Führen als Beruf. Boris Kaehler
„Management by Objectives and Self-control“ vor und bezeichnete sie als Managementphilosophie der Freiheit29. In den 1960/70er Jahren löste das sog. „Harzburger Modell“30 in der deutschen Wirtschaft eine Revolution von oben aus. Das damals verbreitete autoritär-patriarchalische Führungsverhalten sollte durch ein betrieblich verankertes System der Delegation von Entscheidungsfreiheiten abgelöst werden. Dies war großflächig erfolgreich und in hohem Maße prägend für die hiesige Führungskultur (auch wenn es mancherorts noch immer autoritärpatriarchalisch zugeht)XII. Der in praktisch allen deutschen Unternehmen genutzte Begriff „Mitarbeiter“ stammt von dort und zeigt, wie weit dieser Führungsansatz, der im Übrigen besser ist als sein Ruf, noch immer verbreitet ist. Selbstführung ist also kein neues, sondern ein hoch etabliertes Konzept.
Wenn Mitarbeiter (da ist das Wort wieder) sich weitgehend selbst führen, hat dies viele Vorteile. Die meisten Menschen besitzen eine ausgeprägte Aversion gegen Fremdsteuerung und erleben Handlungsspielräume als anregend, selbstwertsteigernd und motivierend. Überlegen Sie doch einfach einmal, was Sie selbst leistungsfähiger macht: Möchten Sie gern eigenverantwortlich handeln oder auf Schritt und Tritt Anweisungen bekommen? Eben, und Ihren Mitarbeitern geht es sicher nicht anders. Unter dem Gesichtspunkt der Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit – dass Modewort „Agilität“ vermeide ich hier bewusst – ist Eigenverantwortung ebenfalls unabdingbar. Diejenigen, die den Sachverhalt, den Kunden, die Maschine etc. aus eigener Anschauung kennen, können in der Regel auch schnellere und angemessenere Entscheidungen treffen. Bei Zusammenbrechen der Kommunikationswege oder Ausfall des Chefs ist Selbstführung sogar die Voraussetzung dafür, überhaupt noch handlungsfähig zu sein. Darüber hinaus wird die Ressource Führungskraft geschont: Wer Mitarbeiter nicht rundum bemuttert, kann mehr von ihnen führen oder sich um Sachaufgaben kümmern. Jede Menge Vorteile also. Aus einer rein theoretischen Perspektive ist ein gewisses Maß an Selbstführung ohnehin unvermeidlich, weil totale Fremdsteuerung in der Realität gar nicht vorkommt. Daraus folgt: Führung ist nie alleinige Aufgabe der Führungskraft, sondern de facto immer zum Teil Selbstführung. Diesen Teil gilt es auszubauen.
Selbststeuerung ist ein superiores Führungsprinzip.
So populär die Idee der Selbstführung auch ist, so wenig hilfreich sind die Ausführungen, die man allenthalben darüber findet. Dies liegt zum einen daran, dass fast immer unklar bleibt, was überhaupt konkret darunter zu verstehen ist. Unsere obige Definition – Steuerungseinfluss zum Zwecke der Erzeugung von Arbeitsleistungen – lässt sich auch auf die Selbstführung anwenden und geht damit weiter als die meisten Quellen, ist aber natürlich auch noch nicht konkret genug. Zum anderen wird Selbstführung oft mit bedingungsloser Selbstbestimmung gleichgesetzt. Diese aber gibt es ebenso wenig wie totale Fremdsteuerung. Organisationen funktionieren arbeitsteilig, und damit geht immer auch eine gewisse Einflussnahme von außen einher. Komischerweise sagt Ihnen keiner der Texte, die Sie bei einer Literaturrecherche zum Thema finden, welche Grenzen dem Ganzen zu setzen sind und was bei versagender Selbstführung zu tun ist. Das ist aber ja genau der Knackpunkt, denn niemand von uns ist in der Lage, sich immer, in jeder Hinsicht und vollumfänglich selbst zu führen. Auch kennen wir alle Mitarbeitende mit massiven Selbstführungsdefiziten. Der Ansatz der Komplementären Führung löst diese Frage, indem Führung auf die Führungsaufgaben heruntergebrochen wird – wir kommen gleich noch darauf zurück. Selbstführung bedeutet also, möglichst viele Führungsaufgaben möglichst vollständig und möglichst oft selbst zu erfüllen. Sie hat als Führungsprinzip absolute Priorität, d. h. Mitarbeiter sind nachdrücklich angehalten, sich selbst zu führen und Führungskräfte sind nachdrücklich angehalten, Selbstführung zu ermöglichen.
Bedingungslose Selbstführung funktioniert leider nicht.
