DiGA VADEMECUM. Jörg F. Debatin
auch klare Vergütungsregeln für DiGA. Mit der Implementierung des DiGA-Fast-Track-Verfahrens im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist die wesentliche Hürde beseitigt worden, damit jede geeignete DiGA Zugang zu mehr als 73 Millionen gesetzlich Versicherten bekommen kann.
Vorgeschichte
Vor dem DVG konnten Anbieter digitaler Gesundheitstools lediglich über Nischen, wie z. B. Selektivverträge – also Verträge mit einzelnen Krankenkassen – oder mehr oder weniger passend als Präventionslösung eine Vergütung für ihre Produkte erzielen. In diesen Bereichen können Krankenkassen freier über Budgets entscheiden. Die Unsicherheit blieb jedoch groß. DiGA konnten nicht wirklich sinnvoll einer bestehenden Kategorie, wie z. B. Hilfsmitteln, Arzneimitteln oder Heilmitteln zugeordnet werden (s. Kap. 5 Hilfsmittel, Methode, DiGA – Wege in die GKV-Versorgung für digitale Lösungen; gute Übersicht hierzu: Thelen 2018).
Im Ergebnis führte das zu einem inkonsistenten Umgang mit digitalen Anwendungen. Dies ist in den meisten Gesundheitswesen der Welt ähnlich. Lediglich die skandinavischen Länder, Israel, Singapur, UK und Teile der USA nutzen heute bereits strukturiert digitale Anwendungen zur Versorgung der PatientInnen. Dort kommen digitale Anwendungen jedoch zumeist nur in Teilsystemen zur Anwendung, betreffen also nur relativ kleine Populationen und unterliegen sehr unterschiedlichen Zulassungsprozessen und Vergütungsmodellen.
Warum beschäftigt sich das deutsche Gesundheitswesen überhaupt mit DiGA? Warum sind die medizinisch relevant? Bisher wirken ambulant tätige ÄrztInnen im Wesentlichen in der kurzen Zeit, in der sie ihre PatientInnen sehen und untersuchen können. Im Schnitt dauert dies in Deutschland 7,6 Minuten je Termin (Nier 2017). All das, was in 7,6 Minuten gesagt, erläutert und von PatientInnen verstanden wird, und dann im Alltag der PatientInnen Widerhall findet, kann die Gesundheitssituation des Einzelnen verändern. Ob Medikamente genommen, Verordnungen für Physiotherapie in Anspruch genommen, Hilfsmittel wie eine orthopädische Einlage tatsächlich genutzt werden – all dies können ÄrztInnen nur über geschicktes Nachfragen beim nächsten Besuch der PatientInnen erfahren, wenn dafür Zeit und Muße bleibt.
Neue Realität dank digitaler Gesundheitsanwendungen
Mit DiGA kann Medizin nun aber niederschwellig im Alltag der PatientInnen integriert werden. Ob digitales Tagebuch, Entspannungsübungen, Sensorik für Home-Monitoring oder Ernährungscoaching – die DiGA der ersten Generation können Smartphone- oder Browser-basiert auch außer-halb der 7,6 Minuten Arzt-Patient-Interaktion die ambulante Versorgung situationsbezogen unterstützen. Sie können longitudinal Daten aus dem Alltag der PatientInnen erheben sowie Verhaltensänderungen induzieren und nachhalten. Mit DiGA können darüber hinaus stärker als bisher auch die Alltagsimplikationen von Indikationen für PatientInnen ermittelt und gezielt verbessert werden. Im Sinne des Health Technology Assessments geht es nicht nur um den rein medizinischen Nutzen, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung der Gesundheitssituation der PatientInnen.
Dass das deutsche Gesundheitswesen, welches sich so lange und so erfolgreich gegen fast jede Form digitaler Technologien gewehrt hat, nun eine strukturierte Öffnung ermöglicht, ist eine Zeitenwende. Dieser Schritt bedeutet noch nicht, dass alle SkeptikerInnen überzeugt und breite Teile der ÄrztInnen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenkassen oder Krankenhäuser plötzlich glühende UnterstützerInnen von DiGA im Speziellen oder der Digitalisierung im Allgemeinen wären. Nichtsdestotrotz können sich DiGA nun in der Versorgungsrealität beweisen. Alltagspraktische Erfahrungen können gesammelt und dabei Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken digitaler Gesundheitsanwendungen kennengelernt werden.
