Führen als Beruf. Boris Kaehler
Festlegungen. Vielen sind sie suspekt, und tatsächlich gibt es ja unendlich viele Beispiele dysfunktionaler und sinnloser Regelungen. Es gibt aber nichts Dümmeres, als betriebliche Regeln per se in Frage zu stellen, denn sie konstituieren den Betrieb überhaupt erst. Die Forderung nach ihrer Abschaffung wäre schon deshalb absurd, weil sie selbst eine Regel darstellte. Auch der Beruf des Führens lässt sich über Regelhaftigkeiten und Wirkprinzipien beschreiben. Organisationen geben ihren Führungskräften üblicherweise normative Vorgaben in Form von betrieblichen Führungsmodellen oder -grundsätzen an die Hand. Das ist auch wichtig, denn anders ist eine flächendeckend hohe Führungsqualität nicht zu erreichen. Der Ansatz der Komplementären Führung wurde gezielt als Strukturierungshilfe dafür entwickelt. Für Sie selbst als Anwenderin oder Anwender ist es aber letztlich egal, ob Sie Führungsregeln den Statuten Ihres Arbeitgebers oder einem Managementratgeber entnehmen, Hauptsache es sind die richtigen. Ohne Standards – ein anderes Wort für Regeln – geht es jedenfalls nicht, denn ein ständiges Wechseln von Führungsidee und -verhalten wäre für uns selbst ebenso unbefriedigend wie für unsere Mitmenschen im Betrieb. Es ist auch gar nicht nötig, denn natürlich lassen sich allgemeingültige Grundregeln für gute und wirksame Führung aufzeigen, die dauerhaft und situationsübergreifend gültig sind. „Mut zum Normativen“ wurde dies treffend genannt6, und aus dem Komplementären Führungsmodell lassen sich in der Tat normative Empfehlungen dieser Art ableiten.
Viele Führungsregeln lassen sich generalisieren
…
Freilich lässt sich gute Führung nicht vollständig standardisieren. Dauerhaft festzulegen, wie genau Menschen zu sein und wie ihre Interaktionen abzulaufen haben, würde bedeuten, jedwede situative Flexibilität einzubüßen und sich in Widerspruch zur wechselvollen Realität zu setzen. Aus diesem Grunde trifft das Komplementäre Führungsmodell keine Aussagen zur genauen Aufgabenverteilung unter den Führungsakteuren, zu Situationsvariablen im Stil herkömmlicher Kontingenztheorien, zu persönlichen und kommunikativen Anforderungen jenseits eines Mindeststandards und zu Anwendungskonflikten oder Dilemmata. All dies liegt im Bereich der Anwendung, und diese lässt sich nicht standardisieren. Sehr zu recht warnte Management-Vordenker Peter F. Drucker davor, das Verhalten und die Einstellung von Führungskräften in den Mittelpunkt zu rücken; sie begännen dann nämlich, sich gegenüber ihren Mitarbeitern übermäßig zu kontrollieren und so krampfhaft zu versuchen, sich immer »richtig« zu verhalten, dass jede lockere Beziehung zu ihnen unmöglich werde: „Oh je, der Alte hat ein Buch gelesen. Früher wussten wir, was er von uns wollte. Jetzt müssen wir raten.“7 Wirksame Führungskräfte – auch dies wusste schon Drucker – sind und agieren sehr unterschiedlich. Ein jeder muss den für sich passenden persönlichen Kommunikationsstil und die situativ richtige T onlage treffen. Das lässt sich reflektieren, üben und über die Jahre erlernen. Man kann auch – wie es in diesem Buch geschieht – exemplarische Empfehlungen in Form von Verhaltensbausteinen anbieten. Generalisieren aber lassen sie sich nicht, immer ist die einzigartige Situation der Maßstab. Es käme schließlich auch niemand auf die Idee, einem Verkäufer den Wortlaut seines Akquisegesprächs oder einem Lehrer vier situationsabhängige Unterrichtsstile vorzuschreiben.
…, ihre situative und individuelle Umsetzung nicht.
Von der Komplexität des Kaffeekochens
Ich halte ständig Vorträge, berate Unternehmen und schreibe Texte sowie Weiterbildungskonzepte. Die Resonanz darauf fällt durchweg positiv aus, das Modell der Komplementären Führung ist offenbar für die allermeisten Führungskräfte nachvollziehbar und hilfreich. Kritische Rückmeldungen betreffen eigentlich immer nur seine Komplexität. Ich habe noch niemanden kennengelernt, der die sieben Elemente und ihre Anwendung selbst nicht verstanden hätte, aber schon sehr viele, die dennoch steif und fest behaupteten, sie seien im Betrieb nicht vermittelbar. Und in der Tat sind wir aus Theorie und Praxis andere, mundgerechtere Führungskonzepte gewohnt. Am liebsten soll alles schön simpel sein und ohne Vorwissen für jedermann verständlich. Gewünscht wird die ultimative Formel für Führungserfolg in fünf einfachen Schritten oder nach einem unschlagbaren GrundprinzipV.
