Führen als Beruf. Boris Kaehler
leite“23. Diese Vorstellung vom Staatsdiener entspricht dem Bild eines professionellen Dienstleisters, nicht dem eines Hausdieners.
Wer die Idee des Führens als Dienstleistung ablehnt, missversteht es i. d. R. als grenzenloses Bedienen. Darauf kann man aber natürlich kein Führungssystem aufbauen und es widerspricht auch dem üblichen Verständnis beruflicher Dienstleistung. Der typische Job eines Kellners, Lehrers, Bankkassierers oder Polizisten hat zum einen immer eine Struktur in Gestalt definierter Aufgaben oder jedenfalls Verantwortungsbereiche. Keiner von ihnen tanzt auf Verlangen Samba oder putzt jemandem die Schuhe. Darüber hinaus hat jede dieser Tätigkeiten zwei Seiten: Der Kellner bringt Kaffee, aber er kassiert auch und sorgt für Ruhe, ganz ähnlich der Banker und der Lehrer. Der Polizist kontrolliert vielleicht den Verkehr, wird einer alten Dame aber auch über die Straße helfen. Alle diese Dienstleistungsberufe sind geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen professioneller Hilfeleistung und professioneller Disziplinierung. Genau das macht sie interessant und herausfordernd.
Sie sind kein Diener, aber Dienstleister.
In eben dieser Weise hat auch die Dienstleistung Führung eine Ordnungs- und eine Unterstützungsfunktion – das erste Element des Komplementären Führungsmodells. Führungstheoretisch spiegeln sich hierin die klassischen Dualismen Mitarbeiterorientierung vs. Produktionsorientierung24, Fördern vs. Fordern sowie Einzelbedürfnis vs. Kollektivinteresse. Führen als doppelte Dienstleistung – das mag sich banal anhören, ist aber als Leitidee von durchschlagender Kraft. Wer sich als Dienstleister versteht, braucht keinesfalls jedermanns Liebling zu sein, sondern hat mitunter durchaus harte Entscheidungen zu treffen und disziplinarisch durchzugreifen. Er muss sich dabei allerdings den Aufgabenstellungen seiner Führungstätigkeit unterordnen. Mitarbeiter anzubrüllen oder bei Fehlern niederzumachen verträgt sich ebenso offensichtlich nicht mit der Idee der Dienstleistung wie die vorrangige Maximierung der eigenen Karriere-, Gehalts- oder Freizeitinteressen. Und wo alle springen müssen, nicht weil ein Problem oder Kunde drängt, sondern weil die Anliegen des Chefs prinzipiell Vorrang vor der eigentlichen Arbeit haben, stimmt ebenfalls etwas nicht. Darum empfehle ich Unternehmen, die sich an ein richtiges Führungsmodell nicht recht herantrauen, zumindest dieses eine Kernelement der Komplementären Führung – die Führungsfunktionen – in einen Führungsgrundsatz umzusetzen. Führungskräften empfehle ich, sich aus eigenem Antrieb selbst an der Idee des Führens als Dienstleistung zu orientieren und zu messen. Sie werden merken, wie dieses Leitmotiv Ihnen hilft, sich selbst zu disziplinieren und in eine konstruktive Führungsrolle zu finden.
Führung unterstützt und ordnet.
Komplementäre Führungsaufgaben: Was braucht der produktive Mensch?
Führen ist ein komplexes Geschehen mit vielen Facetten. Entsprechend kann man sehr unterschiedliche Ansatzpunkte wählen, um es zu gestalten (Abbildung 4).
Und tatsächlich steht jeder einzelne davon im Mittelpunkt irgendeines Führungskonzeptes, das findige Autoren dann in unterschiedlichen Spielarten und Varianten alle paar Jahrzehnte neu herausbringen. Einige davon wurden oben bereits verworfen. Kritische Betrachtungen der anderen erspare ich Ihnen hier und komme gleich zur Empfehlung: Führungskonzepte sollten grundsätzlich an den Führungsaufgaben ansetzen. Wer weiß, welche Aufgaben es zu erfüllen gilt, wird dies in aller Regel auch in Verhalten umsetzen, das dann – sofern die Aufgaben richtig gewählt sind – den Geführten beeinflusst, der seinerseits die für den Geschäftsbetrieb erforderliche Arbeitsleistung erbringt. Vertreter anderer Führungsansätze sind schnell dabei, solches Denken als mechanistisch zu geißeln. Jeder echte Praktiker hingegen weiß, dass Berufe sich am ehesten über Aufgaben definieren lassen und dass ein Profi sich in seinem Tun an seinem Tätigkeitsverständnis orientiert. Dieses Tätigkeitsverständnis beinhaltet Erfahrungswerte und erfüllt daher im Großen und Ganzen meist auch seinen Zweck. Nicht anders steht es mit den Führungsaufgaben, unabhängig davon, ob Führungskräfte sich eigeninitiativ an ihnen orientieren oder ob betriebliche Führungsgrundsätze es ihnen vorschreiben.
Berufe werden über Aufgaben definiert.
