ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith
und umfasst die oben erwähnten Wissenschaftsdisziplinen der Systemischen Epimedizin, sowie die Stressforschung und die Zellbiologie (Zellstress, Zellkommunikation).
Beide Bücher sind so konzipiert, dass die Kapitel jeweils unabhängig voneinander gelesen werden können. Eine starke Untergliederung und die Heraushebung von wichtigen Aussagen sollen eine schnelle Übersicht ermöglichen. Das erlaubt, je nach Interessen lage Schwerpunkte zu setzen und sich z.B. den biochemischen Details mit unterschiedlicher Intensität zu widmen.
Ein Wort zur Gestaltung des vorliegenden Buches
Die blaue Schleife („Blue Ribbon“) steht seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten als internationales Zeichen der Solidarität und der Unterstützung für die ignorierte Krankheit ME/CFS und als Aufruf zur Wahrnehmung der Betroffenen sowie für die Forderung nach mehr Forschung. Am 12. Mai 1820 wurde Florence Nightingale geboren, die, so wird vermutet, an ME/CFS litt und als Pionierin und Kämpferin für moderne Krankenpflege bekannt wurde. Ihr zu Ehren wird am 12. Mai jedes Jahres der internationale ME/CFS-Tag gefeiert, an dem die blaue Schleife weltweit bei Veranstaltungen in vielerlei Ausprägungen präsent ist.
Seit 2013 leuchten unter dem Motto „LIGHT UP THE NIGHT FOR ME“ am Abend des Gedenktages in beeindruckender Weise bedeutende Bauten und Naturdenkmäler in strahlendem Blau. Besonders beeindruckend erscheinen die Niagara-Fälle, die Sie stellvertretend ebenfalls auf dem Cover finden. Die Lost Voices Stiftung stellte einige weitere internationale Aufnahmen auf ihre Webseite: www.lost-voices-stiftung.org/was-ist-me/ 12-mai-gedenktag
Die Farbgestaltung innerhalb des Buches war insofern begrenzt, als beim Self-Publishing farbig bedruckte Seiten den Verkaufspreis erhöhen. Da viele ME/CFS-Patienten nicht arbeiten können und daher kaum Einkommen haben, haben wir versucht, mit reduzierten Mitteln bestmögliche Lösungen zu finden.
Nota Bene: Anmerkung zu den Unzulänglichkeiten der deutschen Sprache
„Manche(r) Erschöpfte durchleidet eine jahrelange Odyssee, bis die Ursache ihrer/seiner Kraftlosigkeit erkannt wird.“
Der Beispielsatz zeigt, dass die deutsche Sprache es uns nicht leicht macht, dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht gerecht zu werden. Bei ME/CFS beträgt der Frauenanteil ca. 75 %. Daher ist es nur der Lesbarkeit und einer einfacheren, einheitlichen Formulierung geschuldet, dass in beiden Büchern keine gendergerechte Sprache verwendet wird. Weder das Gender-Sternchen (Patient*in), noch das Binnen-I (PatientIn), noch das Gender-Gap (Patient_in) schienen mir geeignet, diese paradoxe Situation gut zu lösen. Diese nicht gendergerechte Schreibweise ist unbefriedigend. Sie ist aber meines Erachtens die bessere Lösung, um die überaus komplexen ME/CFS-relevanten Zusammenhänge nicht noch weiter zu verkomplizieren.
EINFÜHRUNG
„Im Lexikon der englischen Sprache findet sich kein Wort, mit dem man die fehlende Ausdauer, den Mangel an Energie, das absolut überwältigende Krankheitsgefühl und das Elend beschreiben könnte, von dem diese Krankheit begleitet ist.“
Charles Lapp, einer der führenden Forscher und Kliniker mit 25 Jahren Erfahrung auf dem Gebiet des ME/CFS, Gründer des Hunter-Hopkins Center in North Carolina, USA.
Dieses Buch widmet sich einer Erkrankung, für die es leider verwirrend viele Bezeichnungen und Abkürzungen gibt. Ich verwende als Sammelbegriff für dieses Krankheitsbild die heute weltweit gebräuchlichste Abkürzung ME/CFS, die für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome steht. ▸ Siehe dazu auch Kapitel 1.3.1
■ Kapitel 1: In diesem Kapitel wird das Krankheitsbild ME/CFS differenziert vorgestellt und charakterisiert. Hier erfahren Sie u.a. auch mehr zu den verschiedenen Bezeichnungen und Abkürzungen.
■ Kapitel 2 beschreibt eine umstrittene englische Studie und ihre Auswirkungen. Die sogenannte PACE-Studie hat das Bild von ME/CFS in der Öffentlichkeit geprägt und lag bis Mai 2018 den ärztlichen Leitlinien in Deutschland zugrunde. Die Studie weist jedoch so gravierende methodische Mängel auf, dass ihre Evidenz international von Wissenschaftlern, Behandlern und Patienten in Frage gestellt wird. (Der medizinische Begriff Evidenz bedeutet: der durch Studien erbrachte Nachweis des Nutzens einer diagnostischen oder therapeutischen Aktion).
