Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde
»Diese hier sind Transients,was so viel wie Durchreisende bedeutet. Früher dachten die Leute, es würde sich bei diesen kleinen Gruppen um Ausgestoßene handeln, aber inzwischen weiß man, dass es geschickte Jäger sind, die neben Fischschwärmen auch noch andere Beute bevorzugen. Sie machen Jagd auf Robben und Seelöwen und manchmal sogar auf Großwale. Grauwalzungen sind Leckerbissen für Orcas.«
Er sagte das ganz ungerührt, aber Mrs Austin verzog angewidert das Gesicht. »Welche Leckerbissen bevorzugen sie denn außerdem?«, fragte sie pikiert.
Zum ersten Mal lachte Henry Soones und nun entdeckte ich in seinem Gesicht auch eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Schwester Freda. »Keine Angst«, beruhigte er die alte Frau. »Es ist bis heute kein Fall bekannt, dass ein Mensch von einem frei lebenden Orca angegriffen wurde. Wahrscheinlich schmecken wir ihnen nicht.«
Für Mrs Austin schien das nur ein kleiner Trost zu sein und sie war sichtlich erleichtert, als die Wale sich sammelten und vom Boot wegschwammen.
Javid grinste kopfschüttelnd. »Für ihre Speisekarte taugen wir nicht und langweilig finden sie uns auch noch.«
Ich sah den Orcas nach, die sich schnell entfernten und dabei ihre Schwimmflossen in erstaunlich gleichen Abständen aus dem Wasser zogen. Alles war so schnell gegangen.
Javid saß jetzt neben mir auf der Bank. Sein Arm berührte meinen und ich wagte kaum mich zu bewegen, damit es ihm nicht bewusst wurde. Ich fand es schön, ihm so nahe zu sein und seine Wärme zu spüren. Zu Hause in der Schule rückten immer alle von mir ab, wenn ihnen klar wurde, dass sie mich unbeabsichtigt irgendwo berührten. Ich hatte keinen unangenehmen Körpergeruch, das hatte ich eingehend ausgetestet. Es musste an etwas anderem liegen. Als ob sie Angst vor mir hatten. Vor etwas, das ich in ihren Augen ausstrahlte und das sie nicht benennen konnten.
Es hatte keinen Punkt in meinem Leben gegeben, an dem ich mir gesagt hatte: »Okay Sofie, von nun an bist du anders als alle anderen!« Es war einfach so gekommen und eigentlich hatte ich keine wirklichen Probleme damit gehabt, bis Mama starb.
Aber nun saß Javid Ahdunko neben mir und ich spürte die Wärme seines Körpers durch unsere Sachen hindurch. Eines Tages würde auch für mich jemand da sein, dachte ich. Jemand, mit dem ich über alle meine Gedanken reden konnte, auch über das, was mich so traurig machte.
Henry Soones warf den Motor der Victoria wieder an und fuhr mit uns noch ein Stück die Küste entlang nach Süden. Vermutlich um die Zeit einzuhalten, die für den Ausflug angesetzt war. Tiere sahen wir nicht mehr, bewunderten aber einstimmig die Schönheit der rauen Küste. Doch dann verschwand die Sonne auf einmal und die Wolken am Himmel wurden dichter. Die blauen Löcher zogen zu und es fing an, zu regnen. Wir stülpten unsere Kapuzen über die Köpfe und Papa brachte seine Kamera vor dem Regen in Sicherheit.
Javids Onkel steuerte das Boot sicher zurück in den Hafen von Neah Bay, wo wir uns bei ihm für den gelungenen Ausflug bedankten und uns verabschiedeten.
Das Ehepaar Austin hatte es eilig, ins Motel zurückzukommen. Die Bootstour war für die alten Leutchen wahrscheinlich anstrengend gewesen und nun wollten sie etwas essen und danach ein Mittagsschläfchen halten. Mein Vater offenbarte mir, dass er schon die ganze Zeit Zahnschmerzen hatte, die nun so schlimm geworden waren, dass er eine Schmerztablette nehmen musste.
»Du hast gar nichts gesagt«, bemerkte ich vorwurfsvoll.
»Ich dachte, es geht wieder weg. Der Zahn macht mir schon seit einiger Zeit Ärger.« Er drückte mir einen Zwanzigdollarschein in die Hand und sagte: »Hier, du hast bestimmt Hunger. Vielleicht bekommst du im Supermarkt etwas. Kauf ruhig ein bisschen Obst ein und was zu knabbern, damit wir auch mal was für unterwegs dahaben.«
»Und du?«, fragte ich.
