Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde

Der Gesang der Orcas - Antje Babendererde


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Und sie war unglücklich, weil sie sehr einsam war.«

      Ich stand da, mit Füßen schwer wie Blei, und lauschte auf das, was Javid mir auf dem nass glänzenden Asphalt der Hauptstraße von Neah Bay erzählte.Den Regen spürte ich nicht mehr, obwohl er kaum nachgelassen hatte. Noch nie hatte ich etwas so Schönes aus dem Mund eines Jungen gehört. Bisher hatte ich nicht gewusst, wie glücklich Worte machen können.

      »Großmutter sagte, die Weisheit eines Volkes müsse immer durch die Frauen überliefert werden«, fuhr er fort, »weil nur sie den Mut haben, sich an die Wahrheit zu halten.« Javid suchte nach meinem Blick. »Kupferfraus Töchter erkennt man an ihren Augen. Grüne Augen sind das Zeichen für eine alte Seele, die wiedergeboren wurde. Du hast wunderschöne grüne Augen, Copper.«

      Verlegen blickte ich auf meine Schuhe hinunter und wusste nicht, was ich sagen sollte. Javid legte seine Hand versöhnlich auf meine Schulter und meinte: »Na komm, ich denke, du bist hungrig.« Er zeigte auf den Parkplatz vor dem Supermarkt. »Wir sind gleich da.«

      Washburnes General Store war der einzige Supermarkt in Neah Bay, ein großer, kastenartiger Bau mit ausgeblichener Bretterverkleidung und einem betonierten Parkplatz davor. Zwei frisch bemalte Totempfähle standen zur Linken und zur Rechten des Einganges, wie Wächter mit aufgerissenen Augen und großen Zähnen.

      Javid holte einen Einkaufswagen und wir schoben ihn gemeinsam durch die Regalreihen der Markthalle. Hier gab es neben Lebensmitteln auch einiges, was man sonst noch täglich brauchte, wenn man in einem Ort wie Neah Bay wohnte: jede Menge Angelbedarf, Spielzeug für kleine Kinder und Kleidungsstücke für jedes Alter. Da war ein ganzes Sortiment an wetterfester Kleidung, von Regenjacken über Gummihosen bis zu verschiedenen Gummistiefeln und -schuhen.

      Es gab auch eine kleine Ecke mit Schulbedarf und in der entdeckte ich eine Packung mit Tubenfarben, die vermutlich schon ewig dort lag. Ich öffnete die Schachtel und testete, ob die Farben in den Tuben noch weich waren, dann legte ich sie in den Wagen.

      »Das ist Farbe«, sagte Javid mit einem verwunderten Lächeln. »Davon wirst du nicht satt.«

      »Vielleicht doch«, erwiderte ich und übernahm das Kommando über den Einkaufswagen, um ihn zu den Regalen mit den Lebensmitteln zu schieben.

      Ich suchte ein paar Snacks aus und ließ mich dabei von Javid sachkundig beraten (er wusste, was zu süß war), dann legte ich eine Tüte Äpfel dazu. Das übrige Obst sah nicht mehr besonders appetitlich aus und ich hatte das Gefühl, alles roch irgendwie nach Tang und Fisch.

      An der Kasse saß eine junge Indianerin. Sie musterte Javid und mich neugierig und hätte sicher gerne gewusst, wer ich war. Der spöttische Ausdruck in ihrem Gesicht entging mir nicht. Was hatte er zu bedeuten? Lachte sie über mich oder über Javid? Was wusste ich schon über ihn? Gar nichts. Außer dass er verdammt gut aussah und sicher enorme Chancen bei sämtlichen Mädchen von Neah Bay hatte. Warum gab er sich dann eigentlich mit mir ab? Bloß weil ich rote Haare hatte und grüne Augen? Vielleicht war ich naiv, dämlich war ich jedenfalls nicht.

      Javid ließ mir keine Zeit zum Grübeln. Schon zog er mich weiter, in eine Ecke neben der Kasse, wo drei Resopaltische und ein paar Plastikstühle standen. Es roch nach Muscheln und überbackenem Käse, und was da hinter den heißen Scheiben vor sich hin blubberte, machte mir nicht unbedingt Appetit. Aber ich hatte wirklich großen Hunger und so entschied ich mich kurzerhand für den Nudelauflauf.

      Javid kaufte mir eine Portion und bestellte sich selbst einen Becher Muschelsuppe, eine weißliche Flüssigkeit, in der undefinierbare graue Stückchen schwammen. Als ich ihm das Geld zurückgeben wollte, wehrte er gekränkt ab.

      »Ich hab dich eingeladen«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ihr in Deutschland für komische Bräuche habt, aber bei uns bezahlt man nicht, wenn man eingeladen wurde.«

      Javid Ahdunko hatte mir tatsächlich ein Essen spendiert. Das hatte noch nie ein Junge für mich getan. Ich bedankte mich bei ihm mit einem Lächeln. Dann verschlang ich meine Nudeln und war überrascht, wie gut sie schmeckten. Vor allem wohl deshalb, weil sie in einer dicken Soße aus Käse und Sahne schwammen.

