Lebendige Seelsorge 4/2020. Verlag Echter

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nur ein Aspekt. Die Nacht ist auch die Zeit des stärkenden Schlafes und des Vergessens, die Zeit der schutzgebenden Dunkelheit, der Bergung vor den Feinden. In ihrer Stille bietet die Nacht den Raum für die Begegnung zwischen Menschen, sei es im intensiven Gespräch oder in der erotischen Vereinigung.

      Auch die Religionsgeschichte weiß um die Nacht als ambivalentes Bild. In nahezu allen Religionen ist die Nacht einerseits Wirkungsbereich bedrohlicher Dämonen und Totengeister. So kennt etwa die altägyptische Religion die Vorstellung eines Kampfes, den der Sonnengott Re Nacht für Nacht mit den Chaosmächten der Finsternis zu bestehen hat. Und die bis heute geläufige Idee der mitternächtlichen Geisterstunde oder Johann Wolfgang von Goethes klassische Schilderung der Walpurgisnacht, in der sich Hexen und Zauberer vergnügen, beziehen sich auf uralte Motive der nordischen Mythologie.

      Andererseits ist die Nacht aber auch eine privilegierte Zeit für das Gebet und die Offenbarung der Gottheit. So sind die spätantiken Mysterienkulte im hellen Licht des Tages schlicht nicht vorstellbar. Auch die jüdische Bibel erzählt gerade an wichtigen Schlüsselstellen von nächtlichen Begegnungen mit Gott, die sowohl das erschreckendübermächtige als auch das vertrauensvollbergende Moment in der Gotteserfahrung des Volkes Israel zum Ausdruck bringen. Der Islam kennt diese religiöse Dimension der Nacht ebenfalls. So widmet der Koran eine ganze Sure der sogenannten „Nacht der Bestimmung“, in der Muhammad zum ersten Mal die göttliche Offenbarung empfängt.

      Diese Doppeldeutigkeit der nächtlichen Dunkelheit hat sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, in Literatur, Malerei und bildender Kunst vielfältige Ausdrucksformen geschaffen. Von den romantischen Nachtbildern Caspar David Friedrichs bis zu Edward Hoppers Ikonen moderner Nächtigkeit, vom Abschied der Liebenden in Shakespeares Romeo und Julia bis zu Arnold Schönbergs Quartett Verklärte Nacht, von den verstörenden Nacht-Gedichten Georg Trakls bis zu den erschütternden Bekenntnissen von Georges Bernanos Landpfarrer zieht sich die Beschäftigung mit der Nacht durch alle Epochen, durch alle Formen und Stilarten menschlichen Kunstschaffens.

       Stephan Lüttich

      geb. 1974, Dr. theol., nach Tätigkeit im Bistum Hildesheim jetzt Abteilungsleiter bei der Klosterkammer Hannover, einer staatlichen Stiftungsverwaltung.

      DIE NACHT ALS ORT GOTTES

      Der christliche Glaube dechiffriert das Dunkel der Nacht als Ort Gottes. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, dichtet Jochen Klepper 1937 vor dem Hintergrund äußerster existentieller Not in seinem bekannten Weihnachtslied: Angst, Trauer und Verzweiflung sind ein Raum, den Gott mit seiner Gegenwart erfüllen will. Und seine Gegenwart erhellt diese Nacht. Aber nicht wie ein greller Scheinwerfer, der alle dunklen Ecken und alle finsteren Winkel ausleuchtet. Das Dunkel der Welt und des Lebens bleibt dunkel, auch wenn es von Gott erlöst ist. Das Leiden wird nicht abgetan. Es kann und darf für Christenmenschen Erfahrungen geben, in denen alle Vorstellungen von Gott auf furchtbare Weise zerbrechen. Aber das Entscheidende ist: Da, wo die Geschichte der Glaubenden voller Hoffnungslosigkeit ist, wirkt Gott als einer, der durch Nacht in das aufgehende Licht führt.

      Die Nacht als Raum des Übergangs und Ineinanders von negativ-angstvoller und positiv-beglückender Erfahrung ist ein locus theologicus. Das inhaltliche Zentrum und damit die Berechtigung, ja die Verpflichtung, auch die Nacht-Seite Gottes anzuschauen, sind von der Offenbarung vorgegeben. Weihnachten und Ostern, die Hauptfeste des Christentums, sind Nachtfeste: „Zusammen sind diese beiden Feste der Anfang unserer Erlösung, zusammen verheißen sie den Tag, auf den wir im Glauben warten. Weil sie beide den Anfang des Sieges eines ewigen Tages, zusammen den Sieg eines neuen Anfangs bedeuten, darum sind beide Feiern einer allerheiligsten Nacht“ (Rahner, 401). Schon im Weihnachtsgeheimnis spiegelt sich eine starke Spannung: Die Nacht der Not und Armut des Stalls ist gleichzeitig die Nacht des „Gloria in excelsis Deo“, das den Hirten auf dem Feld verkündet wird; die improvisierte Geburt des hilflosen Säuglings ist gleichzeitig die glorreiche Ankunft des erwarteten Friedenskönigs. Und diese Spannung findet sich aufs Äußerste gedehnt in der Pascha-Nacht Christi, die sich vom Abend von Getsemani bis zum Morgen der Auferstehung erstreckt. Die Polarität von Angst und Sieg, Verlassenheit und Erfüllung, Leiden und Herrlichkeit, Tod und Auferstehung wird von der Ambivalenz der Nacht-Metapher umfangen. Ein kantiges, sprachlich herausforderndes Zitat des zu Unrecht nur wenig rezipierten jesuitischen Theologen Erich Przywara fasst diese Polarität zusammen und macht gleichzeitig deutlich, dass es sich dabei um eine Grundstruktur des christlichen Glaubens überhaupt handelt: „Es ist […] die Osternacht. Die Nacht vom Karfreitag her: das Versunkensein in den Widersinn eines durch Seine Schöpfung getöteten Gottes. Die Nacht zum Ostermorgen hin: das Entrücktsein in den Über-Sinn einer durch die Tötung Gottes in Gott hinein erlösten Schöpfung. Es ist darum die ‚wache Nacht‘ […]. Wachheit negativ: als schärfstes Bewußtsein der aufgerissenen Abgründe. Wachheit positiv: als Nacht, die schon Tag ist. Es ist Nacht, in der das Abgründige des Geschöpfes […] und das Grundlose Gottes […] unergründlich eins sind. […] Die Nacht der ‚Gottverlassenheit‘ ist das entscheidende ‚Gott alles in allem‘“ (Przywara, 70f.).

