Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde

Der Gesang der Orcas - Antje Babendererde


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weitergehen. Wir liefen herum, als wären wir nur noch Schatten unserer selbst. Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte endlich wieder glücklich sein.

      Papa kam wenig später nach oben und schnupperte in die Küche. »Hmm, Pizza«, sagte er, als hätte ich was besonders Ausgefallenes gekocht. Blass und müde sah er aus und die grauen Haare, die sich in seine blonden mischten, waren auffällig viele geworden. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich zu mir an den Tisch und fragte: »Na, wie war dein Tag heute?«

      Müde hob ich die Schultern. »Ganz okay. Ich war auf dem Friedhof und habe gemalt.« Wie jeden Tag.

      »Gut«, sagte er zerstreut, mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders. Es kam nur selten vor, dass er mich darum bat, ihm meine Bilder zu zeigen. Vielleicht waren sie ihm nicht gut genug, vielleicht war er auch einfach nur zu sehr mit sich selbst und seiner Arbeit beschäftigt.

      Mama hatte sich meine Bilder immer angesehen und mir manchmal etwas dazu gesagt. Wenn sie nichts sagte, gefiel ihr, was ich gemalt hatte. Dann umarmte sie mich und ich fühlte mich gut.

      Wir aßen schweigend unsere Pizza und danach räumte ich das schmutzige Geschirr in den Spüler. Ich sah noch ein bisschen fern, aber es kam nichts, das mich wirklich interessiert hätte. Da griff ich doch lieber zu meinem Walkman, legte eine Kassette mit Musik von Edvard Grieg ein und verschwand in einer Welt, die angenehmer war als die wirkliche. Ganz in dieser Welt zu bleiben, nicht mehr zurückzukehren, war eine verlockende Vorstellung. Wem würde ich schon fehlen?

      Als ich meinem Vater später eine gute Nacht wünschte, saß er an seinem Schreibtisch über dem Lichtkasten und sortierte Negative. Er hob den Kopf und sah mich an, aber ich hatte das Gefühl, er würde durch mich hindurchsehen, als wäre auch ich nur ein Lichtbild.

      Papa wollte auch wieder glücklich sein, das wurde mir in diesem Augenblick klar. Doch obwohl er mein Vater war und viel mehr Lebenserfahrung hatte, wusste er anscheinend auch nicht, wie er es anfangen sollte. Er fühlte sich genauso einsam und verloren wie ich.

      Später, im Bett, lag ich wach und dachte, dass es vielleicht einfacher für mich sein würde, wenn ich eine richtige Freundin oder einen Freund hätte. Jemanden, der mich mochte – so, wie ich nun mal war – und mit dem ich über alles reden konnte. Aber eine richtige Freundin hatte ich hier in Berlin noch nicht gefunden und bisher hatte sich auch kein Junge für mich interessiert. Woran Letzteres liegen könnte, darüber machte ich mir keine Illusionen. Die Jungs am Gymnasium hatten ziemlich klare Vorstellungen davon, wie ihre »Bräute«, wie sie ihre Freundinnen nannten, auszusehen hatten. Das Wichtigste schien der Brustumfang zu sein und davon besaß ich nur kläglich wenig. Da war zwar was, aber es wollte nicht wachsen. Jedenfalls nicht so schnell wie bei den anderen Mädchen in meiner Klasse.

      Wenn ich mit solchen Sorgen zu meiner Mutter gekommen war, hatte sie immer einen netten Spruch auf Lager gehabt, der mich darüber hinwegtröstete und zum Lachen brachte. Doch nun tröstete mich niemand mehr. Mamas Lachen fehlte mir so. Sie hatte immer alles in Ordnung bringen können.

      Seit sie nicht mehr da war, fühlte ich mich unwohl in meiner Haut. Meinen eckigen Körper versteckte ich am liebsten unter weiten Kleidern und Hosen, sodass meine Figur überhaupt nicht mehr zu sehen war. Unauffällig wollte ich sein – oder wenigstens wie alle anderen. Aber etwas in meinem Inneren machte das immer unmöglich.

      Das Einzige, was ich wirklich an mir mochte, war mein Haar. Es war dick und glänzte kupferrot. Meistens trug ich es offen bis auf die Schultern und trotzdem behandelten mich Jungs und Mädchen wie ein Neutrum. Wie etwas, das keinen zweiten Blick wert war. Graue Maus, nannten sie mich – obwohl mein Kopf leuchtete wie eine Tomate.

      Schon halb im Schlaf hörte ich ein Klopfen an meiner Tür und der Kopf meines Vaters erschien im Lichtspalt. »Bist du noch wach, Sofie?«

      »Ja, was ist?«, fragte ich müde, aufgeschreckt aus einem Halbtraum, in dem Mama noch da war.

