ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith

ME/CFS erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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Körpersysteme sind betroffen, was in der Folge wiederum zu den unterschiedlichsten individuellen Beschwerden bei den Patienten führt. Der Unterschied zum Lottospielen ist jedoch deutlich: Während es beim Lotto Gewinner gibt, ist ME/CFS durch den massiven Verlust an Lebensqualität gekennzeichnet.

      Die vielfältigen Störungen manifestieren sich organübergreifend. Das vegetative und das Zentral-Nervensystem sind chaotisiert, immunologische Prozesse sind gestört, die zuverlässige Bereitstellung von Energie für den Stoffwechsel ist nicht gewährleistet. Sinneswahrnehmungen werden verstärkt empfunden. Der Organismus ist in seiner Totalität betroffen, das biochemische Räderwerk verläuft unkoordiniert. Die Fähigkeit zur Selbstregulierung ist durch diese labilen und irregulären Abläufe eingeschränkt. Es kommt zu Fehlfunktionen auf mehreren Ebenen, verbunden mit der Unfähigkeit, auf wahrnehmbare und verborgene Reize angemessen zu reagieren. Elementare Lebensprozesse verlaufen pathologisch.

      ME/CFS ist eine organische Erkrankung, bei der nicht ein einzelnes erkranktes Organ als Schwachstelle in Erscheinung tritt.

      Die üblichen hausärztlichen Untersuchungen bleiben bei ME/CFS ohne Befund. Auch die üblichen fachärztlichen Befunde sind zu unspezifisch. Ärzte sind mit dieser undurchschaubaren Situation, bei der die Symptome nicht zu den Laborwerten passen wollen, genauso überfordert wie die Patienten. Weder die Hausärzte noch die Fachärzte (er) kennen das Krankheitsbild. Da keine organischen Störungen vorzuliegen scheinen, werden ME/CFS-Patienten Fehldiagnosen wie Depression, Neurasthenie, Posttraumatische Belastungsstörung, Hypochondrische Störung (F45.2), Somatisierungsstörung (F45.0) sowie weitere psychische oder Verhaltensstörungen attestiert.

       Es gibt keine ME/CFS-Fachdisziplin

      Stellen Sie sich vor, Sie hätten Krebs und es gäbe keine Onkologen, keine Anlaufstellen und keine spezialisierten Zentren und Krankenhäuser.

      Zahlreiche Patienten beschreiben in Blogs und/oder Foren ▸ Siehe Anhang 2 die Variationen der Hilflosigkeit: Vom achselzuckenden Nicht-Ernstnehmen über jahrelange Ärzte-Odysseen bis hin zu gravierenden Fehldiagnosen. Mehr zu der katastrophalen Versorgungs-Situation finden Sie in Kapitel 3.

      Wenn aber der Arzt nicht helfen kann – wer dann?

      Welche Symptome treten auf?

      ME/CFS ist eine Ganzkörper-Erkrankung. Sieben Sub-Systeme im Organismus weisen funktionelle und/oder strukturelle Schädigungen auf:

      ■ Der mitochondriale Energiestoffwechsel

      ■ Die Immunfunktionen

      ■ Die neuroendokrine Stress-Antwort, vermittelt über den Sympathikus und über die Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse

      ■ Das Zentralnervensystem/ZNS (Gehirn und Rückenmark)

      ■ Das autonome Nervensystem: Das vegetative Nervensystem steuert unsere Vitalfunktionen, z.B. die Körpertemperatur, die Pulsrate, die Atemfrequenz u.a.

      ■ Die Magen-Darm-Funktion/Verdauung

      ■ Das Mikrobiom

      Je nachdem, welche Subsysteme in welchem Ausmaß bei jedem Einzelnen betroffen sind, gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Beschwerden. Meist ist das Auftreten der Symptome schwankend (oftmals innerhalb von Stunden) und somit unvorhersehbar. Das macht Tagesplanungen und die Teilnahme am Arbeitsleben sehr schwierig bis unmöglich. Je nach Ausmaß der Fehlsteuerung kann es von leichten Befindlichkeitsstörungen bis hin zum Versagen der Anpassung auf mehreren Ebenen kommen. Die Bandbreite möglicher Symptome reicht von unspezifischem Unwohlsein über Benommenheits- oder Verwirrungszustände bis hin zu ext remer Kraftlosig- und Bettlägerigkeit und/oder Pflegebedürftigkeit. Die Symptome können sich bei einzelnen Patienten im Laufe der Zeit verändern.