Komplementäre Akteure: Die kompensierende Funktion anderer Führungsbeteiligter
Wie aber ist mit Selbstführungsdefiziten umzugehen? Neben dem Primat der Selbstführung sieht das Modell der Komplementären Führung ergänzende komplementäre Akteure vor – u. a. daher der Name. Dies geht auf den Theorieansatz der Geteilten Führung (engl. „shared leadership“) zurück, der die eigentlich selbstverständliche Tatsache ins Bewusstsein ruft, dass Führung nicht nur Führungskräften obliegt, sondern mehrere Führende zusammenwirken31. Führung ist de facto immer ein kollektives Geschehen. Entsprechend sind auch die 24 Führungsaufgaben nicht etwa nur durch die Führungskraft oder nur durch den Mitarbeiter zu erfüllen. Vielmehr wirken an jeder Aufgabe i. d. R. mehrere Akteure mit. Abbildung 5 gibt einen Überblick über das Kernmodell der Komplementären Führung und verdeutlicht den Zusammenhang: Die beiden Führungsfunktionen der Ordnung und Unterstützung konkretisieren sich in acht Kategorien von Führungsaufgaben, an denen mehrere komplementäre Führungsakteure beteiligt sind.
Niemand führt allein.
Als Linienmanager sind Sie einer von diesen Akteuren, und wenn man die Grundidee der Geteilten Führung um den oben diskutierten Aufgabenbezug und ein kompensatorisches Mandat erweitert, konkretisiert sich die Rolle der wirksamen Führungskraft. Sie besteht darin, Defizite in der Selbstführung jedes einzelnen Mitarbeiters zu kompensieren. Dies ist sogar der wesentliche Grund dafür, dass es die Position der Führungskraft überhaupt gibt und geben muss. Nur sie kann situativ abschätzen, welche Führungsaufgaben nicht durch den Mitarbeiter erfüllt werden und geeignete Maßnahmen ergreifen. Dort, wo Selbstführung funktioniert, muss sie sich zurückhalten. Aber sie funktioniert nicht immer. Um mit Robert Greenleaf zu sprechen: „Perfekte Leute könnte jeder führen – wenn es sie gäbe“32. Es gibt sie nicht, und jemand muss das ausgleichen. Sie als Führungskraft sollen mitbekommen, welche der 24 Führungsaufgaben ein Mitarbeiter wann nicht selbst übernimmt und dann – aber nur dann – eingreifen. Manchen Führungskräften fällt die Zurückhaltung schwer, anderen die Intervention, aber der Führungsjob erfordert eben beides. Schließt ein Mitarbeiter z. B. seine Qualifikationslücken selbst und löst seine Konflikte allein, soll die Führungskraft nicht intervenieren, sondern bestenfalls bestärken. Tut er dies aber nicht, so muss sie intervenieren, und zwar mit der vollen Autorität ihrer Position. Gegen Positionsmacht wird gern polemisiert, aber aber es gibt sie und hier zeigt sich, wozu sie gut ist. Persönliche und moralische Autorität auszustrahlen ist eine schöne Sache, reicht aber leider nicht aus.
Führungskräfte kompensieren Selbstführungsdefizite.
Wie Tabelle 3 aufzeigt, hat die Führungskraft bei ihrer kompensierenden Intervention unterschiedliche Optionen. Eine davon besteht darin, die Einflussnahme zu delegieren, denn natürlich können auch Kollegen des Mitarbeiters Führungsaufgaben übernehmen. So finden z. B. sehr viel Qualifizierung und Konfliktlösung in kollegialer Runde am Arbeitsplatz statt. Dies kann, muss aber nicht zwingend auf die Führungskraft zurückgehen. Oft genug übernehmen auch Kollegen Führungsaufgaben, aus eigenem Antrieb oder weil sie vom Betreffenden selbst dazu aufgefordert werden.
Bliebe es dabei, so hätte das Theoriemodell eine fatale Schwachstelle: Auch Führungskräfte sind nicht perfekt. Den meisten rutscht immer wieder einmal ein Selbstführungsdefizit des Mitarbeiters durch. Unter dutzenden Führungskräften sind außerdem, wie jeder Personaler weiß, immer auch einige, die ganz grundsätzlich nicht willens oder in der Lage sind, ihrer kompensatorischen Rolle gerecht zu werden. Dies stellt zwar eine Missachtung ihrer eigenen Dienstpflichten dar (sofern sie entsprechend konkretisiert sind).
Es kommt aber oft genug vor, und ein sinnvolles Führungsmodell braucht also auch hier ein Korrektiv. Dieses Korrektiv bilden der Personalbetreuer und die obere Führungskraft als weitere kompensatorische Instanzen (Abbildung 6). Auch sie müssen nach denselben Prinzipien agieren, also die Selbststeuerung der Führungskraft achten, wo sie funktioniert und eingreifen, wo die Führungskraft Selbstführungsdefizite des Mitarbeiters de facto nicht schließt. Beide haben dabei ähnliche Interventionsmöglichkeiten wie die in Tabelle 3 aufgezeigten. Für Sie als Führungskraft bedeutet dies: Sie können, wenn Ihre Organisation hier ordentlich aufgestellt ist, bei Interventionen auf die Hilfe Ihres Personalbetreuers und Ihrer eigenen Führungskraft zurückgreifen. Bei Bewerberinterviews und Kündigungsgesprächen ist dies in den meisten Unternehmen sogar das normale Prozedere; es funktioniert aber bei allen anderen Führungsaufgaben ganz genauso. Auf der anderen Seite sollten Sie sich nicht wundern, wenn Ihr Personalbetreuer Sie auf Missstände aufmerksam