Formen der Verstörung. Lydia Davis

Formen der Verstörung - Lydia  Davis


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       Mein Sohn

       Beispiel einer in die Gegenwart hineinreichenden Vergangenheit in einem Hotelzimmer

       Cape Cod Tagebuch

       Fast schon zu Ende: Wie heißt noch das Wort?

       Ein anderer Mann

       Anmerkungen des Übersetzers

      Ein Mann aus ihrer Vergangenheit

      Ich glaube, meine Mutter flirtet mit einem Mann aus ihrer Vergangenheit, und es ist nicht Vater. Ich sage mir: Mutter sollte keine unschickliche Beziehung zu diesem Mann unterhalten, Franz. Franz ist ein Europäer. Ich meine, es ist unschicklich, sich mit diesem Mann zu verabreden, während Vater weg ist. Aber ich bringe eine alte Wirklichkeit und eine neue Wirklichkeit durcheinander: Vater wird nicht mehr nachhause kommen. Er wird im Pflegeheim Vernon Hall bleiben. Was Mutter angeht: Sie ist vierundneunzig. Wie kann es zu einer Frau von vierundneunzig Jahren eine unschickliche Beziehung geben? Aber offenbar bringe ich Folgendes durcheinander: Obwohl ihr Körper alt ist, ist ihre Fähigkeit zu betrügen noch immer jung und frisch.

      Hund und ich

      Auch eine Ameise kann zu dir aufschauen und dich sogar mit ihren Vorderbeinchen bedrohen. Mein Hund weiß natürlich nicht, dass ich ein Mensch bin, er sieht mich als Hund, obwohl ich nicht am Zaun hochspringe. Ich bin ein starker Hund. Aber beim Gehen bleibt mein Maul nicht offen. Selbst an einem heißen Tag lasse ich meine Zunge nicht raus hängen. Aber ich belle ihn an: »Nein! Nein!«

      Durchgeistigt

      Ich weiß nicht, ob ich mit ihr befreundet bleiben kann. Ich habe noch und noch darüber nachgedacht – sie wird niemals erraten, wie sehr. Ich habe es ein letztes Mal versucht. Ich habe sie nach einem Jahr angerufen. Aber mir gefiel der Gesprächsverlauf nicht. Das Problem ist, dass sie nicht eben sehr durchgeistigt ist. Oder sollte ich sagen, dass sie für mich nicht durchgeistigt genug ist. Sie ist jetzt fast fünfzig und, soweit ich sehe, nicht mehr durchgeistigt als vor zwanzig Jahren, als wir uns kennenlernten und uns hauptsächlich über Männer unterhielten. Damals machte es mir nichts aus, wie wenig durchgeistigt sie war, vielleicht weil ich selbst nicht so durchgeistigt war. Ich glaube, ich bin heute durchgeistigter, und zweifellos durchgeistigter als sie, obwohl ich weiß, dass so etwas zu sagen nicht eben davon zeugt, dass man sehr durchgeistigt ist. Aber ich will es sagen, und daher hebe ich mir für später auf, durchgeistigt zu sein, wenn ich nur weiterhin so etwas über eine Freundin sagen kann.

      Geschmacks-Contest

      Ehemann und Ehefrau nahmen an einem Wettbewerb in Gutem Geschmack teil, der von einer Jury Gleichgesinnter entschieden wurde: von Männern und Frauen mit gutem Geschmack, unter ihnen ein Stoffdesigner, ein Händler von seltenen Büchern, ein Konditor und ein Bibliothekar. Der Frau bescheinigte man einen besseren Geschmack bei Möbeln, insbesondere bei antiken Möbeln. Dem Mann bescheinigte man einen insgesamt schlechten Geschmack bei Beleuchtungskörpern, Tafelgeschirr und Gläsern. Der Frau bescheinigte man einen mittelmäßigen Geschmack bei Fensterdekorationen, aber sowohl Ehemann als auch -frau wurde guter Geschmack bei Bodenbelägen, Bettwäsche, Hand- und Badetüchern, großen und kleinen Haushaltsgeräten bescheinigt. Man fand, der Ehemann habe einen guten Geschmack bei Teppichen, aber bloß einen mittelmäßigen Geschmack bei Bezugsstoffen. Man fand, der Ehemann habe einen sehr guten Geschmack bei Speisen und bei alkoholischen Getränken, wogegen der Geschmack der Ehefrau bezüglich Speisen einmal gut, einmal schlecht war. Der Ehemann hatte einen besseren Geschmack bei Kleidern als die Ehefrau, während sein Geschmack bei Parfüm und Eau de toilettes einmal gut, einmal schlecht war. Während man Ehemann wie Ehefrau einen nicht mehr als mittelmäßigen Geschmack bezüglich Gartenarchitektur bescheinigte, bescheinigte man ihnen einen guten Geschmack bezüglich Vielzahl und Vielfalt immergrüner Pflanzen. Man fand, der Ehemann habe einen hervorragenden Geschmack, was Rosen, aber einen schlechten Geschmack, was Blumenzwiebeln angeht. Man fand, die Frau habe einen besseren Geschmack bezüglich Blumenzwiebeln und einen insgesamt guten Geschmack betreffend SchattenPflanzen, ausgenommen Funkien. Man fand, der Ehemann habe einen guten Geschmack, was Gartenmöbel, aber bloß einen mittelmäßigen Geschmack, was dekorative Übertöpfe angeht. Der Ehefrau attestierte man einen durchwegs schlechten Geschmack bei Gartenskulpturen. Nach einer kurzen Diskussion fiel die Entscheidung der Juroren aufgrund der insgesamt höheren Punktezahl zugunsten des Ehemanns aus.