      Leitsymptom PENE

      Die Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion/PENE (Deutsch: „Neuroimmune Entkräftung nach Belastung“) ist das Leitsymptom des ME/CFS. ▸ Siehe Kapitel 5.1.2: Fatigue, PEM oder pene? Es verweist auf die globale Zustandsverschlechterung nach kognitiver, körperlicher oder psychischer Überanstrengung. Alle Symptome können sich dann verschlimmern. Die weiteren ME/CFS-Symptome sind unspezifisch, d.h. sie treten auch bei anderen Erkrankungen auf.

      Häufige Symptome (Auswahl):

      Immunologische Ausprägungen

      ■ Wiederkehrende grippeähnliche Symptome mit Fieber, Halsschmerzen und empfindlichen oder schmerzhaften Lymphknoten im Hals- oder Achselbereich.

      ■ Allgemeines Krankheitsgefühl.

      ■ Überempfindlichkeiten gegen Nahrungsmittel, Medikamente und/oder Chemikalien.

      ■ Impfungen werden oft schlecht vertragen.

      Schlafstörungen: Der Schlaf ist nicht erholsam. Häufig wird von Einschlafstörungen und Durchschlafstörungen (Insomnien) berichtet und/oder von Tagesschläfrigkeit (Hypersomnie). Die chronischen Schlafstörungen können die Leistungsfähigkeit zusätzlich stark einschränken.

      Schmerzen/Sensibilitätsstörungen: Patienten berichten häufig über Schmerzen. Diese treten in den Muskeln und/oder in den Gelenken auf. Oft „überall“ und wandernd („Fibromyalgie-Schmerz“). Muskelschwäche führt zu motorischen Störungen. Auch Kopfschmerzen treten häufig auf, sowie Taubheitsgefühl oder Kribbeln in der Haut.

       Neurologische/Kognitive/Zerebrale Ausprägungen

      ■ Gedächtnisstörungen, verminderte Konzentration.

      ■ Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung, Wortfindungs-Schwierigkeiten.

      ■ Erniedrigte Reizschwelle: Überlastung durch kognitive, sensorische sowie emotionale Reize, z.B. Lichtempfindlichkeit und Überempfindlichkeit gegenüber Lärm.

      ■ Wahrnehmungs- und sensorische Störungen.

      ■ Verwirrtheit, Desorientiertheit (Brain fog).

      ■ Bewegungskoordinationsstörungen (Ataxien).

      ■ Muskelschwäche, -krämpfe und Muskelzuckungen, Lähmungen.

       Autonome Ausprägungen

      ■ Orthostatische Intoleranz (Orthostase: aufrechte Körperlage): Beim Aufstehen kommt es zu einem erhöhten Puls und zu Benommenheit und/oder Schwindel. Die Beschwerden lassen nach, wenn sich die Patienten hinlegen. Die Orthostatische Intoleranz kann durch das Posturale Tachykardie Syndrom (POTS) bedingt sein oder durch eine neural vermittelte Hypotonie.

      ■ Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen, Kurzatmigkeit nach Belastung, Blässe.

      ■ 90 % aller ME/CFS-Patienten klagen über Darmprobleme/Reizdarmsyndrom, Übelkeit.

      ■ Blasen-Dysfunktionen: häufiges Wasserlassen.

       Neuroendokrine Ausprägungen (Nerven, Hormonsystem)

      ■ Verminderte Stressresistenz

      ■ Teilleistungs-Störungen beim Hören und Sehen

      ■ Überempfindlichkeit auf vielfältige Sinnesreize („Multi-Sensory Sensitivity“/MUSES)

      ■ Schilddrüsen-Dysfunktionen

      ■ Temperaturextreme können schlecht ausgeglichen werden. Kalte Hände und Füße, Hitzewallungen. Intoleranz gegenüber Hitze- und Kälteextremen.

      ■ Störungen der Sexualität und der Fortpflanzung, u.a. Menstruationsstörungen.

      Wie ist der Verlauf?

      Die Beschwerden können über Jahre oder Jahrzehnte anhalten. Manche Patienten erleben eine langsame Verbesserung. Wenige erholen sich vollständig, manche erleiden eine kontinuierliche Verschlechterung. Rückfalle oder zyklische Verläufe können auftreten. Eine Prognose ist nicht möglich. Über Folge-Erkrankungen oder bleibende Organschädigungen gibt es keine gesicherten Studien.

      Manche Betroffene


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