Führen als Beruf. Boris Kaehler
partizipativ praktiziert, was nichts anderes bedeutet, als dass neben der Führungskraft auch die Mitarbeiter mitentscheiden und in einem gewissen Maße Einfluss nehmen. Totale Fremdsteuerung ist schlechterdings unrealistisch, sodass Management als Konstrukt überhaupt nur Sinn ergibt, wenn dieser Steuerungseinfluss jedenfalls prinzipiell auch als Selbststeuerung ausgeübt werden kann. Führungseinfluss auf Organisationseinheiten üben zudem in fast allen größeren Organisationen auch Vertreter von Zentralabteilungen aus, z. B. Produkt- oder Personalspezialisten. Weitere Akteure kommen durch die sog. laterale Führung ins Spiel, also den Managementeinfluss Gleichgestellter. Die Führungskraft ist also Kapitän eines Bootes, bestimmt dessen Kurs und Betrieb aber nie ganz allein – das wäre weder möglich noch überhaupt praktikabel.
Führung ist immer ein kollektives Geschehen.
Führung einer Organisationseinheit
In aller Regel wird einer Führungskraft nicht ausschließlich Personal anvertraut, sondern die Verantwortung für eine ganze Einheit einschließlich ihrer Belegschaft. Dies kann eine Gesamtorganisation sein, eine Abteilung, ein Team oder (als kleinste Einheit) eine Stelle. In klassisch organisierten Unternehmen und Behörden werden diese Organisationseinheiten über Berichtslinien verbunden und einander auf diese Weise über- bzw. untergeordnet. Entscheidend dabei ist, dass die Einheiten ineinander verschachtelt werden, wie die berühmten Matrjoschka-Puppen, nur dass jede Figur mehrere kleinere Figuren statt einer einzigen enthält (Abbildung 1). Das mag sich selbstverständlich anhören, ist aber kein Standardwissen und wird in Lehrbüchern ebenso ignoriert wie in der Praxis. Zwar wird in Literatur und Praxis gern nach „Unternehmen führen“, „Teams führen“, „Mitarbeiter führen“ und „sich selbst führen“ unterschieden. Hierbei werden mit den vier Ebenen aber regelmäßig unterschiedliche Managementinhalte verbunden, was konzeptionell und praktisch in die Irre führt.
Richtig verstanden bedeutet das Konzept, dass das Führen einer Organisationseinheit immer auch das Führen aller Untereinheiten beinhaltet. Alles, was nur auf der übergeordneten Ebene geschieht, muss scheitern, wenn es nicht auch in alle untergeordneten Einheiten heruntergebrochen bzw. aus diesen heraus hochaggregiert wird. Themen wie Governance oder Kultur lassen sich nicht sinnvoll auf die Gesamtentität beschränken, wie es allzu häufig geschieht11. Der Vierklang „Unternehmen führen – Teams führen – Mitarbeiterstellen führen – die eigene Stelle führen“ ergibt also zumindest insofern Sinn, als er aufzeigt, welche Ebenen gleichzeitig zu managen sind.
Dieses System der verschachtelten Organisationseinheiten nennt man übrigens Hierarchie, und sie ist in größeren Organisationen unverzichtbar. Zwar predigen vermeintliche Experten seit Jahrzehnten ihre Abschaffung, meinen damit aber fast immer etwas völlig anderes, nämlich Statusgehabe und fehlende Mitsprache. Diejenigen, die wirklich die Hierarchie als solches abschaffen wollen, sagen selten klar, dass dieses die Gleichordnung aller Stellen bedeutet und andere, viel aufwendigere Koordinationsformen erfordert. Auch geht ihr Hauptvorwurf, die Hierarchie sei starr, innovationsfeindlich und vernetzungshinderlich, völlig fehl. Sie ist schließlich nichts weiter als ein Merkmal der sog. Aufbauorganisation und als solches nur eine sehr begrenzte Perspektive auf die Organisation insgesamt. Deren Flexibilisierung und Relativierung erfolgt ganz zwangsläufig durch ergänzende Organisationsmerkmale wie die Prozess- und Projektorganisation, persönliche und institutionelle Netzwerke, Festlegungen zur Entscheidungsverteilung, informelle Organisationsroutinen und organisationskulturelle Muster. Und diese sind nicht zu verwechseln mit den operativen Interaktionen der Organisationsmitglieder, die den eigentlichen Zweck und die Daseinsberechtigung des Unternehmens oder der Behörde bilden. Die Hierarchie steht als Konstrukt überhaupt nicht in Konkurrenz zu diesen Aspekten, sondern bietet ihnen den Rahmen. Die Suppe schmeckt aber nicht besser, wenn man sie ohne Teller serviert.
Die klassische Hierarchie bleibt ein sinnvolles Organisationsprinzip.
Was ist Personalführung?