Ich kontere dann immer mit der Frage, in wie vielen Aspekten einem Unkundigen Kaffeekochen zu beschreiben wäre, so, dass er es versteht und mit Aussicht auf Erfolg umsetzen kann. Wasser, Strom, Kaffeepulver mit und ohne Koffein unterschiedlichen Geschmacks, Milch und Sahne, Zucker oder Süßstoff, unterschiedliche Maschinen, Knöpfe, Mengen und Befüllungsgrade, Stromzufuhr, Dauer, Geschirr, und Vorsicht, Verbrühungsgefahr… Sie verstehen, worauf ich hinauswill: Führung ist diffiziler als Kaffeekochen. Als Phänomen und Tätigkeit ist sie erheblich vielschichtiger, als es gemeinhin dargestellt wird. Kein Mensch käme auf die Idee, den Beruf des Piloten, Kochs, Wertpapieranalysten oder Gärtners in einem Vierfelderschema oder mit fünf Leitwerten zu beschreiben. Brauchbare Theoriemodelle können sich also unmöglich auf einige wenige Aspekte beschränken, sondern müssen zumindest die wesentlichen handlungsrelevanten Elemente aufgreifen und integrieren. Führungskräften darf und muss man diese reale Komplexität zumuten. So furchtbar schwierig ist das Ganze nun auch nicht. Wer sich einmal ein grundlegendes Verständnis erarbeitet hat, setzt die verinnerlichten Prinzipien im Alltag ganz selbstverständlich um und braucht sich nicht in verkopfter Weise ständig neu damit zu beschäftigen. Kaffeekochen können Sie schon, Führen lernen Sie auch. Die eigentliche Herausforderung besteht hier wie dort sowieso nicht im theoretischen Wissen, sondern in dessen praktischer Anwendung.
Echtes Verständnis erfordert vertiefte Auseinandersetzung.
Struktur des Buches
Dieses Buch beschreibt den Beruf der Führungskraft mit dem expliziten Anspruch, ein alltagstaugliches Verständnis aller wesentlichen Aspekte herauszuarbeiten und mit konkreten Tipps zu unterlegen.
In Teil I zum „Führungsverständnis“ umreiße ich das Phänomen Führung, warne vor einigen Irrlehren und stelle meinen Ansatz der Komplementären Führung vor. Sie bekommen einen Überblick darüber, was die Tätigkeit ausmacht. Das sind zunächst einmal die Funktionen und Aufgaben, die es zu erfüllen gilt. Auf die Gestaltung von Führungsstellen sowie die nötigen Führungsressourcen wird ebenso eingegangen wie auf die ambivalente Rolle formalisierter Personalinstrumente. Auch Unschärfen und persönliche Dimensionen werden vertieft, z. B. die Fragen, was Führungskräfte können müssen und wie man Führungskraft wird bzw. bleibt. Danach haben Sie ein präzises Verständnis von Ihrer eigenen Rolle als Führungskraft und wissen, was viele daran reizt.
In Teil II über den „Führungsalltag“ wird das Tagesgeschäft des Berufs beschrieben. Vorgestellt wird das Konzept der Führungsroutinen, im Sinne konkreter Aktivitäten, ohne die sich die schönen Ideen aus Teil I gar nicht umsetzen lassen. Im Fokus stehen vor allem die individuelle Arbeitsbesprechung und gemeinsame Teamsitzung, bei denen es einiges zu beachten gibt. Auch einige Aufgabenfelder der Führung werden vertieft. Dies sind die Steuerung der Arbeitsaufgaben, die Abstimmungskommunikation im Team sowie die Rekrutierung und Entwicklung von Mitarbeitern. Führungsalltag eben, und nach diesen Ausführungen wissen Sie, wie Sie ihn angehen. Um es vorwegzunehmen: Es gibt viel zu tun, und um sich nicht in die Gruppe derer einzureihen, die Kernaspekte ihres Jobs vernachlässigen, sollen Sie wissen, was genau. Auch stecken im scheinbar Alltäglichen nicht nur manche Herausforderungen, sondern auch viele Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Fehlsteuerungen schon im Ansatz zu vermeiden.
Teil III thematisiert „Führungsprobleme“. Damit sind Themenfelder gemeint, die häufig unter negativen Vorzeichen diskutiert werden. Erklärt wird zunächst das vielschichtige Phänomen der Arbeitsmotivation und wie mit Motivationsmängeln umzugehen ist. Die bei jedweder Zusammenarbeit unausweichlichen Beziehungsfragen und Konflikte werden ebenso gewürdigt wie Gesundheit, Balance, Flow und Veränderung als Aspekte von Fürsorge. Und natürlich geht es auch um Trennung – von einzelnen Problemmitarbeitern oder im Rahmen eines kollektiven Personalabbaus. Es sind dies Dinge, die von Anfängern und Anfängerinnen oft als bedrohlich empfunden werden, die erfahrene Führungsprofis aber souverän und routinemäßig bewältigen können sollten. Nach der Lektüre dieses Teils werden Sie es sich zutrauen.
Teil IV heißt „Führungsstrategie“ und thematisiert all das, was an langfristigen Normen zu gestalten ist. Auf dem Feld des konstitutiven Managements geht es