      »Willst du mal von meiner Suppe probieren?«, fragte Javid und hielt mir den Becher unter die Nase. Ich schüttelte den Kopf und konnte nicht verhindern, dass ich mein Gesicht verzog. Für Muscheln hatte ich noch nie was übrig gehabt.

      Er lachte. »Sie schmeckt besser, als sie aussieht, glaub mir. Mit vielen Dingen ist das so. Erst bist du enttäuscht, weil du ganz andere Vorstellungen von einer Sache hattest. Und wenn du dir nicht die Mühe machst, hinter die Fassade zu schauen, wirst du enttäuscht bleiben. Man muss sich schon ein bisschen anstrengen, um das Schöne zu finden.«

      Ich schluckte überrascht. Was waren das für Worte? Und noch dazu von einem Jungen wie Javid. Verbarg sich vielleicht eine alte Seele hinter seinem hübschen Gesicht, obwohl er schwarze Augen hatte und keine grünen?

      Noch einmal reichte Javid mir den Pappbecher mit der Suppe. »Na los«, sagte er, »sei nicht feige und probier sie! Mach einfach die Augen zu und nimm einen Schluck.«

      Ich schloss meine Augen und hielt den Atem an, als ich die Suppe probierte. Aber Javid hatte Recht: Sie schmeckte tatsächlich, auch wenn man es ihr nicht ansah. »Gut«, sagte ich, nachdem ich meine Augen wieder aufgemacht hatte. Er nickte und grinste zufrieden, als er den Becher wieder in Empfang nahm.

      Als wir den Supermarkt verließen, nieselte es nur noch. Javid entpuppte sich als Kavalier und trug die Tüte mit meinen Einkäufen bis zum Motel. Auf der Treppe zu den oberen Zimmern verabschiedete ich mich von ihm.

      »Danke für die Nudeln und fürs Tragen«, sagte ich und streckte die Hände nach meiner Einkaufstüte aus. Aber Javid machte keine Anstalten, sie mir zu geben. Mit einer Kopfbewegung zur Tür neben dem Treppenaufgang, die – wie ich annahm – in sein Zimmer führte, fragte er: »Hast du Lust, noch einen Augenblick mit reinzukommen?«

      Ich schüttelte brüsk den Kopf. Diese Einladung kam dann doch ein bisschen überraschend und ich blockte erst einmal ab. »Mein Vater hatte vorhin mächtige Zahnschmerzen und ich will erst einmal sehen, wie es ihm geht. Außerdem muss ich mich umziehen. Ich bin ganz nass und langsam wird mir kalt.«

      Javid akzeptierte meine lange Ausrede und reichte mir die braune Papiertüte. »Okay. Solltest du es dir anders überlegen, brauchst du nur zu klopfen. Ich bin da.«

      Zuerst einmal klopfte ich an der Zimmertür meines Vaters und fand ihn lesend auf seinem Bett. Seine rechte Gesichtshälfte war geschwollen und er lächelte schief. Mitleidig sah ich ihn an. »Sieht gar nicht gut aus«, sagte ich, zog meine Regenjacke aus und setzte mich zu ihm aufs Bett.

      Er legte das Buch zur Seite. »Ich war schon bei Freda, aber sie hat mir abgeraten in Neah Bay zum Zahnarzt zu gehen, wenn es etwas Ernstes ist. Also werde ich morgen Vormittag nach Port Angeles fahren, einen Termin habe ich schon. Du kannst mitkommen, wenn du willst, und dir die Stadt ansehen.«

      Ich nickte. »Werde es mir überlegen. Hast du Hunger?«

      »Was hast du denn mitgebracht?«

      Ich kippte meine Einkäufe auf den Tisch und sagte resigniert: »Wahrscheinlich nichts für jemanden, der so aussieht wie du.«

      Papa erhob sich vom Bett, begutachtete meinen Einkauf und lächelte kopfschüttelnd. »Du hast Recht. Aber Hunger habe ich trotzdem.« Er ging zum Fenster, die rechte Hand auf seiner geschwollenen Wange. »Ich glaube, das Wetter hat sich ein bisschen gebessert. Hast du Lust, noch etwas herumzufahren und die Gegend zu erkunden?«

      »Heute nicht mehr«, antwortete ich seufzend. »Ich bin ganz nass und will erst einmal duschen. Mir ist kalt.«

      Er sah mich an. »Siehst wirklich ein bisschen erfroren aus. Werde nur nicht krank.«

      »Hab ich nicht vor.«

      »Okay«, meinte Papa kurz entschlossen. »Dann fahre ich noch mal alleine los.« Er sah wieder aus dem Fenster. »Die Stimmung ist verrückt, sieh dir die Farben an. Vielleicht kann ich ein paar gute Fotos machen. Und vielleicht bekomme ich ja irgendwo eine Mahlzeit, die nicht gekaut werden muss.«

      »Im


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