Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde

Der Gesang der Orcas - Antje Babendererde


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viel?«, fragte ich erstaunt. »Weshalb haben die Makah das getan?«

      »Ganz einfach. Weil das Meer wertvoller für uns war als das Land. In diesem Vertrag erhielten wir dafür die uneingeschränkten Fangrechte vor unserer Küste. Das galt auch für Wale. Trotzdem haben wir aufgehört Grauwale zu jagen, noch bevor man sie auf die Liste der bedrohten Tierarten setzte. Aber nun gibt es wieder mehr als zwanzigtausend. Und der Vertrag ist immer noch gültig. Deshalb hat unser Stamm sein Recht auf die Waljagd eingeklagt und gewonnen.« Er warf mir einen eindringlichen Blick zu. »Du isst doch auch Fleisch, oder?«

      Ich drehte und wendete den hölzernen Orca verlegen in meinen Händen. »Ja, schon, aber …«

      »Kein aber«, unterbrach mich Javid ungeduldig. Sein Blick verdunkelte sich. »Es ist das Fleisch eines Tieres, Copper. Wie Huhn, Schwein oder Ochse.«

      Ich brauchte einen Moment, um das, was er gesagt hatte, zu überdenken. Es überzeugte mich nicht, denn ich fand, dass man einen Wal nicht mit einem Huhn gleichsetzen konnte. Aber ich spürte, dass Javid mich testete, und wollte nicht schon am ersten Tag durchfallen.

      Vielleicht lag unsere unterschiedliche Auffassung wirklich an der einfachen Tatsache, dass ich keine Makah war. In diesem Augenblick fragte ich mich, ob es für Javid Ahdunko von Bedeutung war, dass ich eine andere Hautfarbe hatte als er.

      »Wir Makah verehren den Wal«, erklärte er mir. »Und bevor wir ihn jagen, müssen wir uns seiner würdig erweisen.« Seltsam resigniert schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, es muss noch eine Menge passieren, bevor wir wieder stolz auf uns sein können. Ein paar von uns versuchen schlauer zu sein als unsere Vorfahren, aber wir dürfen nicht vergessen, woher unsere Stärke kommt. Manchmal ist es wirklich nicht leicht, Indianer zu sein.«

      Ich hob den Blick, um ihn anzusehen. »Wie meinst du das? Kannst du mir das genauer erklären?« Ich hätte ihm stundenlang Fragen stellen und zuhören können.

      Er schüttelte den Kopf und setzte sich zurück auf seinen Stuhl. »Ich weiß nicht, ob du es verstehen würdest, Copper. Ich verstehe es ja manchmal selbst nicht.«

      Javid hatte die Hände auf seine Oberschenkel gestützt und ich konnte die langen Muskelstränge und die blauen Adern unter seiner mattbraunen Haut sehen. Er hatte schöne Hände, lange, kräftige Finger mit hellen Fingernägeln. Ich ertappte mich bei der Frage, wie es wäre, von diesen Händen berührt zu werden, überall. Bei diesem Gedanken durchrieselte mich Wärme. Vermutlich wurde ich auch rot, aber er konnte ja nicht wissen, warum.

      Javids lange Haare lagen jetzt offen auf seinem Rücken, wo sie sich wellten, weil er sie den ganzen Tag zu einem Zopf geflochten getragen hatte. Ich hätte sie gerne berührt, um zu wissen, wie sie sich anfühlten.

      Schon begann die Stille unangenehm zu werden, als er unvermittelt fragte: »Wie alt bist du eigentlich, Copper?«

      »Fünfzehn«, antwortete ich. »Und du?«

      »Was glaubst du denn?« Er grinste breit.

      Ich hielt wenig von solchen dämlichen Ratespielen, aber ich war Gast in Javids Zimmer und wollte ihn nicht verärgern. Achselzuckend sagte ich: »Achtzehn vielleicht.«

      »Sehe ich wirklich schon so alt aus?« Bekümmert sah er mich an. Ich verdrehte die Augen und Javid sagte: »Ich bin sechzehn. Aber manchmal komme ich mir vor, als wäre ich schon 40.«

      Ich dachte, dass er viel reifer wirkte als die sechzehnjährigen Jungs an meiner Schule, und fragte mich, ob das was mit dem Indianer-Sein zu tun hatte.

      »Woher willst du wissen, wie es ist, 40 zu sein?«

      »Ich sehe meine Mutter.«

      »Deine Mutter ist eine tolle Frau«, sagte ich. »Ich bewundere, wie sie das alles schafft.«

      »Sie ist in Ordnung«, bestätigte er trocken. »Trotzdem, manchmal nervt sie.«

      »Das tun alle Mütter«, erwiderte ich und wunderte mich über meine eigenen Worte. Hatte ich das wirklich gesagt?

