarben finden sich bekanntlich im Boden durchmischt, mal das Licht glänzend reflektierend und es mal in ihrem abgründigen Dunkel absorbierend, regelrecht verschluckend.

      Das klingt nach einer geradezu alttestamentlichen Idealvorstellung: Am Anfang lag alles im irdischen Grau. Und als Staub der Ackerscholle wurde das erste erkenntnisfähige Menschenpaar noch aus dem lichtbunten Paradies wieder auf die verflucht grausame Erde in die Monotonie zäher Arbeit zurückverwiesen. Oder etwas wissenschaftlicher, biologistischer ausgedrückt: Die heutigen Anthropologen gehen von rund zweihundert wahrnehmbaren Abstufungen auf der Grauskala aus, welche der Mensch in seiner Wahrnehmung unterscheiden kann. Das kommt einer Leistung sehr guter digitaler Grafiksysteme von heute nahe. In einem aus vielen Bestandteilen zusammengesetzten, komplexen Bild kann man gar noch wesentlich mehr Farbklänge unterscheiden. Denn die beiden lichtempfindlichen Zelltypen in der Netzhaut, die sogenannten Stäbchen und Zapfen – Letztere als Rezeptoren mit jeweils unterschiedlichem Farbempfinden –, sind sowohl im hellen Tageslicht wie in der Dämmerung bei ausgeglichener Reizung fähig, Grautöne innerhalb des sichtbaren Teils aller elektromagnetischen Lichtschwingungen zu differenzieren, selbst noch bei Farbfehlsichtigkeit. Bei den Primaten liegt die Grauwahrnehmung übrigens gemäß Tests deutlich unter all dem, was der Homo sapiens zu unterscheiden weiß.

      Allein die Kultur- und Sprachwissenschaften lassen große Zweifel an dieser allzu simpel klingenden These eines ganz und gar grauen Anfangs der Menschheit aufkommen. Die beiden Amerikaner, der Anthropologe Brent Berlin und der Linguist Paul Key, haben in den 1960er-Jahren »elementare Farbbezeichnungen« in neunundachtzig Sprachen untersucht und dabei eine Entwicklung des menschlichen Farbvokabulars von sieben Stadien festgestellt. Und ausgerechnet Grau scheint bei ihnen erst ganz am Schluss der sprachlichen Entwicklung auf, im letzten evolutionistischen Stadium, also im siebten. Dann werden Farben in verschiedenen Sprachgemeinschaften begrifflich ganz unterschiedlich differenziert. So besitzt das Deutsche für Weiß nur ein einziges Adjektiv, während etwa die Inuit auf Grönland und in Kanada sprachlich mehrere unterschiedliche Ausformungen seiner Bedeutung kennen. Die litauische Sprache, die in vielem noch dem Indogermanischen sehr nahe steht, besitzt vier Worte für Grau, um damit die Färbung von Schafwolle, Gänsefedern, die Haut von Pferden und Rindvieh sowie die menschliche Haarfarbe voneinander abzugrenzen. Speziell die europäische Pferdezucht weiß verschiedene Grautypen zu unterscheiden, vom Grauschimmel über die Falbe bis zum alten Graumann. In zahlreichen Sprachen der Antike, im Sanskrit oder im Griechischen, kann allerdings das Wort Grau auch noch für andere Farben stehen, wie etwa für das Blau, das wiederum häufig nur für ganz bestimmte Gegenstände verwendbar war.

      Entsprechend verblüfft es nicht, dass bis ins 14. Jahrhundert immer wieder ungenaue Bezeichnungen für Grau in den mitteleuropäischen Sprachen auftauchen. Grauheit ist dann einfach alles, was nicht farbig ist, aber auch nicht schwarz und weiß. Denn manchmal ist die unbunte Farbe eine Spielart von Schwarz, wie in der Antike der Philosoph Aristoteles annimmt, wenn nicht gar eine reine Eindunklung von Weiß. Auf jeden Fall steht es zwischen den extremen Polen von Schwarz und Weiß und kann zusätzlich je nach Mischung eine Tönung von jeder der beiden Farben annehmen, wie die antiken Philosophen Platon und Theophrast ausführen. So wird es erst der italienische Humanist und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti sein, der Grau um 1435 zu einer eigenständigen Grundfarbe erklärt, die ihre graduelle Veränderbarkeit mittels Hinzufügung schwarzer oder weißer Pigmente erfährt.

