Die Weisheit der Dichter. Manfred Ehmer
eines Augenzwinkerns versammelten sich diese Vortrefflichsten unter den Affen umgeben von ihren Truppen; zu Hunderttausenden kamen sie von den Flüssen, den Bergen, vom Meer und von den Wäldern, und sie barsten vor Kraft und brüllten wie Donner. (…..) Alle Affen der Erde versammelten sich um Sugriva herum, sie sprangen und tanzten und brüllten, und diese Springer umgaben Sugriva, wie eine Wolkenmauer die Sonne. Voller Mut und voll Kraft schrien sie immer wieder Beifall und neigten ihre Köpfe dem König der Affen zum Gruß. Andere Armeeführer näherten sich dem König brauchgemäß und stellten sich mit zusammengelegten Händen neben ihn, und Sugriva stand in höchster Ergebung vor Rama, unterrichtete ihn über die Ankunft der Affen und sprach darauf zu seinen Generälen, die vor Eifer brannten: 'O ihr Affenhäuptlinge, stellt eure Truppen pflichtgemäß auf dem Berg auf, nahe den Bächen im Wald, und jeglicher zähle sie genau.'“23
Diese gewaltige Affenarmee macht sich nun auf die Suche nach Sita, zuerst erfolglos, aber dann greift der Geierkönig Sampati ein, der den Affen sagt, wo Sita verborgen ist. Die Affen marschieren daraufhin nach Süden, in Richtung Sri Lanka, aber als sie zuletzt an der Südspitze des riesigen indischen Subkontinents ankommen und dort das große tosende Meer vor sich sehen, verlieren sie gänzlich den Mut. Wie dieses gewaltige Meer überqueren? Wie den Stürmen, Meerungeheuern, Riesenfischen trotzen? Sie finden keinen Ausweg. Bis schließlich Hanuman als Retter aus der Not erscheint, der sich erbietet, über das Meer zu springen, um auf der Insel nach dem Verbleiben Sitas zu forschen. Ein solcher Luftsprung war wohl der größte, der je vollbracht wurde, aber Hanuman ist durchaus kein gewöhnlicher Affe. Als Sohn des Windgottes Pavana verfügt er über die Fähigkeit des Fliegens; auch kann er seine Körpergröße ändern, vom Zwergenwuchs bis zur Riesengröße, und außerdem jede beliebige Gestalt annehmen. In vielen Teilen Indiens wird er als ein Gott verehrt. Außer der Arzneimittellehre und der Medizin beherrscht Hanuman die Grammatik und viele andere Wissenschaften einschließlich der Poesie. Im Ramayana nimmt er zunehmend neben Rama die Stelle des Zweithelden ein, ja das ganze Unternehmen zur Befreiung Sitas ist von seinem Erfolg abhängig.
Hanumans Sprung über das Meer – er wird im Fünften Buch des Ramayana („Sundara Kanda“) in epischer Breite geschildert. Um ein Beispiel indischer Erzählkunst zu geben, soll diese Episode einmal in aller Ausführlichkeit zitiert sein. Sprungbereit steht der fluggewaltige Affengott auf dem Gipfel eines nahe am Meer aufragenden Bergmassivs, der ihm als Absprungschanze dienen soll. Er bereitet sich vor auf den gewaltigsten Sprung aller Zeiten:
„Eine riesige Gestalt nahm er an, denn er wollte das Meer überqueren, und er presste den Berg mit Händen und Füßen, dass der unbewegliche Gipfel unter seinem Gewicht erzitterte und die Blüten von den Wipfeln der Bäume herabregneten und ihn mit einer Decke von duftenden Blumen bedeckten. Unter dem gewaltigen Druck dieses Affen schoss aus dem Berg Wasser hervor wie Saft aus den Schläfen eines brüstigen Elefanten. Gepresst von diesem mächtigen Waldbewohner entließ der Berg unzählige Ströme von Gold und Silber und Korrylium aus seinen Felsen, riesige Steinblöcke lösten sich, die waren mit rotem Arsen durchsetzt, und der Berg glich einer rauchenden Kupferschmiede. (….) Und dieser Affe ließ seine Arme anschwellen wie zwei Keulen und gürtete seine Glieder; und duckte sich und spannte Nacken und Arme an und sammelte all seine Kraft und all seinen Mut. Den kommenden Weg prüfte er, und die Entfernung, die er überwinden musste, schätzte er ab; tief holte er Luft, fest presste er die Füße auf die Erde, dieser Elefant unter den Affen, und Hanuman legte die Ohren an und sprang vor (….). Und er sprang so gewaltig, dass die Zweige der Bergbäume sich schüttelten und nach allen Seiten wirbelten. In seinem pfeilschnellen Flug riss Hanuman diese Bäume mit ihren blühenden Zweigen und liebesberauschten Kiebitzen mit und schleuderte sie zum Himmel hinauf. Fortgerissen durch den Stoß seines ungeheuerlichen Sprungs folgten ihm die Bäume wie Verwandte ihrem Liebling auf eine Reise in ferne Länder ein Stück weit begleiten. (….) Mit einem Schaum bunter Blumen bedeckt glich dieser fliegende Affe einer lichtdurchglänzten dichten Wolke, und das Meer, durch seinen Sprung blütenüberhäuft, sah aus wie das Firmament beim Erscheinen der zauberischen Sterne. Beide Arme hatte er in die Luft ausgestreckt, zwei fünfköpfige Schlangen, ausgehend vom Gipfel eines Berges. Bald schien es, als ob der Affe das Meer selbst mit seinen vielfältigen Wellen, bald so, als ob er den Himmel tränke. Wie er da so dem Pfad des Windes folgte, blitzten seine Augen und glitzerten wie zwei entzündete Bergfeuer. Die Augen dieses Lohfarbenen glichen Sonne und Mond nebeneinander, und seine kupferne Nase färbte seine ganze Gestalt wie Staub die Sonne beim Untergang.“24