Er betastete vorsichtig seinen Unterkiefer. »Mir ist der Appetit vergangen. Ich lege mich im Motel ein bisschen hin.«
Ich nahm das Geld und vor dem Motel trennten wir uns. Regen trieb mir ins Gesicht. Den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, lief ich die Hauptstraße von Neah Bay entlang. Es war nicht kalt, aber furchtbar nass. Ich dachte, dass dies vermutlich die dunkelste und feuchteste Ecke von ganz Amerika war. Ausgerechnet hierher hatte es mich verschlagen: an einen Ort am Ende der Welt!
Zum Ausgleich war ich allerdings Javid begegnet und dem Ozean mit diesen wunderschönen, faszinierenden Geschöpfen, den Orcas. Ihre riesigen, glänzenden Körper mit den kräftigen Flossen gingen mir nicht aus dem Sinn, genauso wenig wie Javid Ahdunko.
»Hey Copper«, rief auf einmal jemand hinter mir und ich drehte mich um, weil ich seine Stimme erkannte. Ich blickte über die Straße, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich mich meinte. Javid holte mich ein und grinste, die Hände tief in den Taschen seiner alten gelben Wetterjacke vergraben. »Wo willst du denn hin?«
»Ich hab Hunger«, sagte ich, was sogar stimmte, und sah ihn an. Er hatte seine Baseballkappe jetzt richtig herum auf, damit das Schild ihm den Regen aus dem Gesicht hielt.
»In Washburnes Supermarkt gibt’s was zu essen«, sagte er. »Wenn du nichts dagegen hast, komme ich mit.«
Ich zuckte die Achseln. Es war eine einstudierte Geste, um meine Gefühle zu verbergen und noch unberührbarer zu scheinen, als ich es ohnehin schon war.
Sollte das etwa ein Annäherungsversuch gewesen sein? Und wie hatte er mich gerade genannt? Copper? Kupfer. Keine Ahnung, ob er sich über meine roten Haare lustig machen wollte oder was auch immer es bedeutete. Es hatte nicht abschätzig geklungen, aber ich war aus Erfahrung misstrauisch. Wortlos lief ich weiter und Javid trabte neben mir her.
»He«, sagte er, »du hast es aber eilig.«
»Es regnet«, erwiderte ich.
»Na und? Hier regnet es dauernd, aber niemand rennt deswegen.« Er breitete seine Arme aus wie Flügel.
Ich lief ein bisschen langsamer.
»Haben sie dir gefallen?«, wollte er wissen.
»Wer?«, fragte ich.
Ich hörte sein Seufzen. »Die Wale natürlich.« Er blieb stehen und hielt mich am Arm fest. »Hey, Copper, was ist eigentlich los mit dir?«
Die Frage kam unerwartet. Schon lange hatte niemand mehr wissen wollen, was mit mir los war. Mir wurde eng in der Kehle und ich musste schlucken. »Ich heiße Sofie«, sagte ich und sah ihm in die Augen. Sie glänzten schwarz wie die Rückenflossen der Orcas und hielten meinem fragenden Blick stand.
»Gefällt dir Copper nicht?«
»Niemand mag es, wenn er verspottet wird«, antwortete ich.
Nun blickte Javid überrascht. »Ich verspotte dich nicht. Mir gefallen deine Haare, sie glänzen wie flüssiges Kupfer. Ich habe noch nie jemanden mit solchen Haaren gekannt.« Er hob die Hand und griff nach einer Strähne, die meinem Haarband entschlüpft war und unter der Kapuze hervorquoll. Als ich einen Schritt zurückwich, ließ er seine Hand wieder sinken.
»Warum sollte ich dir glauben?«, fragte ich schroff.
Javid runzelte die Stirn. »Weil ich kein Lügner bin.«
Er klang so aufrichtig, dass ich mich plötzlich schämte. Ich sah weg. »Das habe ich ja auch nicht gesagt.«
»Dann drück dich doch mal klar aus!«
Stumm schüttelte ich den Kopf, aus Angst, das Falsche zu sagen. Ich fürchtete, er würde mich nun einfach im Regen stehen lassen und fortgehen.
Aber Javid ging nicht. »Weißt du«, fing er an, als hätte er soeben beschlossen Geduld mit mir zu haben, »vor ein paar Jahren, ich war damals sieben oder acht, fuhren meine Eltern für zwei Tage in die Stadt und ich blieb bei meiner Großmutter. Sie wohnte in einem alten Haus am Strand. In der Nacht tobte ein gewaltiger Sturm und ich hatte große Angst. Um mich abzulenken, erzählte