■ Kapitel 3 beschreibt die katastrophale medizinische und soziale Versorgungs-Situation für ME/CFS-Patienten.
■ Kapitel 4 stellt schwerpunktmäßig die aktuelle ME/CFS-relevante Forschung vor.
■ Kapitel 5 fasst einige diagnostische und therapeutische Gesichtspunkte zusammen.
Dann folgt ein Ausblick, der zukünftige Herausforderungen in den Blick nimmt, sowie ein Nachwort und Dankesworte. Der Anhang bietet Quellenangaben und einen ausführlichen Serviceteil mit weiterführenden Informationen.
I EIN RÄTSELHAFTES KRANKHEITSBILD
Nicht nur die Vielzahl der Bezeichnungen für dieses Krankheitsbild ist verwirrend. Bei der ersten Begegnung mit dem Krankheitsbild werden Betroffene und Interessierte mit weiteren Unklarheiten konfrontiert:
■ Es gibt mehrere Tausend ME/CFS-relevante internationale Studien. Dennoch ist die Ursache für das Auftreten von ME/CFS bis heute ungeklärt.
■ Es gibt keinen Laborwert, der Ihnen eindeutig sagt, ob Sie diese Erkrankung haben oder nicht.
■ Da es kein verbindliches, durch Laborwerte begründetes Erklärungsmodell für ME/CFS gibt, wurden in den letzten Jahrzehnten mehrere Versionen unterschiedlicher Konsenskriterien und Definitionen erstellt, die die Krankheit charakterisieren, um sie von anderen, ähnlichen Erkrankungen zu unterscheiden. Die jeweils gefundenen Patientengruppen erhalten die Diagnose ME/CFS uneinheitlich je nach den angewendeten Kriterien.
■ Da auch für Studien diese unterschiedlichen Klassifikationen zugrunde gelegt werden, die ME/CFS jeweils anders definieren, sind Forschungsergebnisse nicht in jedem Fall vergleichbar und können zu widersprüchlichen Aussagen über Diagnostik und Therapie führen.
■ Es gibt nur ein einziges Symptom, das spezifisch nur bei ME/CFS auftritt: Die „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion/PENE“ (Deutsch: „Neuroimmune Entkräftung nach Belastung“). PENE verweist auf neuroimmunologische Beschwerden nach jedweden, auch geringfügigen Anstrengungen, und tritt in dieser Form bei keiner anderen Erkrankung auf. Die Patienten erleben ein krasses Missverhältnis zwischen einfachsten körperlichen oder kognitiven Anstrengungen und der darauf folgenden unangemessen starken generalisierten und langanhaltenden Zustandsverschlechterung.
■ Jeder Betroffene leidet nicht nur unter PENE, sondern unter einer Fülle weiterer Beschwerden, deren Aufzählung mehr als diese Buchseite füllen würde. Es handelt sich größtenteils um unspezifische Symptome, die sich keinem Organ und keiner Fachrichtung zuordnen lassen: z.B. Kraftlosigkeit oder Benommenheit. Diese Beschwerden sind nicht ME/CFS-spezifisch, sondern treten auch bei sehr vielen anderen chronischen Erkrankungen auf.
■ Dabei zeigt jeder ME/CFS-Patient ein individuelles Beschwerdebild. Während Frau Schmidt vor allem unter wiederkehrenden Infekten und grippeähnlichen Zuständen leidet, klagt Herr Maier vor allem über seine Schmerzen und Frau Schulze über die energieraubende Schlaflosigkeit. Frau Müller kann gar nicht sagen, was ihr am meisten zusetzt, bei ihr treten mehrere Symptome stark auf.
■ Auch Schwere und Ausprägung der Krankheit sind extrem heterogen: Frau Schulze kann noch arbeiten, Herr Maier hat kaum mehr die Kraft, das Haus zu verlassen und Frau Müller ist vollumfänglich pflegebedürftig. Man sieht ME/CFS-Patienten ihre schwere Erkrankung meist nicht an.
■ Es gibt zahlreiche Überschneidungen mit anderen (multisystemischen) Erkrankungen.
■ Komorbiditäten (Begleit-Erkrankungen)/ Multimorbiditäten (Mehrfach-Erkrankungen): ME/CFS tritt regelhaft im Verbund mit weiteren Erkrankungen auf. Manchmal ist unklar, welche der Erkrankungen die Grunderkrankung darstellt.
■ ME/CFS-Patienten werden derzeit weder medizinisch noch sozial angemessen versorgt.
■ Es gibt aufgrund mangelnder Forschung und uneinheitlicher Diagnostik keine verlässliche