ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith
so genau wie möglich definiert und damit eingegrenzt. Experten erarbeiten anhand der regelhaften Symptommuster und bekannter Befunde „am Konferenztisch“ eine Charakteristik der Krankheit, die dann als „Syndrom“ bezeichnet werden kann. Syndrom ist keine präzise Krankheitsbezeichnung oder Diagnose, sondern eine Zusammenfassung von Symptomen, ein krankheitstypischer „Zustandsbericht“, auf den sich Experten geeinigt haben - unabhängig von nachweisbaren Laborwerten.
Konsenskriterien
Kein Arzt konnte die zahlreichen und massiven Beschwerden, über die betroffene Patienten berichteten, anhand der erhobenen Befunde erklären. Aus dieser Ratlosigkeit entstanden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte mehrere sogenannte Konsenskriterien, die die rätselhafte Erkrankung charakterisierten und von anderen Erkrankungen abgrenzten. Patienten, die z.B. nach den weitgefassten Oxford-Kriterien diagnostiziert werden, sind nicht zwingend identisch mit Patienten, die nach den Fukuda-Kriterien oder den präziseren Internationalen ME-Konsens-Kriterien 2011 diagnostiziert werden.
Seit den ersten Erwähnungen ist ein wissenschaftlicher Disput zu verfolgen, bei dem sich die Verfechter verschiedenen Ansätze vehement streiten. Es gibt kaum eine Krankheit, die so zum Spielball weltanschaulicher Hypothesen und Debatten, wissenschaftlicher Karrieren, gesundheitspolitischer Aspekte und wirtschaftlicher Interessen wurde wie ME/CFS. Unter „historisch“ bedingten Verharmlosungen und Stigmatisierungen haben ME/CFS-Patienten noch heute zu leiden.
Die deutsche Bezeichnung „Chronisches Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom“ ist unglücklich gewählt und wird oft als diskriminierend empfunden. Zum einen, weil das Symptom Fatigue (Müdigkeit, Erschöpfung) eine Beschwerde ist - und keine Krankheit. Zum anderen ist die Fatigue zwar bei vielen Patienten ein herausragendes Symptom - aber lange nicht das Einzige. Und zum dritten verharmlost der Begriff die Brisanz dieser Erkrankung - wer ist heutzutage nicht mal müde und erschöpft?
ME - Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom - Fakten Hintergründe Forschung ist der Titel eines Buches von Katharina Voss. Die Bloggerin und Mutter zweier schwer erkrankter Töchter erläutert in dem Buch und in ihrem Blog den medizinischen Unterschied zwischen der „Myalgischen Enzephalomyelitis/ME“ und dem „Chronic Fatigue Syndrom/CFS“. Sie kritisiert, dass in der Praxis und in Studien unter dem Begriff CFS allzu leicht unterschiedliche Erkrankungen, die mit Erschöpfung einhergehen, subsummiert werden. Das 543 Seiten umfassende Buch widmet sich vielen weiteren ME-relevanten Themen. ▸ Siehe Anhang 2/ Blog und Anhang 3 / Buch
In den USA wird die Erkrankung mittlerweile häufig „CFIDS“ genannt, als Abkürzung für „Chronic Fatigue and Immune Dysfunction Syndrome“ (Deutsch: „Chronisches Erschöpfungs- und Immundysfunktions-Syndrom“). Diese Bezeichnung hat sich im deutschsprachigen Raum nicht durchgesetzt.
Im Februar 2015 hat das U.S.-amerikanische Institute of Medicine/IOM, (jetzt National Academy of Medicine/NAM) nach der Auswertung von 9000 wissenschaftlichen Arbeiten zu ME/CFS einen umfassenden Bericht mit dem Titel: Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness vorgelegt (Deutsch: „Jenseits von Myalgischer Enzephalomyelitis und Chronischem Müdigkeitssyndrom: Neudefinition einer Krankheit“). Die Kommission schlug in diesem Bericht die Bezeichnung „Systemic Excertion Intoleranz Disease“ (SEID)/ Deutsch: Systemische Belastungs-Intoleranz-Erkrankung vor. Bisher hat sich auch diese Bezeichnung nicht durchgesetzt. 1.1 /2, iom
Es scheint derzeit, als stünde(n) die letztgültige(n) „Taufe(n)“ der Namensgebung für ME/CFS, bzw. für dessen Untergruppen noch aus.
Die Suche nach dem Biomarker
Schon diese kurze Übersicht, die sich nur auf die Namensnennung bezieht, lässt erahnen, dass die Krankheit ME/CFS sehr vielschichtig ist. Bis heute gibt es keine schlüssige Erklärung für das Auftreten von ME/CFS und keinen bestimmenden einzelnen Labortestwert, der durchgängig bei allen Betroffenen eindeutig auffällig gewesen wäre.
