Formen der Verstörung. Lydia Davis

Formen der Verstörung - Lydia  Davis


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Werde ich, wenn er die Form von Asche angenommen hat, auf die Asche zeigen und sagen: »Das ist mein Vater«? Oder werde ich sagen: »Das war mein Vater«? Oder aber: »Die Asche da – das war mein Vater«? Oder: »Diese Asche da ist das, was einmal mein Vater war«?

      Wenn ich später auf den Friedhof gehe, werde ich dann hinzeigen und sagen: »Hier liegt mein Vater«, oder werde ich sagen: »Hier liegt die Asche meines Vaters«? Aber die Asche wird nicht meinem Vater gehören, er wird sie nicht besitzen. Es wird »die Asche« sein, »die einmal mein Vater war«. In der Redewendung: »Er stirbt gerade« suggeriert das Wort »gerade« in Verbindung mit dem Präsens, dass er dabei ist, aktiv etwas zu tun. Er ist aber nicht aktiv, wenn er stirbt. Das einzige, was er noch aktiv tut, ist atmen. Es sieht aus, als atme er mit Absicht, weil er sich dabei so viel Mühe gibt und die Stirn leicht in Falten legt. Er gibt sich dabei viel Mühe, aber er hat zweifellos keine andere Wahl. Manchmal sind die Falten auf seiner Stirn momentlang tiefer, als ob ihm etwas weh täte oder als ob er sich stärker konzentrieren würde. Obwohl ich errate, dass er die Stirn wegen eines Schmerzes in seinem Körper oder einer sonstigen Veränderung runzelt, wirkt er verwirrt oder so, als würde ihm etwas nicht passen oder als würde er etwas missbilligen. Ich habe diesen Ausdruck auf seinem Gesicht in meinem Leben oft gesehen, allerdings nie zusammen mit diesen halb geöffneten Augen und dem offenen Mund.

      »Er stirbt gerade« klingt aktiver als »Er wird bald tot sein«. Wahrscheinlich liegt es an dem Wort sein – wir können etwas »sein«, ob wir uns dafür entscheiden oder nicht. Ob ihm das passt oder nicht – er wird bald tot »sein«. Er isst nicht.

      »Er isst nicht« klingt ebenfalls nach Aktivität. Aber es hat nichts mit seiner freien Entscheidung zu tun. Ihm ist nicht bewusst, dass er nicht isst. Nichts ist ihm bewusst. Aber: »Er isst nicht« klingt in seinem Fall korrekter als »stirbt gerade«, wegen der Verneinung. Dass er etwas »nicht tut«, scheint, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, sowieso korrekt, weil es so aussieht, als würde er etwas verweigern, weil er die Stirn runzelt.

      Hand

      Jenseits der Hand, die dieses Buch hält, das ich gerade lese, sehe ich eine andere Hand, die untätig da liegt, ein wenig außerhalb meines Fokus – meine Extra-Hand.

      Die Raupe

      Am Morgen finde ich eine kleine Raupe in meinem Bett. Es gibt kein passendes Fenster, um sie hinauszuwerfen, und ich zerquetsche oder töte kein Lebewesen, wenn es nicht sein muss. Ich werde mir die Mühe machen und diese dünne, dunkle, haarlose kleine Raupe die Treppen hinunter und in den Garten hinaus tragen.

      Es ist keine Spannerraupe, obwohl sie die Größe einer Spannerraupe hat. Sie macht keinen Buckel in der Mitte, sondern bewegt sich auf ihren vielen Beinpaaren ruhig dahin. Als ich aus dem Schlafzimmer gehe, eilt sie über die Hügel meiner Handfläche hinauf.

      Aber auf dem halbem Weg die Treppe hinunter ist sie verschwunden – Handfläche und Handrücken sind blank. Die Raupe muss losgelassen haben und hinuntergefallen sein. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Im Treppenaufgang herrscht Halbdunkel, und die Treppen sind dunkelbraun gestrichen. Ich könnte eine Taschenlampe holen, um nach dem winzigen Ding zu suchen und sein Leben zu retten. Aber so weit gehe ich nicht – sie wird selbst tun müssen, was sie kann. Aber wie soll sie die Strecke die Treppe hinunter und in den Garten hinaus schaffen?

      Ich mache mit meiner Arbeit weiter. Ich glaube schon sie vergessen zu haben, habe ich aber nicht. Jedes Mal, wenn ich die Treppe hinauf oder hinunter gehe, vermeide ich ihre Treppenhälfte. Ich bin sicher, dass sie da ist und hinunterzukommen versucht.

      Schließlich gebe ich nach. Ich hole die Taschenlampe. Jetzt ist das Problem, dass die Stufen so schmutzig sind. Ich putze sie nicht, weil sie in diesem Dunkel keiner sieht. Und die Raupe ist – oder war – so klein. Vieles schaut im Schein der Taschenlampe aus wie sie – ein sehr dünner Holzsplitter oder ein dickes Stück Zwirn. Aber wenn ich sie anstupse, bewegen sie sich nicht.

      Ich kontrolliere jede Stufe auf ihrer Seite der Treppe genau, danach auch die andere Seite. Man entwickelt eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber einem Lebewesen, wenn man einmal versucht hat, ihm zu helfen. Aber sie ist nirgendwo. Es liegt so viel Staub auf der Treppe und so viel Hundehaar. Der Staub klebt nun vielleicht an ihrem kleinen Körper und macht es beschwerlich für sie, sich fortzubewegen oder zumindest die Richtung einzuschlagen, die sie einschlagen wollte. Sie ist davon vielleicht ausgetrocknet. Aber weshalb sollte sie denn die Treppe hinunterwollen – und nicht hinauf? Auf dem oberen Treppenabsatz, wo sie verschwunden ist, habe ich sie noch nicht gesucht. Das geht zu weit.

      Ich mache mich wieder an die Arbeit. Dann fange ich an, die Raupe zu vergessen. Ich vergesse sie für eine Stunde, bis ich zufällig wieder zur Treppe gehe. Diesmal entdecke ich auf einer der Stufen etwas von genau der richtigen Größe, Form und Farbe. Aber es ist flach und trocken. Das kann nicht sie gewesen sein. Das muss eine kurze Kiefernnadel oder irgendein anderer Teil einer Pflanze sein.

      Als ich das nächste Mal an sie denke, stelle ich fest, dass ich mehrere Stunden nicht an sie gedacht habe. Ich denke nur an sie, wenn ich die Treppe hinauf oder hinunter gehe. Trotzdem, irgendwo ist sie doch und versucht, an ein grünes Blatt heranzukommen, oder stirbt. Aber es kümmert mich jetzt nicht mehr so sehr. Ich bin sicher, dass ich sie bald ganz vergessen haben werde.

      Später hängt ein unangenehmer Tiergeruch im Treppenaufgang, aber das kann nicht sie sein. Sie ist zu klein, um überhaupt zu riechen. Wahrscheinlich ist sie schon tot. Sie ist wirklich einfach zu klein, als dass ich mir weiter Gedanken über sie mache.

      Kinderhüten

      Die Reihe ist an ihm, aufs Baby zu schauen. Er ist sauer.

      Er sagt: »Ich komme mit meiner Arbeit nie nach.«

      Auch das Baby ist schlechter Laune.

      Er gibt dem Baby ein Fläschchen mit Saft und setzt es bequem in einen großen Fauteuil.

      Er setzt sich in einen anderen Fauteuil und schaltet den Fernseher an.

      Gemeinsam sehen sie sich Ein seltsames Paar an.

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