Führung i.S.v. Unternehmensführung (Management) hatten wir eingangs als zielgerichtete Einflussnahme auf den Geschäftsbetrieb einer Organisationseinheit charakterisiert. Personalführung wird in Lehrbüchern und wissenschaftlichen Artikeln ganz ähnlich definiert: Mitarbeiterführung (engl. „leadership“ oder „people management“) ist zielbezogene Einflussnahme auf Menschen. So jedenfalls lautet der Kern fast aller Definitionen. Um diesen Kern werden dann je nach Quelle höchst unterschiedliche Aspekte herumgebaut, sodass vielfältige Varianten im Umlauf sind. Das wissenschaftliche Standardwerk „Führen und führen lassen“ listet 43 verschiedene Begriffsfassungen auf12. Unsere folgende Definition13 liegt ziemlich im Mainstream, kaum ein Experte dürfte widersprechen: Führung i. S. v. Personalführung ist ein von multiplen organisationalen Akteuren ausgeübter Steuerungseinfluss auf Menschen in einer Organisation und ihren Einheiten zum Zweck der Erreichung der Ziele der Einheit durch Erzeugung von Arbeitsleistungen und Erfüllung sonstiger Anforderungen. Diese nüchterne Zielorientierung mag manchen befremden, immerhin haben wir es hier mit unseren Mitmenschen zu tun. In der Tat ist die menschliche Perspektive eine berechtigte und wichtige, wir kommen in Kapitel 3 im Zusammenhang mit den ethischen Aspekten der Führung noch darauf zurück. Personalführung ist aber nun einmal von Nutzenerwägungen geprägh
Personalführung ist eine zielgerichtete Einflussnahme auf Mitarbeitende.
Seit etwa hundert Jahren macht man sich Gedanken über spezifische Konzepte organisationaler Führung. Schon Taylors „Scientific Management“ (1911) sowie Webers Ausführungen über Bürokratie und Charisma (1922) lassen sich so verstehen. Spätestens seit Roetlisberger (1939) und Lewin (1939) werden solche Ansätze auch empirisch untersucht14. Die Beschäftigung mit Führung als Einflussphänomen ist aber natürlich viel älter und war sicher schon Thema im alten Ägypten und antiken Griechenland, wenn nicht gar in den Höhlen der ersten Menschen. In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Modelle entstanden, die alle zum Ziel haben, das Führen von Mitarbeitern in Organisationen zu beschreiben und zu optimieren. Ein detaillierter Überblick würde hier den Rahmen sprengen, Sie finden ihn anderswo15. Meine Erkenntnis bei der Sichtung aller verfügbaren Ansätze lässt sich so zusammenfassen, dass etliche Modelle interessante Ansatzpunkte bieten. Kein einziges aber beschreibt Führung auch nur ansatzweise so, dass Organisationen oder Führungskräfte daraus ein umfassendes und wirklich alltagstaugliches Führungsverständnis ableiten könnten. Aus diesem Grunde habe ich das Theoriemodell der Komplementären Führung entwickelt, das brauchbare Aspekte diverser anderer Ansätze aufgreift und mit weiteren Elementen zu einem integrativen Gesamtmodell neuer Art verknüpft.
Personal management als Medium der Unternehmensführung
Führungskräfte betreiben also sowohl Unternehmens- als auch Personalführung. Wie aber hängt das eine mit dem anderen zusammen? Einer erstaunlich populären und wohl zu Unrecht Mary Parker Follett zugeschriebenen Definition zufolge ist Management „the art of getting things done through people“ – also die Kunst, Dinge durch Menschen zu erledigen. Dies aber wäre nun höchst erstaunlich, denn es würde Management gleich Personalmanagement setzen. Das überzeugt nun wirklich nicht. Wenn aber Personalführung doch nur eine Teilmenge von Management ist, was bitte ist die Restmenge? Diese Frage wird in der Literatur nirgends sinnvoll beantwortet, und sie ist auch viel vertrackter, als sie auf den ersten Blick aussieht. Personaler sprechen traditionell von „Human Resources“VII. Personal ist aber keine gewöhnliche Ressource, sondern – wie Abbildung 2 verdeutlicht – ein Medium, das alle anderen betrieblichen Ressourcen und Funktionen steuert. Wenn ich es vortrage, erschließt sich dieses Argument manchen sofort, anderen hingegen gar nicht. „Finanzmittel werden ja auch überall gebraucht“, heißt es dann. Geld schießt aber, wie wir wissen, keine Tore16, und es erbringt auch keine Arbeitsleistungen in allen Bereichen des Geschäftsbetriebs. Das tun nur Menschen, und diesen Aspekt bringt „the art of getting things done through people“ immerhin gut zum Ausdruck. Aus diesem Grunde wird Personalmanagement in den meisten BWL-Lehrbüchern – anders als Produktion, Marketing, Finanzierung etc. – als Teil der Unternehmensführung auf geführt. Personalführung ist eben kein Teil des Geschäftsbetriebs, sondern Teil der Steuerungsfunktion (Abbildung 2).
Personal ist das Medium der operativen Betriebssteuerung.
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