      NACHT-ERFAHRUNGEN

      Negative menschliche Erfahrungen sind immer zweideutig. Sie können den gläubigen Menschen von Gott entfernen oder ihm helfen, jenseits aller vordergründigen Erwartungen an das Leben zu einer größeren menschlichen und religiösen Reife zu gelangen. Unbedingt festzuhalten ist, dass die Erfahrungen von Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Selbstzweifeln nicht per se ein Zeichen für eine Trennung von Gott sind. Es gilt sie zu deuten und zu gestalten. Dann können sie als wichtige Etappe eines geistlichen Weges verstanden werden.

      Dabei ist wichtig, diese spirituellen Nacht-Erfahrungen vom Krankheitsbild der Depression abzugrenzen. Eine klinische Depression ist natürlich keine Frage mangelnder positiver Deutungsversuche des Betroffenen oder der fehlenden Gewissheit des christlichen Glaubens. Eine Depression muss von kompetenten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Ärztinnen und Ärzten behandelt werden.

      Nacht-Erfahrungen im Sinne eines spirituellen Wachstumsprozesses sind etwas Anderes. Romano Guardini hat Ende der 1920er Jahre einen großen Essay über den „Sinn der Schwermut“ veröffentlicht. Für Guardini zeichnen sich Menschen, die unter Schwermut leiden, durch eine besondere Empfindsamkeit, ja Verwundbarkeit aus: „Diese Verwundbarkeit stammt […] aus einer durch innere Vielfältigkeit der Anlagen bedingten Sensibilität des Wesens. […] Diese Sensibilität macht den Menschen verwundbar durch die Erbarmungslosigkeit des Daseins […]; das Leiden überall; das Leiden der Wehrlosen und Schwachen, das Leiden der Tiere, der stummen Kreatur … Im letzten kann man es nicht ändern. Es ist unaufhebbar. […] Verwundend sind die Armseligkeiten des Daseins; daß es oft so häßlich ist, so platt“ (Guardini, 71f.). Auch Guardini weiß, dass menschliche Nacht-Erfahrungen zweideutig sind. Die Verwundbarkeit, die er beschreibt, schmerzt. Sie lässt die Schwermütigen leiden. Gleichzeitig erschließt sie ihnen aber eine besondere Tiefe des Lebens und des Daseins überhaupt. Diese Tiefe bleibt für all jene verborgen, die sich nur an der Oberfläche bewegen und Verzweiflung und Angst wegerklären wollen oder mit vordergründigen Ablenkungen zu verdrängen suchen.

      So offenbart sich eine unerwartet positive Seite der Schwermut. Guardini ist davon überzeugt, dass der Mensch mit einer Neigung zur Schwermut „das Leid der Vergänglichkeit [erfährt]: Daß das Geliebte weggenommen wird. Daß der Nachbar des Schönen der Tod ist. […] Aber wie in äußerster Gegenwehr dazu ist da die Sehnsucht nach dem Ewigen, Unendlichen; nach dem Absoluten. […] Schwermut ist Ausdruck dafür, daß wir begrenzte Wesen sind, […] Wand an Wand mit Gott“ (Guardini, 85ff.).

      MYSTIK DER DUNKLEN GEGENWART GOTTES

      Für Guardini enthüllt sich in der Nacht-Erfahrung die menschliche Sehnsucht nach Vollkommenheit und Unendlichkeit. Und hier eröffnet sich eine überraschende Anschlussfähigkeit im Hinblick auf eine religiös indifferente oder sogar anti-religiös eingestellte Gesellschaft. In Situationen existentieller Not und Betroffenheit hilft es nicht, auf das Dasein eines „lieben Gottes“ hinzuweisen, der schließlich doch alles zum Guten wenden werde. Ein solches von keiner Erfahrung gedecktes Behaupten wird vielmehr eher dazu führen, dass Menschen, die es ohnehin schwer haben, einen Zugang zum Glauben an die Existenz Gottes zu finden, sich


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