      Papa kam herein, ohne das Licht anzumachen, und setzte sich zu mir aufs Bett. Ich spürte, wie die Matratze einsank. »Ich habe heute einen Anruf vom Cheflektor des VARGAS-Verlages bekommen«, sagte er. »Ich soll für einen Bildband Aufnahmen von der Olympic-Halbinsel im Bundesstaat Washington machen.«

      Geografie war mein Lieblingsfach und in meinem Kopf tauchte eine imaginäre Landkarte auf. »Nordamerika?«, fragte ich und war plötzlich wieder hellwach. Ich setzte mich auf.

      Papa nickte. »Ja«, sagte er. »Gletscherberge, Regenwald, Pazifikküste und Fischindianer.«

      Das klang nach Abenteuer. »Wirst du den Auftrag annehmen?«

      »Kommt darauf an«, sagte er leise und ich konnte seine Augen im Flurlicht glitzern sehen.

      »Worauf?«, fragte ich. Mein Herz klopfte wild. Er hatte es schon eine ganze Weile gewusst und mir nichts davon gesagt.

      »Ob du Lust hast, mich zu begleiten. Ich soll auch vom Stammesfest der Makah-Indianer in Neah Bay Aufnahmen machen. Mitte August haben sie dort ein Kanutreffen mit kanadischen Stämmen. Für die übrigen Fotos bräuchte ich mindestens drei Wochen. Wir müssten also in einer Woche los und du würdest Schule versäumen.« Er sah mich an, mit einem Blick, der seine Hilflosigkeit offenbarte. »Ich möchte dich nicht so lange allein lassen, Sofie.«

      Papa sagte nicht: »Es wäre schön, wenn du mitkommen würdest, Sofie.« Ihn plagte bloß das schlechte Gewissen. Jetzt, wo er sein Versprechen endlich einlösen wollte, hatte es für mich keine Bedeutung mehr.

      »Aber ich will doch zu Tante Elisabeth fahren«, erinnerte ich ihn. Falls er das wie so vieles andere auch vergessen haben sollte. »Ich habe mich schon so darauf gefreut.«

      »Ich weiß«, sagte er. »Aber die kannst du doch auch in den Herbstferien besuchen. So eine Gelegenheit kommt nicht so schnell wieder. Bist du gar kein bisschen neugierig auf Amerika? Da wolltest du doch immer hin.« Er wirkte beinahe enttäuscht.

      Ich hob die Schultern. »Ich denke darüber nach, okay?«, sagte ich lahm. Wie der Appetit war mir auch die Neugier abhanden gekommen, seit Mama nicht mehr da war. Meine Abenteuerlust und mein Wissensdurst waren in einem seltsamen Nebel aus Hoffnungslosigkeit verschwunden.

      Papa strich mir zärtlich übers Haar. »Ja, denk drüber nach. Aber morgen muss ich dem Verlag Bescheid geben. Sie haben die Tickets für uns schon gebucht. Es ist ein interessanter Auftrag, Sofie, der gut bezahlt wird.«

      »Hm«, brummte ich, ärgerlich darüber, dass er mich auf diese Weise unter Druck setzte. Seine Entscheidung war also schon gefallen.

      »Schlaf gut«, sagte er, ging aber nicht.

      »Was ist, Papa?«

      »Vielleicht tut es uns gut, wenn wir mal eine Weile zusammen unterwegs sind. Meinst du nicht?«

      »Ja«, sagte ich. »Das wäre bestimmt gut.«

      Mein Vater würde diesen Auftrag annehmen, da machte ich mir nichts vor. Am Ende würde er auch ohne mich fliegen, wie er es all die Jahre getan hatte. Wenn ich ihn begleitete, brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben, dass er mich mal wieder allein zurückließ.Je mehr ich über sein Angebot nachdachte, umso mehr ärgerte ich mich darüber.

      Natürlich hatte er Recht. Meine Cousins Fabian und Sven konnte ich wirklich in den Herbstferien besuchen, aber darum ging es auch gar nicht. Es ging um Papa und mich. Wie es in Zukunft mit uns beiden weitergehen würde. Vielleicht war diese Reise tatsächlich eine Chance für uns und wir konnten einander wieder näher kommen. Vielleicht. Wenn ich ablehnte, würde ich es jedenfalls nie herausfinden.

      Es war Ende Juli, als der Flieger auf dem Sea-Tac-Flughafen von Seattle landete. Unter uns eine dichte Schicht grauer Wolken, aus der nur der Mount Rainier ragte, ein schneebedeckter Vulkankegel südöstlich der Stadt. Dann war auf einmal alles grau. Mein Magen zitterte und hopste, und ehe ich mich versah, setzte der Flieger auf der Landebahn auf und die Passagiere


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