Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde
wenn es regnet.«
Zum ersten Mal kam richtig Bewegung in Javids Gesicht. Er lächelte mir zu, als hätte ich eine weise Entscheidung getroffen. »Na, dann halb zehn am kleinen Hafen. Das Boot meines Onkels heißt Victoria und liegt am letzten Steg.« So unvermittelt, wie er gekommen war, verschwand er hinter dem Vorhang und Freda griff zum Telefonhörer, um dem Ehepaar aus Arizona und ihrem Bruder Henry Bescheid zu geben.
Mein Vater blieb noch kurz vor meinem Zimmer stehen. »Ich dachte, das Kapitel Wale hättest du längst abgeschlossen«, sagte er.
Ich zuckte die Achseln. »Sie im Meer zu beobachten ist was anderes, als sie im Fernsehen zu sehen.«
»Na ja, hoffentlich klappt es auch. Mir scheint, dass das Geschäft mit den Walbeobachtungstouren hier nicht gerade boomt, wenn sie nur mit Mühe und Not vier Leute zusammenkriegen.«
»Vielleicht kommen nur wenige Touristen nach Neah Bay.«
»Da könntest du Recht haben«, sagte er. »Es ist ein merkwürdiger Ort. Und die Makah sind seltsame Menschen.«
Ich fand Javid und seine Mutter überhaupt nicht seltsam. Im Gegenteil, ihre zurückhaltende und doch freundliche Art gefiel mir.
»Wir haben ja noch nicht viele kennen gelernt«, bemerkte ich.
»Stimmt.« Er lächelte. »Die beiden sind ganz okay. Und vielleicht regnet es morgen tatsächlich nicht, dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Schlaf gut!«, sagte er.
»Du auch, Papa.«
Natürlich hätten wir auch diesmal ein gemeinsames Zimmer nehmen können. Dann hätte mein Vater eine Menge Geld gespart, weil er vom VARGAS-Verlag nur die Kosten für ein Motelzimmer erstattet bekam und nicht für zwei. Aber irgendwie hatte das nie zur Debatte gestanden. Ich wusste, dass mein Vater schlecht schlief, seit Mama nicht mehr da war, und er nachts noch lange arbeitete oder las. Außerdem respektierte jeder von uns, dass der andere einen Ort brauchte, an den er sich zurückziehen konnte. Ich war jedenfalls sehr froh mein eigenes Zimmer zu haben.
Obwohl Papa und ich die einzigen Gäste in der oberen Etage waren, schloss ich meine Zimmertür ab und zog die Vorhänge zu. Dann nahm ich eine heiße Dusche. In der feucht-warmen Enge des winzigen Badezimmers kringelten sich meine Haare wie wild gewordene Angelwürmer und ich brauchte hinterher lange,bis sie sich mit der Bürste durchkämmen ließen.
Missmutig blickte ich in den großen Spiegel an der Wand hinter dem Schreibtisch. Früher einmal, da hatte ich mich gemocht, so wie ich war. Seit Mama nicht mehr da war, kam ich mir wie zerbrochen vor. Ich hatte das Gefühl, nur noch aus Einzelteilen zu bestehen, und keines davon erschien mir liebenswert.
Ich zog mein Nachthemd an, ein großes T-Shirt, das einmal meiner Mutter gehört hatte, und legte mich ins Bett. Javid, dachte ich plötzlich wieder und sprach leise seinen Namen vor mich hin. »Javid, Javid, Javid.«
Tatsächlich fiel kein Regen am nächsten Tag, wie Javid es angekündigt hatte. Von schönem Wetter konnte zwar nicht die Rede sein, aber die Wolken, die den Himmel bedeckten, waren weniger grau als in den Tagen zuvor. An manchen Stellen lugte sogar ein Stück Blau hervor.
Freda hatte in ihrem Motel einen kleinen, hübsch eingerichteten Aufenthaltsraum. Drei Tische mit Stühlen standen darin und bunt bemalte Holzmasken mit wilden Gesichtern verzierten die hellen Holzwände. Sie hatte uns dort ein einfaches Frühstück serviert und bei dieser Gelegenheit konnten wir gleich das Ehepaar Austin aus Arizona kennen lernen.
Mrs Austin war eine faltige, alte Dame mit kurzem weißem Haar und einer lustigen bunten Brille. Mr Austin machte den Eindruck, als hätte er die hundert bereits überschritten. Er wirkte klapprig und greisenhaft, aber seine Augen leuchteten in einem jugendlichen Blau. Keine Spur von jenem milchigen Schleier, den ich schon oft bei alten Leuten gesehen hatte. Er erzählte uns, dass er 87 war. Ziemlich bemerkenswert, fand ich, denn Arizona war ganz schön weit weg.
