Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende. Manfred Krapf
die beide ausschließlich von den Arbeitgebern finanziert werden, herrscht das Paritätsprinzip vor, demnach Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils die Hälfte der Beiträge übernehmen, allerdings mit Abweichungen bei der Krankenversicherung, wo die Krankenkassen einen nur vom Versicherten zu bestreitenden Zusatzbeitrag zahlen müssen und bei der Pflegeversicherung, wo zum Ausgleich des Arbeitgeberbeitrags ein bisheriger Feiertag gestrichen wurde (außer im Bundesland Sachsen). Neben den Beiträgen für die Sozialversicherung werden weitere sozialpolitische Leistungen durch Steuermittel als zweite große Finanzierungssäule bestritten: Dies betrifft die Grundsicherung einschließlich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Sozialleistungen für Beamte und Zuschüsse aus Steuermitteln für einzelne Zweige der Sozialversicherung in der Krankenversicherung oder den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung.
53 Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 331ff. und Ritter, Sozialstaat, S. 10ff., ebenda, S. 11 und S. 13 (die beiden folgenden Zitate).
54 Nach Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, S. 16f. habe sich erst in den 1970er Jahren der Begriff „Sozialstaat“ richtig verbreitet aufgrund des nachhaltigen Staatshandelns durch die sozialliberale Koalition und dem damit korrespondierenden Verständnis des Staates als Problemlöser.
55 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialwissenschaften, Sozialpolitik und Sozialrecht, in: Peter Masuch/Wolfgang Spellbrink/Ulrich Becker/Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Bd. 1, Berlin 2014, S. 782ff.
56 Vgl. Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 426; ähnlich auch ders., Sozialstaat, S. 182.
57 Stephan Köppe/Peter Starke/Stephan Leibfried, Sozialpolitik. Konzepte, Theorien und Wirkungen (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 06/2008), S. 7.
58 Vgl. Köppe/Starke/Leibfried, Sozialpolitik, S. 9f. und ebenda, S. 12f. und S. 13f. (die folgenden Zitate).
59 Ritter, Sozialstaat, S. 16. In der vorliegenden Arbeit wird das Bildungswesen nicht weiter behandelt, um den vorgegebenen Rahmen nicht auszudehnen.
60 Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 13.
61 Ritter, Sozialstaat, S. 20.
62 Ritter, Soziale Frage, S. 5f.
63 Vgl. dazu Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 47 (mit Verweis auf die Debatten unter den Staatsrechtslehrern um das Spannungsverhältnis zwischen dem Rechtsstaatsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip, was hier nicht weiter zu verfolgen ist).
64 Hans F. Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Stephan Leibfried/Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 56 und ausführlicher ebenda, S. 56ff.
65 Vgl. dazu Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 157ff. und ebenda, S. 157 (das folgende Zitat).
66 Vgl. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 165f.
67 Vgl. Bosch, Sozialmodell, S. 7.
68 Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 49.
III. Rahmenbedingungen des deutschen Sozialstaats: Zur Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung
Dieses Überblickskapitel skizziert die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung als den Rahmen der Sozialstaatsentwicklung. Dabei wollen wir zunächst auf die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik in ihrem Gesamtverlauf seit 1991 eingehen:
Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung und Geborene/Gestorbene seit der Wiedervereinigung (in Tausend)69
Gegenüber dem Jahr 1950 mit 69,346 Mio. Menschen hatte Deutschland im Jahre 2014 fast 12 Millionen mehr Einwohner, wenngleich die Bevölkerungsentwicklung in den beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung unterschiedlich verlaufen war. Bis 1990 war sie in Westdeutschland kontinuierlich gestiegen, in Ostdeutschland hingegen infolge der Fluchtbewegung und Übersiedlungen nach Westdeutschland gesunken. Auch nach der Wiedervereinigung bestanden Unterschiede zwischen der Entwicklung in den alten und den neuen Bundesländern, d.h. in den alten Ländern nahm die Bevölkerung überwiegend zu, hingegen sank sie in den neuen Bundesländern seit 1990 durchgehend. Die entscheidenden Faktoren für die Bevölkerungsentwicklung sind die natürlichen Bevölkerungsbewegungen, d.h. die Geburten und Sterbefälle und die Wanderungssalden. Für die Phase von 1991 bis 2014 lässt sich in Bezug auf die Geborenen und Gestorbenen festhalten:70
Im Jahre 1964 war mit 1,36 Mio. lebend geborenen Kindern der Höchststand bei den Geburten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht worden, seit 1997 ist ein kontinuierlicher Geburtenrückgang festzustellen. 2011 wurde mit 663.000 Neugeborenen der niedrigste Wert seit 1946 registriert und seitdem stiegen die Geburtenzahlen wieder etwas an. Seit 1972 waren infolge des Geburtenrückgangs immer weniger Kinder geboren worden als Menschen verstarben. In den Jahren 2009 und 2013 verzeichnete man die Höchstwerte des negativen Überschusses. Überhaupt ist in den hier besonders interessierenden Jahren seit der Jahrhundertwende durchgehend ein negativer Überschuss zu konstatieren. Inwieweit der relativ deutliche Rückgang beim Gestorbenenüberschuss 2014 eine dauerhafte Trendwende einleiten wird, lässt sich noch nicht belegen. Nach dem Geschlecht waren Ende 2014 49 % der Bevölkerung männlich und 51 % weiblich.
Im Sozialbericht 2013 hob die Bundesregierung den demographischen Wandel als wesentlichen Faktor hervor, der die Gesellschaft ähnlich wie die Globalisierung tiefgreifend verändern werde.71 Hier sei das Spannungsverhältnis zwischen zurückgehender Arbeitslosigkeit und zunehmenden Fachkräftebedarf zu beachten. Im Hinblick auf die für den deutschen Sozialstaat besonders bedeutsame Altersstruktur ist der demographische Wandel offensichtlich:72
Abbildung 2: Altersstruktur der deutschen Bevölkerung 1990 bis 2014
Der Altersaufbau seit der Wiedervereinigung zeigt die zunehmende Alterung der deutschen Bevölkerung, denn zum einen nahm die junge Bevölkerung bis 20 Jahren deutlich ab und auch die mittleren, im Wesentlichen die erwerbsfähige Bevölkerung zwischen 20 und 65 Jahren, die für das Funktionieren des Typs des deutschen Sozialstaats