      Gemeinschaftsproduktion mit Fliege

      Ich schrieb dieses Wort auf die Seite,

      sie aber setzte das Auslassungszeichen hinzu.

      Kafka kocht ein Abendessen

      Ich bin ganz verzweifelt, weil der Tag näher rückt, an dem meine liebe Milena kommt. Ich habe kaum erst angefangen, eine Entscheidung zu treffen, was ich ihr aufwarten werde. Ich habe mich kaum noch mit dem Gedanken daran auseinandergesetzt, habe ihn nur umflogen, wie die Mücke das Licht und mir das Köpfchen mehrere Male verbrannt.

      Ich fürchte so sehr, dass mir nichts anderes einfällt als Kartoffelsalat, und das ist keine Überraschung mehr für sie. Das darf nicht sein.

      Der Gedanke an dieses Essen beschäftigt mich schon die ganze Woche in einem fort und lastet in der gleichen Weise auf mir, so wie im tiefen Meer kein Plätzchen ist, das nicht immerfort unter schwerstem Drucke steht. Dann und wann nehme ich meine ganze Kraft zusammen und arbeite an dem Menü, so als wäre ich beauftragt, einen Nagel in einen Stein zu hämmern, Arbeiter und Nagel zugleich. Aber dann sitze ich wieder am Nachmittag hier und lese, Myrte im Knopfloch, und es gibt so schöne Passagen in dem Buch, dass man glaubt, man müsse auch so schön werden.

      Ebenso könnte ich im Irrenhausgarten sitzen und blödsinnig vor mich hinstieren. Und doch weißich, dass ich mich letztlich für ein Menü entscheiden und die Zutaten einkaufen und das Essen zubereiten werde. Diesbezüglich, denke ich, bin ich wie ein Schmetterling: Das Zickzack seines Flugs ist so unberechenbar und er flattert so wild, dass es einen beim Zuschauen weh tut, und sein Flug ist das genaue Gegenteil einer geraden Linie, trotzdem legt er Meile um Meile erfolgreich zurück, um ans Ziel zu kommen, ergo muss er effizienter oder zumindest entschlossener sein, als er scheint.

      Natürlich, mich selbst zu foltern ist auch kläglich. Alexander hat den gordischen Knoten, als er sich nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert. Ich habe das Gefühl, unter all diesen Gedanken lebendig begraben zu sein, und glaube doch still liegen zu müssen, denn vielleicht bin ich doch wirklich tot.

      Heute Morgen zum Beispiel hatte ich kurz vor dem Aufwachen, es war auch kurz nach dem Einschlafen, einen Traum, der mich noch immer nicht loslässt: Ich hatte einmal einen Maulwurf gefangen und trug ihn in den Hopfengarten, wo er, wie wenn er in Wasser tauche, in die Erde verschwand. Wenn ich an dieses Abendessen denke, dann möchte ich in der Erde verschwinden wie dieser Maulwurf. Ich möchte mich in die Schublade des Wäschekastens dort stopfen, dann warten, dann die Schublade ein wenig aufziehen, um nachzusehen, ob ich schon erstickt bin. Noch viel erstaunlicher ist, dass man überhaupt jeden Morgen aufsteht.

      Ich weiß, Rote-Rüben-Salat wäre besser. Ich könnte ihr sowohl Rote Rüben als auch Kartoffeln servieren und dazu eine Scheibe Rindfleisch, sofern ich auch Fleisch dazu tue. Andererseits braucht es zu einer anständigen Scheibe Rindfleisch gar keine Beilage, am besten, man isst es ohne was dazu, also könnte zuerst


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