Wer an z.B. Rheumatoider Arthritis leidet, kann eine eindeutige Diagnose erwarten. Um diese Erkrankung und damit verbundene Gewebeschäden frühzeitig zu erkennen, steht eine ganze Palette von Biomarkern zur Verfügung.
Biomarker sind messbare Laborparameter, die als eindeutige Indikatoren für die Diagnostik verwendet werden können. Pathologische Veränderungen lassen sich objektiv darstellen. Für ME/CFS wurde bisher kein eindeutiger Biomarker gefunden. Seit die Krankheit bekannt geworden ist, suchen Wissenschaftler nach einem Schlüssel, der einerseits die Unterschiedlichkeiten und andererseits die Gemeinsamkeiten erklären könnte.
Gesucht wird ein Laborwert, der die eindeutige Aussage zulässt, ob jemand an ME/CFS erkrankt ist - oder eben nicht. Ein solcher Wert würde möglicherweise auch Auskunft über die Ursache der Erkrankung geben und als Grundlage für eine geeignete Therapie dienen. Und nicht zuletzt würde ein solch „beweisender“ Wert gutachterliche Auseinandersetzungen wesentlich vereinfachen.
Nach jahrzehntelanger Suche gibt es erfreulicherweise in jüngster Zeit zunehmend internationale Studien, die Patienten und Behandlern Grund zur Hoffnung geben.
In Kapitel 4 „Aktuelle internationale Forschung“ wird die Arbeit des 2015 gegründeten Forschungsverbundes EUROMENE vorgestellt. EUROMENE hat einen länderübergreifenden Forschungsbericht zu ME/CFS-relevanten potentiellen Biomarkern erstellt. Im gleichen Kapitel 4 werden einige herausragende Studien vorgestellt, deren Fokus auf das Finden von Biomarkern gerichtet ist.
1.2 DIE INTERNATIONALEN ME-KONSENS-KRITERIEN 2011
ME/CFS wird bislang nur über klinische Symptome diagnostiziert, also über die Beschwerden, die der Patient berichtet. Zu den gebräuchlichsten Konsenskriterien, die die Krankheit ME/CFS definieren, gehörten oder gehören:
■ Die Oxford-Kriterien 1991: Nach dieser Definition werden auch Patienten mit unspezifischen Erschöpfungszuständen, wie sie bei psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen beobachtet werden, eingeschlossen. Nach heutigen Erkenntnissen sind sie zu weit gefasst. Die Ergebnisse von Studien, die die Studienteilnehmer anhand dieser Kriterien auswählten, sind sehr umstritten.
■ 1994 wurden die sogenannten Fukuda Kriterien entwickelt, auf denen viele ältere Studien zu ME/CFS basieren. Auch sie schließen psychosomatische und psychische Erkrankungen nicht eindeutig aus. Psychische Erkrankungen und ME/CFS sind jedoch unterschiedliche Krankheitsbilder, auch wenn gemeinsame Symptome vorliegen.
■ 2003 wurden die sogenannten Kanadischen Konsenskriterien entwickelt. Sie beschreiben die immunologischen, neurokognitiven und weiteren Beeinträchtigungen. Sie bieten damit ein genaues und eng gefasstes Diagnoseschema. Zudem werden bewährte Therapieoptionen vorgestellt.
Das Komitee des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM) schlug 2015 sehr kurzgefasste Kriterien vor. Die Erkrankung, für die von den Autoren der Name „Systemic Excertion Intoleranz Disease“ (SEID) vorgeschlagen wurde, liegt demnach vor, wenn der Patient seit mindestens sechs Monaten unter Fatigue, Post-Exertional Malaise und nicht erholsamem Schlaf leidet, kombiniert mit kognitiven Beeinträchtigungen und/oder einer Zustandsverschlechterung beim aufrechten Stehen. Diese Kriterien werden als zu undetailliert kritisiert.
Die Internationalen ME-Konsenskriterien 2011/ME-ICC 2011
Im Juli 2011 wurde eine überarbeitete, aktualisierte Version der Kanadischen Konsenskriterien 2003 in The Journal of Internal Medicine unter dem Originaltitel Myalgic encephalomyelitis: International Consensus Criteria 2011 (ME-ICC 2011)/Deutsch: Myalgische Enzephalomyelitis: Internationale Konsenskriterien 2011 veröffentlicht. 1.2 / 1, ME-ICC 2011
13 Länder und ein breites Spektrum an Fachgebieten waren bei den Beratungen vertreten. Die Autoren betonen, dass durch diese Expertenrunde ca. 500 Jahre klinische Erfahrung abgebildet wurden - die von ihnen diagnostizierte und behandelte Patientenzahl wird mit insgesamt 50 000 Patienten angegeben. Mehrere Mitglieder des Gremiums haben wissenschaftliche Arbeiten und/oder Bücher publiziert.
Nur für Patienten, die die Kriterien der ME-ICC 2011 erfüllen, soll