Hier bekommt man einmal einen Eindruck von der Erzählkunst des Ramayana, von der epischen Breite, der Farbigkeit, Plastizität, der Lust an der Ausschweifung, der Wiederholung, der arabeskenhaften Verzierung, mit der die Handlung dieses gigantischen Epos geschildert wird, das gewiss das längste Märchen aller Zeiten ist. Hanuman jedenfalls, über das Meer gesprungen, kommt am anderen Ufer an, auf Sri Lanka, dem Zauberreich des mächtigen Ravana, und dort begibt er sich unerkannt in die Hauptstadt, die er durchsucht, er trifft schließlich Sita, gefangen in einem Hain von Ashokabäumen, der er ihre baldige Befreiung prophezeit. Er lässt sich sogar von Ravanas Dämonen gefangen nehmen, entkommt ihnen aber, legt noch die Hauptstadt in Brand und kehrt zu den Seinen zurück. Nun steht dem Heereszug gegen Ravana nichts mehr entgegen. Geführt von Rama, Lakshmana, Sugriva und Hanuman zieht die Armee der Affen, wohl die größte Armee aller Zeiten, wenn wir den Worten des Erzählers glauben wollen, der Entscheidungsschlacht entgegen. Um das Meer zu überqueren, baut man unter Anleitung des Affenhäuptlings Nala aus Felsbrocken und Baumstämmen eine Brücke (Ramasetu, Sanskr. wörtl. „Ramas Brücke“), über die das Heer nach Ceylon gelangt.
Der Rest des Epos kann stark verkürzt berichtet werden. Natürlich gelingt es Rama, Lanka einzunehmen, Ravana zu töten und Sita zu befreien. Lange wogte die Entscheidungsschlacht hin und her. Endlich kann Rama mit Indras Pfeil das Herz des Dämonenfürsten durchbohren, nachdem seine Köpfe wie die der Hydra stets nachgewachsen waren (Indras Pfeil – ein Symbol für den Sonnenstrahl? Rama als göttlicher Sonnenheld?). Man glaubt schon an ein glückliches Ende, aber dann geschieht das Unglaubliche – Rama verstößt Sita wegen angeblicher Untreue. Wie kann ein Mensch, der als die siebente Inkarnation des Gottes Vishnu auf die Erde kam, derartig fehlgehen? Wie kann er sich so der Eifersucht, dem Misstrauen, dem falschen Stolz hingeben? Aber Rama weiß gar nicht, dass er ein inkarnierter Gott ist; er hält sich für einen gewöhnlichen Menschen. Da erscheint ihm der Gott Brahma und klärt ihn darüber auf, wer er tatsächlich ist: „Du hast die Welt mit drei Schritten begangen, du hast den schrecklichen Bali gefesselt und Mahendra zum König gemacht. Sita ist Lakshmi, und du bist der Gott Vishnu, Krishna und Prajapati. Um Ravana zu erschlagen, hast du dich in einen menschlichen Leib inkarniert. Den Auftrag, den wir dir gaben, hast du erfüllt, o du Vortrefflichster Pflichtenerfüller. Ravana ist gefallen, steige nun froh in den Himmel hinauf! Unwiderstehlich ist deine Macht, und deine Taten sind niemals umsonst.“25
Sita, um ihre Unschuld zu beweisen, besteigt einen Scheiterhaufen, bleibt aber unversehrt, da Gott Agni sich weigert, sie zu verbrennen. Vereint mit Rama, kehren beide in Ravanas fliegendem Prunkwagen Pushpaka nach Aryodya zurück, in die Hauptstadt ihres Reiches, wobei Rama seiner Gemahlin die Gegenden erklärt, die sie überfliegen. In Aryodya erhält Rama von seinem jüngeren Bruder Bharata das Königreich, das dieser bislang treuhänderisch regiert hatte, und wird zum König gekrönt. Von nun an regiert er 11.000 Jahre lang ein Reich des immerwährenden Glücks und Friedens, ein „Goldenes Zeitalter“, in dem es kein Leid und keinen Kummer gibt. Damit geht der Schluss wieder ganz ins Eschatologische, Heilsgeschichtliche über. Ist das Ramayana eigentlich ein Märchen? Bloß weil Riesen, Ungeheuer, Dämonen, sprechende Tiere darin vorkommen? Oder ist es Götterdichtung? Heldenerzählung? Oder vielleicht der erste Fantasyroman der Weltliteratur? Es ist all dies und noch mehr als dies. Für den frommen Hindu ist es ein „Evangelium“, das von der Menschwerdung Gottes kündet. Für uns einfach eine einmalige Kulturleistung, ein Abenteuerroman voll esoterischer Weisheit.
Der Sonnengesang des
Pharao Echnaton
Seine Nachfolger nannten ihn den „Ketzerkönig“ und versuchten, seinen Namen aus der Erinnerung zu tilgen, Spätere sahen in ihm einen religiösen Reformator, den größten Ägyptens vielleicht, und einen Vorkämpfer des Monotheismus – Pharao Echnaton (1364–1347