Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde

Der Gesang der Orcas - Antje Babendererde


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mir nicht, dass du Muscheln gegessen hast?« Papa runzelte verwundert die Stirn.

      Immerhin, er wusste also doch etwas über mich. »Ja«, sagte ich, »stell dir vor.« Ich schnappte mir einen Apfel und ein, zwei Müsliriegel, wünschte ihm viel Spaß und verschwand in meinem Zimmer.

      Ich war froh endlich die Regenjacke und meine nasse Hose loszuwerden, die beide nach Fisch rochen. Diesen Fischgeruch würde ich vermutlich so lange nicht loswerden, wie wir hier in Neah Bay waren. Fischindianer, hatte mein Vater die Makah genannt. Auch Javid war ein Fischindianer.

      Ich duschte ausgiebig und zog frische Sachen an: meine weiten graugrünen Hosen mit den vielen Reißverschlüssen und Taschen und das einzige enge T-Shirt, das ich besaß. Eswar schwarz und langärmlig und ich hatte es noch nicht oft getragen.

      Mit kritischem Blick befragte ich den großen Spiegel in meinem Zimmer. Er war dunkel angelaufen und hatte schwarze Flecken und Risse dort, wo die Silberbeschichtung abgeblättert war. Aber das Spiegelbild schmeichelte mir. Während ich mein Haar bürstete, dachte ich daran, was Javid mir von der Kupferfrau erzählt hatte. Ich fragte mich, ob er an solche Geschichten glaubte. Er machte auf mich einen ziemlich pfiffigen Eindruck und möglicherweise kannte er ja viele derartige Geschichten – jeweils eine passend zu jeder Gelegenheit. Aber vielleicht ließen sich Makah-Mädchen von Makah-Geschichten auch nicht so schnell beeindrucken, wie ich es heute getan hatte.

      Natürlich war ich neugierig auf Javids Zimmer und hätte gern gewusst, ob er noch an seine Einladung dachte. Nachdem Papa losgefahren war, ging ich nach unten, nahm all meinen Mut zusammen und klopfte.

      Komm rein!«, hörte ich ihn sagen. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schob mich hinein. Javids Reich war eines der größeren Motelzimmer mit zwei Fenstern auf der Türseite. Die Wände waren mit hellen Holzbrettern verkleidet, die viele dunkle Astansätze hatten. Wahrscheinlich war das Holz deshalb preiswerter gewesen. Überall im Raum hingen bemalte Masken mit Furcht erregenden Gesichtern und irgendwelche Fetische aus Federn, Muscheln und bemalten Holzstücken.

      Ein Holzregal, das die ganze linke Wand einnahm, war voll gestopft mit Büchern und diversen Gegenständen, die alle sehr alt zu sein schienen: Da war ein mit Schnitzereien verziertes Zedernholzkästchen, eine Rassel aus einem Schildkrötenpanzer und kleine Schalen aus Holz, die verschiedene Tierfiguren darstellten.

      Eine verblichene Landkarte war mit Reißzwecken an die hintere Wand gepinnt. Auf derselben Seite stand Javids Bett, über dem er eine gewebte Decke mit langen Fransen angebracht hatte. Die eingearbeiteten Muster erinnerten mich an Augen, aber als ich länger hinsah, entdeckte ich einen Orca.

      »Die ist mächtig alt«, sagte er. »Eine echte Chilkatdecke aus Hundehaaren. Ich habe sie von meiner Großmutter bekommen.«

      Tatsächlich kam ich mir vor wie in einem Museum, wäre da nicht Javid gewesen, der an einem rohen Holztisch unter den beiden Fenstern saß und mit seltsam geformten Werkzeugen schnitzte. Er lächelte mich an, etwas zu siegesgewiss, wie ich fand, unterbrach seine Arbeit aber nicht. Span für Span flog von dem Holz unter seinen Händen.

      Ich trat näher und fragte: »Was soll das werden?«

      Javid hielt mir seine Arbeit entgegen: »Wenn du es nicht erkennst, Copper, bin ich ein schlechter Handwerker.«

      Beim genaueren Hinschauen erkannte ich die senkrechte Rückenfinne und die großen, spitzen Zähne im Maul des dargestellten Tieres. »Es ist ein Orca«, sagte ich. »Und du bist kein Handwerker, sondern ein Künstler.« Meine Bewunderung für ihn wuchs.

      Die Hände auf dem Rücken durchschritt ich Javids Zimmer und betrachtete all die interessanten Gegenstände, die es beherbergte. Ein harziger Duft nach frischem Holz durchzog den Raum, was wohl von dem Berg Spänen kam, der sich zu Javids Füßen anhäufte.