      »Deine auch?« Die Frage kam überraschend und ich wich Javids Blick aus. Verstört nickte ich. Was gäbe ich darum, mich hin und wieder über meine Mutter ärgern zu können. Sehnsucht und Trauer überfielen mich so plötzlich, wie ein Raubvogel hinabstürzt und seiner nichts ahnenden Beute die Krallen ins Fleisch bohrt. Es tat weh und trieb mir Tränen in die Augen.

      »Hast du was?«, fragte Javid verunsichert. »Hab ich was Falsches gesagt?«

      Ich schüttelte schnell den Kopf und kämpfte die Tränen so weit zurück, dass ich sie hinunterschlucken konnte. »Nein, hast du nicht.« Meine Stimme wurde brüchig. Ich wollte mit ihm jetzt nicht über meine Mutter reden, weil ich dann ganz sicher geweint hätte. Und wer wollte sich schon mit einer Heulsuse abgeben?

      Javids Mutter klopfte und rief ihn zum Abendessen.

      »Hast du Hunger?«, fragte er mich. »Du hast heute bestimmt noch nichts weiter gegessen als diese komischen Nudeln im Supermarkt.«

      Und was ich für Hunger hatte! Der Nudelauflauf war zwar sättigend gewesen, hatte aber nicht lange angehalten. »Na komm …«Er griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. »Meine Mutter hat bestimmt nichts dagegen, wenn du mit uns isst.«

      Javids Hand war trocken und warm. Wie benommen folgte ich ihm in die Küche seiner Mutter, die sich dem kleinen Aufenthaltsraum hinter dem Büro anschloss. Ein großer Gasherd stand darin mit einer glänzenden Abzugshaube und ein überdimensionaler Kühlschrank nahm ein Viertel des Raumes ein. Blank gescheuerte Töpfe und Pfannen hingen über der Arbeitsfläche neben dem Herd. Von einem Balken an der Decke baumelten Bündel getrockneter Kräuter.

      Freda lächelte, als sie mich sah. »Guten Abend, Sofie«, sagte sie. »Schön, dass du heute Abend unser Gast bist.«

      Ich staunte über das wunderbare Gefühl von Vertrautheit, das in ihrem Lächeln lag.

      In der Küche roch es köstlich nach gebratenem Fisch und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich richtigen Appetit, als wären meine Sinne zu neuem Leben erwacht. Javid holte noch einen dritten Teller aus dem Küchenschrank und Besteck für mich aus der Schublade. »Setz dich!«, sagte er und wies auf den freien Stuhl am Tisch. »Heute gibt es Heilbutt. Onkel Henry hat ihn gefangen.«

      »Wie hat dir die Bootstour gefallen?« Freda legte mir ein großes Stück goldbraun gebratenen Heilbutt auf den Teller.

      »Es war wirklich toll«, sagte ich begeistert. »Ich habe vorher noch nie Wale gesehen, ich meine: so richtig. Sie sind wunderschön und sehr freundlich.«

      Freda nickte lächelnd. »Ja, Schwertwale sind außergewöhnliche Tiere. Hoffentlich bleiben sie noch eine Weile. Es heißt, Orcas vor der Küste zu haben sei ein gutes Zeichen. Dann ist das Wasser sauber und es gibt genügend Fisch.«

      Mit der Gabel in der Hand wartete ich, bis die beiden zu essen anfingen, dann aß auch ich. Der Fisch zerfiel auf meiner Zunge wie Butter. Ich schluckte herunter was ich im Mund hatte und fragte: »Werden Makah-Fischer versuchen die Wale zu töten, wenn sie nicht weiterziehen?«

      »Nein, keine Angst«, erwiderte Freda. »Für Orcas haben sie überhaupt keine Fangerlaubnis. Sie dürfen sie nicht töten und so einfach ist das auch gar nicht. Du hast sie doch selbst gesehen. Wenn man sie in Ruhe lässt, sind sie freundlich und verspielt. Aber es sind Raubtiere und sie können auch böse werden. Orcas lassen sich nicht so einfach vertreiben. Wir Makah sind die Bewohner vom Kap, aber die Wale sind die Herren der Meere. Ich habe noch nie Walfleisch gegessen und werde auch in Zukunft nicht damit anfangen.«

      Ihre langsame, warme Redeweise hatte einen scharfen Beiklang bekommen. Freda warf ihrem Sohn einen bedeutungsschweren Blick zu und Javid starrte missmutig auf seinen Teller hinab. Da war etwas zwischen den beiden, über das sie sich nicht einig werden konnten. Keine Ahnung, was es war. Mein Instinkt allerdings sagte mir, dass es etwas mit Javids Vater zu tun hatte, der nicht mehr da war, genauso, wie meine Mutter nicht mehr da war.

      Irgendwann würde ich Javid vielleicht danach fragen.


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