Seit sie Rentner waren, erkundeten die beiden Stück für Stück das Land. Und nun waren sie neugierig auf ein Stück pazifischen Ozean mit seinen großen und kleinen Bewohnern.
»Früher sind wir den ganzen Sommer mit unserem Wohnwagen unterwegs gewesen«, sagte Mrs Austin. »Aber nun kann Warren nicht mehr fahren und ich mag das riesige Gefährt nicht lenken. Wir haben es unserem Sohn vermacht, er lebt in Virginia.« Es klang etwas wehmütig und ich dachte, dass sie ihren Jungen bestimmt nicht oft sahen, weil er so weit weg lebte.
Die beiden waren nett und Papa fragte sie ein wenig aus, was Mrs Austin dazu animierte, uns im Schnelldurchlauf ihre ganze Familiengeschichte zu erzählen. Ich sah immerzu nervös auf die Uhr, traute mich aber nicht die alte Frau zu unterbrechen.
Kurz vor halb zehn erinnerte uns Freda daran, dass es für die Bootsfahrt angebracht war, regendichte Kleidung anzuziehen. Außerdem verteilte sie Pillen gegen Seekrankheit und riet uns inständig die Dinger auch zu nehmen. »Sonst haben Sie nichts von Ihrem Ausflug«, beteuerte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
Papa und ich gingen noch einmal auf unsere Zimmer, um uns umzuziehen, und liefen dann gemeinsam mit Mr und Mrs Austin zum kleinen Hafen. Die beiden Amerikaner trugen grellgelbe Öljacken und Papa und ich unsere neuen roten Wetterjacken, die wir in Seattle erstanden hatten. Ein paar Leute waren auf der Straße unterwegs, aber es schien so, als würden sie uns überhaupt nicht bemerken. Ein wenig wunderte mich das, denn eigentlich mussten wir doch auffallen wie bunte Hunde, so wie wir gekleidet waren.
Der Weg zum Hafen war nicht weit. Nur ein paar Schritte über die breite Teerstraße und den Parkplatz vor der Bootsrampe. An vier langen Anlegestegen lag ein Dutzend kleinere und mittelgroße Boote. Die meisten waren Fischerboote und kleine Jachten. Manche Fischerboote hatten einen bunten Anstrich, andere sahen alt und heruntergekommen aus. Es gab aber auch ein paar nagelneue, schnittige Motorboote.
Javid Ahdunko und sein Onkel Henry Soones warteten vor einem blau-weißen Motorboot auf uns und winkten uns zu. Ich war nicht sicher gewesen, ob Javid mit uns hinausfahren würde, und nun war ich glücklich ihn zu sehen.
Er trug eine rote Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf und grinste mich fröhlich an. Ich lächelte vorsichtig zurück. Wie mir schien, hatte zwischen uns beiden eine geheimnisvolle Verständigung eingesetzt, obwohl wir noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Mein Herz klopfte schnell und laut. Im selben Augenblick kam die Sonne durch die Wolken und ich hatte das Gefühl, alles um mich herum würde in einem unirdischen Licht erstrahlen. Geblendet sah ich zu Boden.
Javids Onkel, ein Makah-Indianer mit kurzem Haar und Schnurrbart, kassierte sein Geld, dann half er uns auf das Deck des sechs Meter langen Motorbootes mit dem stolzen Namen Victoria. Das weiße Plastikdeck war sauber geschrubbt und leuchtete hell in der Sonne. Wir bekamen jeder eine Schwimmweste und halfen uns gegenseitig beim Festbinden der Strippen. Erst, als wir auf den beiden leuchtend blauen Holzbänken saßen, holte Javid die vom Meerwasser durchsalzenen Taue ein. Soones warf den Motor an und begleitet vom Chor der Seemöwen tuckerte das Boot von der Anlegestelle.
Es roch stark nach Fisch und Seetang im Hafen, vermutlich wegen der Abfälle von der Fischverarbeitungsanlage, einem türkisfarbenen Holzkasten, der nur wenige Meter entfernt auf Holzpfählen im Wasser stand. Mir wurde jetzt schon schlecht und ich war sehr froh die Pille gegen die Seekrankheit geschluckt zu haben. Was sollte das erst werden, wenn wir auf dem offenen Meer draußen waren?
Soones steuerte das Boot zunächst nach Osten. Wir passierten einen schmalen Durchgang zwischen dem Festland und einer kleinen Insel, die auf ihrer anderen Seite durch einen schmalen Damm mit der Bucht verbunden war. Auf diese Weise war der geschützte Hafen entstanden.
»Wohnt da jemand?«, überschrie Mrs Austin den Bootsmotor und zeigte mit dürrem Finger auf die bewaldete Insel.
Henry Soones schüttelte den Kopf. »Nein, auf Waadah Island wohnt niemand mehr, Ma’am. Aber ein paar Leute aus Neah Bay graben da manchmal nach Muscheln.«