Aufgabenmodelle der Führung gibt es in der Literatur viele. Schon Fayol (1916), Barnard (1938), Drucker (1973), Mintzberg (1975), Kouzes/Posner (1987) und Malik (2000) haben diesen Weg beschritten25. Entscheidend ist dabei, das Führungsgeschehen über normative Aufgabenpakete prägen zu wollen. Die genaue Ausgestaltung des Katalogs ist hingegen teilweise Geschmackssache, denn natürlich lassen sich die einzelnen Führungsaufgaben nach Belieben differenzieren und kategorisieren. Auch liegt nicht alles jedem Autor gleichermaßen am Herzen. Jede Führungsaufgabe besteht zudem aus diversen Elementaraufgaben, die nicht führungsspezifisch sind. Handlungsziele zu definieren, Lob auszusprechen oder eine Ressource zuzuweisen sind solche Elementaraufgaben, die man in vielen Berufen zu erfüllen hat. Erst ihre führungsspezifische Zielstellung und Bündelung ergibt Führungsaufgaben.
Wenn ich größere Zuhörergruppen aber bitte, mit mir ein kleines Brainstorming zu Führungsaufgaben durchzuführen, kommen meist etwa zwei Drittel des in Tabelle 2 dargestellten Katalogs dabei heraus. Dies ist wenig verwunderlich, denn der ganze Aufgabenansatz folgt implizit einer bestimmten Prämisse. Diese ist ganz entscheidend für ein richtiges Verständnis von Führung, erschließt sich aber erst bei näherer Betrachtung. Unsere Personalführungsdefinition war ja verkürzt „Steuerungseinfluss auf Menschen in einer Organisationseinheit zum Zweck der Erzeugung von Arbeitsleistungen“. Entsprechend steht hinter dem Katalog der Führungsaufgaben die Frage, was ein Mensch benötigt, um nachhaltig produktive Arbeit zu leisten. Personalführung dient also der Herstellung dieser Leistungsbedingungen, und die Führungsaufgaben konkretisieren sie. Dies erklärt, warum die Brainstorming-Vorschläge berufserfahrener Menschen hier nicht sonderlich weit streuen. Ohne Auftragsverständnis, Qualifikation, Motivation etc. keine Arbeitsleistung – das weiß jeder, der schon einmal gearbeitet hat. Der hier propagierte Katalog soll ganzheitlicher und vollständiger sein als die herkömmlichen Entwürfe und wirklich alle Leistungsbedingungen abbilden. Unternehmen und Führungskräfte, die ihn in betriebliche Konzepte übersetzen, kategorisieren und benennen die Aufgaben für sich aber meist etwas anders, ihrem eigenen Sprachgebrauch entsprechend.
Führungsaufgaben sind Leistungsbedingungen.
In der Systematik der Komplementären Führung sind die Führungsaufgaben das vielleicht wichtigste Element, denn sie bilden den Bezugspunkt aller anderen Modellelemente. So konkretisieren sich in den Aufgaben u. a. die oben diskutierten Dienstleistungsfunktionen, also die Ordnungs- und die Unterstützungsfunktion der Führung. Dabei verwirklicht jede einzelne Aufgabe beide Funktionen gleichermaßen. Wenn Führende z. B. Leistungsfeedback geben oder einen Konflikt schlichten, so hat dies sowohl einen helfenden als auch einen disziplinierenden Aspekt. Diese stehen in einem je nach Anwendungssituation völlig unterschiedlichen Mischungsverhältnis. Immer aber trägt die Aufgabe Züge beider Aspekte.
Jede Führungsaufgabe verwirklicht beide Funktionen.
Die Leitidee des eigenverantwortlich handelnden Mitarbeiters
Wer mit dem Werk von Managementautor Reinhard Sprenger vertraut ist, wird eben beim Wort „Motivation“ kurz gezuckt haben. Man soll Mitarbeiter nicht motivieren, haben viele von ihm gelernt26. Und das stimmt natürlich, jedenfalls zumindest dem Grundsatz nach: Mitarbeiter sollen sich bitteschön selbst motivieren. Führungskräfte sollen diese Eigenmotivation in den Vordergrund stellen und nicht zerstören. Dies gilt aber nicht nur für Motivation, sondern für alle Führungsaufgaben. Wirklich professionelle Mitarbeiter suchen sich ihre eigenen Aufgaben, beurteilen und kontrollieren sich selbst, lösen ihre Konflikte eigenständig, schließen proaktiv ihre Qualifikationslücken etc. Genau diese Prämisse, Selbststeuerung vor Fremdsteuerung, ist der Dreh- und Angelpunkt guter Führungskonzepte. „Wer führt darf denen, die er führt, nicht im Wege stehen“ (Laotse27). Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Komplementären Führungsmodells und sollte auch der rote Faden Ihres Handelns als Führungskraft sein.
Dieses Prinzip der Selbstführung ist gerade wieder aktuell, man liest viel davon. Das ist durchaus zu begrüßen. Eigentlich handelt es sich aber um ein zeitloses Thema und eines der Grundmotive wirksamer Führung überhaupt. So merkte Mary Parker Follett schon 1930 an: „Aufgabe der Höher gestellten ist