      »Ihr hattet wirklich Glück«, sagte er. »Es kommt nämlich gar nicht so häufig vor, dass sich Orcas vor unserer Küste aufhalten. Meist bleiben sie weiter oben im Norden, weil sie da mehr zu fressen finden. Aber diese kleine Walschule ist jetzt schon seit fast fünf Wochen da.«

      Ich drehte mich zu ihm um. »Fressen die nicht den Fischern die Fische weg?«

      »Nicht wirklich.« Javid schüttelte energisch den Kopf. »Dass die Fische bei uns weniger werden, hat ganz andere Gründe und die Wale haben genauso wie die Fischer darunter zu leiden. Mein Onkel Henry ist auch Fischer, aber er hatte Glück. Es ist nicht so einfach, eine Lizenz für Walbeobachtungstouren zu bekommen. Nur weil sein Boot neu ist und er sich strikt an die Regeln hält, hat er eine Lizenz bekommen. Deshalb kann er sich im Sommer ein wenig dazuverdienen, wenn Touristen in Neah Bay sind.«

      »Kommen denn überhaupt Touristen nach Neah Bay?«, fragte ich ihn.

      »Bist du kein Tourist?« Er sah mich mit hochgezogenen Brauen fragend an.

      Ich zuckte die Achseln. »Mein Vater soll für einen Bildband Aufnahmen von der Halbinsel und von eurem Stammesfest machen, deshalb sind wir hier. Er muss arbeiten, also ist er kein Tourist.«

      Javid legte den Kopf schief und hielt den geschnitzten Orca ins Licht. Mit zusammengekniffenen Lidern kontrollierte er seine bisherige Arbeit. »Jeder, der nach Neah Bay kommt«, sagte er, »kommt wegen irgendetwas. Die meisten wollen das Museum sehen oder einen Abstecher ans Kap machen. Das genügt ihnen dann auch schon. Fotografen wie dein Vater kommen viele. Sie machen Fotos am Cape Flattery oder am Shi Shi Beach. Sie fotografieren Wale, Vögel und Sonnenuntergänge. Aus den Bildern werden dann Kalender oder Postkarten gemacht, manchmal auch Bücher. Uns ist es egal, warum jemand kommt, wenn er sich nur an die Regeln hält und uns in Ruhe lässt. Vor drei Jahren, als unsere Männer zum ersten Mal nach langer Zeit wieder einen Wal jagten, war hier in Neah Bay die Hölle los. Keiner von uns Makah hat das vergessen.«

      Ich setzte mich auf Javids Bett, weil er auf dem einzigen Stuhl saß,den es in seinem Zimmer gab. »Mein Vater hat mir davon erzählt«, sagte ich. »Die Tierschützer haben euch das Leben schwer gemacht. Aber irgendwie kann ich sie verstehen. Ich finde es auch nicht gut, Wale zu töten. Es macht keinen Sinn.«

      Er schwieg einen Moment.

      »Für dich macht es keinen Sinn, weil du keine Makah bist«, antwortete Javid ernst. »So einfach ist das.«

      »Ist das wirklich so einfach?« Meine nachdrückliche Frage erstaunte ihn offensichtlich, aber ich redete weiter. »Du warst doch heute mit da draußen und ich habe gesehen, dass du sie magst. Du hast ihnen sogar Namen gegeben. Wie kann man jemanden töten, dem man einen Namen gegeben hat?«

      Javid legte das Schnitzmesser aus der Hand und kam auf mich zu. Er reichte mir seine Holzplastik mit den Worten: »Was wir heute gesehen haben, Copper, waren Orcas. Killerwale, die Wölfe der Meere.«

      »Wölfe der Meere?« Ich runzelte die Stirn, weil ich nicht wusste, was er mir damit sagen wollte.

      »Ja. Unsere Vorfahren erzählten sich, dass die Killerwale manchmal an Land kamen und sich in Wölfe verwandelten. Der Ruf eines Wolfs hört sich an wie der Widerhall eines Orcarufes. Deshalb dachten die alten Makah, es wäre dasselbe Tier mit einem Körper für das Land und einem anderen für das Meer. Man sagt, einige dieser Wesen waren den Menschen freundlich gesinnt, andere weniger. Obwohl ihr Fleisch gut schmecken soll, haben unsere Vorfahren nur ganz selten Orcas gejagt. Es war viel zu gefährlich, denn diese Tiere sind schnell und klug.« Javid verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir Makah haben Grauwale gejagt, Copper. Mit dem Kanu und der Harpune, fünf oder sechs Tiere im Jahr. Nicht wie die Männer auf ihren großen Schiffen, die Wale in Massen abschlachteten, bis es kaum noch welche gab.« Er zeigte auf die Karte an der Wand: »Komm, ich zeige dir mal was.«

      Ich folgte ihm zur Karte. Darauf war der nördliche Teil der Olympic-Halbinsel zu sehen. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr Javid eine dicke rote Linie nach, die Neah Bay und ein riesiges Gebiet drum herum kennzeichnete. »Das alles gehörte mal uns, den Makah. Aber 1855 schlossen wir einen Vertrag


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