Das Umfeld digitaler Gesundheitsanwendungen
Es lohnt ein etwas detaillierterer Blick auf die Akteure, um deren Historie und aktuelles Verhalten besser einordnen zu können. Die Einschätzung ist subjektiv, basiert allerdings auf sehr vielen intensiven Gesprächen und Interaktionen mit unterschiedlichen Akteuren im Verlauf der letzten 14 Monate:
Krankenkassen
Die Krankenkassen hüten und verwalten im Namen ihrer Mitglieder die Versichertenbeiträge, um eine bestmögliche Versorgung jedes einzelnen gesetzlich Krankenversicherten zu ermöglichen. Bereits 2014 nahmen vereinzelte Krankenkassen digitale Angebote für ihre Versicherten auf. Die Kasseler Stottertherapie gehört durch ihre Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse zu den Pionieren der digitalen Therapie. Die Softwarelösung – wenn auch kein Medizinprodukt – ermöglicht Sprachtherapie vom heimischen PC aus (Institut der Kasseler Stottertherapie 2018). 2015 ermöglichte die Techniker Krankenkasse ihren Versicherten die Nutzung eines digitalen Medizinprodukts, der Tinnitus-Therapie-App Tinnitracks. 2016 folgte die Barmer Krankenversicherung mit den Apps von Mimi Hearing Technologies zur Hörprävention und -Testung (Barmer 2018). Dies sind nur einzelne Beispiele. Seitdem haben viele Krankenkassen über Selektivverträge oder Präventionsbudgets digitale Medizinprodukte für ihre Versicherten angeboten. Die Verträge mit den Herstellern waren oft exklusiv und zeitlich begrenzt. Dennoch hat kein anderer Akteur seit 2015 so mutig digitale Medizinprodukte ausprobiert und Erfahrungen gesammelt wie die gesetzlichen Krankenkassen.
Durch den DiGA-Fast-Track verändert sich die Situation für die Krankenkassen. Mit der Fast-Track-Zulassung erhalten DiGA-Hersteller nun direkt Zugang zum gesamten deutschen GKV-Markt. Einzelne Krankenkassen können aber weiterhin über Selektivverträge z. B. Zusatzangebote zu DiGA, wie ein begleitendes Coaching zu einer Mental-Health-DiGA anbieten oder die DiGA in ein komplexeres Versorgungskonzept einbinden, sodass weitere Teile der Patient Journey abgebildet werden. Es eröffnen sich dadurch insgesamt mehr Möglichkeiten für Krankenkassen, die Versorgung ihrer Versicherten durch (digitale) Innovationen zu verbessern. Dazu gehören auch Neuerungen des Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), die den Krankenkassen bislang nicht vorhandene Möglichkeiten verschaffen:
1. Krankenkassen können sich gemäß § 68b SGB V nun auch aktiv an der Entwicklung digitaler Innovationen z. B. in Form von digitalen Medizinprodukten oder telemedizinischen Versorgungskonzepten beteiligen. Indem Krankenkassen an der Entwicklung von Angeboten für ihre Versicherten teilnehmen, nehmen Sie eine noch aktivere Rolle im Management der Gesundheit ihrer Versicherten ein.
2. Krankenkassen können dank des DVG erstmalig ihren Versicherten DiGA auch direkt empfehlen und gemäß § 33a Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 genehmigen – soweit der Kasse eine entsprechende ärztliche Diagnose des individuellen Patienten vorliegt. So könnte eine Krankenkasse z. B. all ihren bereits diagnostizierten Mitgliedern mit Rückenschmerzen eine spezifische DiGA oder ein ganzes Portfolio passender DiGA empfehlen. Interessierte Mitglieder müssen dann nicht extra zu ÄrztInnen oder PsychotherapeutInnen gehen, sondern erhalten den Rezept-Code direkt von ihrer Kasse, z. B. über die Krankenkassen-App.
Krankenkassen werden auch in Zukunft digitale Medizinprodukte nutzen um sich im Markt gegenüber dem Wettbewerb als besonders innovativ und alltagsrelevant zu positionieren. Durch das DVG haben sie zusätzliche Möglichkeiten, stärker mit ihren Mitgliedern zu interagieren und DiGA zu empfehlen und bei entsprechender Diagnose zu genehmigen.
ÄrztInnen
Die große Mehrheit der ÄrztInnen hat durch die Corona-Pandemie andere Prioritäten, als sich intensiv mit DiGA auseinander zu setzen. Sie haben zudem eher die zum 01.01.2021 einzuführende ePA auf dem Radar und ggfs. das eRezept. DiGA werden von vielen bisher eher als „Spielerei“ wahrgenommen. ÄrztInnen richten sich stark an Einschätzungen und Vorgaben ihrer wissenschaftlichen Fachgesellschaften aus, wenn es um den Einsatz neuer Diagnose- oder Therapiemöglichkeiten geht (s. Kap. 6.1 Einbindung von Versorgungsexpertise – Fragen Sie einen Arzt oder ...). In den letzten Jahrzehnten