      Spätestens von da an ist das Interesse der Kunst für die Erforschung der Stufenleiter von Grautönen zwischen Schwarz und Weiß geweckt. Nicht nur diese beiden unbunten Farben bringen nämlich in ihrer Mischung das Grau zustande, sondern auch bunte im Mischverhältnis mit oder ohne Weiß und Schwarz selber, wobei je nach ihrem Anteil das dabei entstehende Grau heller oder dunkler erscheint. Primär- oder Grundfarben wie Rot, Blau und Gelb sollen mit den aus ihnen gewonnenen sekundären respektive komplementären vermischt, wie Grün, Orange und Violett, gar qualitativ mehr als das »niederträchtige Grau« aus reinem Schwarz und Weiß (Goethe) ergeben. Aber auch hier gilt, je dunkler die Farben, desto dunkler das Grau. Das bestätigt schon die von alters her gehegte Vorstellung, dass sich mittels Licht- oder Komplementärfarben harmonische Grautöne gewinnen ließen. Derart sorgen die mit abstrakten Grundfarbwörtern gleichwertig gebildeten Komposita Gelb-, Blau-, Grün-, Violett- oder Orangegrau seit dem 15. Jahrhundert im Schriftdeutschen für ein passendes Farbnebeneinander. Je mehr allerdings in der Naturwissenschaft die bis anhin vorherrschende Lehrbuch-Autorität des Aristoteles schwand, indem selbstständiges Beobachten und Forschen an seine Stelle traten, desto mehr wurde der Graugehalt bei Farben stärker beachtet. Deswegen kommt das bunte Farbadjektiv zunehmend häufiger bei Wortzusammensetzungen mit Grau an zweiter Stelle zu stehen. Allein als Ausnahme, weil von Plinius dem Älteren in seiner Enzyklopädie bereits auf Lateinisch im Sinne von fahler Tönung verwendet, taucht der Ausdruck Graurot im Deutschen relativ früh auf. Das Überdenken der Tonwertigkeit und Helligkeit solcher Farbverbindungen führte auch dazu, sich mit dem Aufscheinen von Grau in einer Farbsystematik zu beschäftigen.

      Und so sind mittels sehr unterschiedlich konzipierter Farbkreise, Kugelmodelle und Farbmusterkataloge eine stattliche Anzahl von Theorien entstanden, in denen Grau zentral für die Farbmischung wird, quasi als »generative Matrix aller Farben«, wie es der deutsche Kunsthistoriker Gregor Wedekind nennt, auch wenn sich dabei keine Komplementärfarbe für Grau gefunden hat. Aber je sorgfältiger und sensibler wir uns mit Grau beschäftigen, es konzentriert wahrnehmen, desto mehr erfährt man auch über seine Qualität, etwa wie kühl oder warm, dunkel oder hell es ist und zu welcher Farbrichtung es neigt. Es wird damit zu einer farblichen Güte, die sich aus dem gesamten Farbspektrum ableiten lässt, was wiederum viel über unsere Farbwahrnehmung aussagt. Ja selbst Graustufen, wie sie in der Fotografie oder auf den Computerbildschirmen verwendet werden, erlauben ein neues Sehen in feinsten Kontrasten. Und zu dieser Sensibilisierung auf das Grau gehört auch immer das Nachdenken darüber, das Experimentieren damit.

      »Man halte ein schwarzes Bild vor eine graue Fläche und sehe unverwandt, indem es weggenommen wird, auf denselben Fleck«, berichtet etwa Goethe in seiner »Farbenlehre « von einem solchen Seh-Experiment. »Der Raum, den es einnahm, erscheint um vieles heller. Man halte auf eben diese Art ein weißes Bild hin, und der Raum wird nachher dunkler als die übrige Fläche erscheinen. Man verwende das Auge auf der Tafel hin und wieder, so werden in beiden Fällen die Bilder sich gleichfalls hin und her bewegen. Ein graues Bild auf schwarzem Grunde erscheint viel heller als dasselbe


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