DiGA VADEMECUM. Jörg F. Debatin
Leistungserbringer ist gekennzeichnet von häufigen IT-Problemen und -Ausfällen, seien es nicht funktionierende Konnektoren oder Probleme mit dem Praxisverwaltungssystem (PVS). Digitale Technologien konnten in den vergangenen Jahrzehnten selten die hohen Erwartungen der Ärzteschaft erfüllen, zumeist waren die neuen Lösungen nicht interoperabel mit der bestehenden Infrastruktur (und vice versa), erforderten hohen manuellen Pflegeaufwand und waren zudem oftmals nicht an bestehenden Prozessen und Routinen der ÄrztInnen ausgerichtet.
Es gibt eine technikaffine und sehr aufgeschlossene Minderheit der ÄrztInnen, die auch schon vor dem Fast-Track digitale Medizinprodukte in der ambulanten Behandlung eingesetzt haben. Diese Minderheit dürfte in den nächsten Monaten als Early Adopter für DiGA stark umworben werden. Die große Mehrheit wird folgen, wenn es Best-Practice-Beispiele gibt, Key Opinion Leader auf ärztlichen Fachkongressen von erfolgreichen Einsätzen der DiGA berichten und mehr Evidenz vorliegt. Für eine ausführliche Analyse dieser wichtigen Zielgruppe siehe Kapitel 6.1 Einbindung von Versorgungsexpertise – Fragen Sie einen Arzt oder ...
PsychotherapeutInnen
Neben ÄrztInnen sind PsychotherapeutInnen maßgebliche Akteure im Umfeld der DiGA. Sie können ihren PatientInnen DiGA ebenso verordnen. Anbieter von Mental-Health-Lösungen werden sich entsprechend auf diese Gruppe fokussieren. PsychotherapeutInnen haben im Zuge der Pandemie beispielsweise gezeigt, dass sie gegenüber digitalisierter Medizin, insbesondere in Form von Videosprechstunden, durchaus aufgeschlossen sind (hih 2020a). Trotzdem bleibt in der Mehrheit eine Grundskepsis bestehen.
Neben ÄrztInnen sind PsychotherapeutInnen eine relevante Zielgruppe für DiGA, die grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber digitalen Angeboten ist. Auch hier gilt es, Early Adopter durch den nachgewiesenen Nutzen der DiGA für PatientInnen zu überzeugen.
Krankenhäuser
ÄrztInnen in Krankenhäusern können laut DVG nur im Rahmen des Entlassmanagements DiGA verordnen. Die große Mehrheit der deutschen Krankenhäuser ist IT-technisch eher bescheiden aufgestellt, mitunter wird noch überwiegend papierbasiert gearbeitet. Leuchttürme wie die Universitätskliniken in Heidelberg oder Hamburg-Eppendorf sowie einige Kliniken in privater Trägerschaft ausgenommen, steht das Gros der deutschen Krankenhäuser ganz am Anfang der Digitalisierung – sowohl innerhalb der Häuser, als auch im Hinblick auf die Kommunikation mit anderen Sektoren.
Es wird einige DiGA geben, die zum Zeitpunkt der Entlassung verordnet werden können. Diese werden sich schon in Kürze auf den stationären Markt, dort vor allem auf die Universitätsklinika und Leuchttürme fokussieren. Der große Rest der Krankenhäuser ist mit sehr substanziellen Herausforderungen beschäftigt, und wird sich DiGA wohl erst im Laufe der nächsten Jahre widmen können. Für Details siehe Kapitel 6.3 Krankenhäuser – digitale (Gesundheits-)Tools.
PatientInnen
Die hohe Akzeptanz der Corona-Warn-App mit > 12 Mio. Downloads in der ersten Woche (erfolgreicherer Launch als Pokémon Go [statista 2016]) deutet darauf hin, dass der öffentliche Diskurs und die gelebte Realität stark auseinanderdriften. Während in den Medien Sorge um Datenschutz und -sicherheit gegen eine rasche Adaption von DiGA ins Feld geführt wird und älteren Menschen die Usability Skills für DiGA oft abgesprochen wird, sind wir davon überzeugt, dass eine Mehrheit der gesetzlich Krankenversicherten gegenüber DiGA grundsätzlich aufgeschlossen ist. Diese These bestätigen Befragungen (siehe z. B. bitkom 2020). Für viele PatientInnen scheinen dabei zwei Dinge besonders wichtig zu sein: Digitale Angebote müssen klar und in ansprechender Form ihren Nutzen transportieren und der Schutz der Gesundheitsdaten muss ausdrücklich gewährleistet sein.
Auch für PatientInnen dürfte jedoch die Haltung ihrer ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen entscheidend sein. Wenn diese ihnen eine DiGA ausdrücklich empfehlen und entsprechend verordnen, werden auch Patientengruppen jenseits der Early Adopter DiGA nutzen.
Wichtige Digitalisierungsprojekte neben dem Fast-Track
Neben dem DiGA-Fast-Track gibt es ein ganz wesentliches Digitalisierungsprojekt, welches Grundlage für viele weitere Projekte und Initiativen ist, und das – wenn erfolgreich umgesetzt – die Basis für ein florierendes digitales Gesundheitsökosystem in Deutschland schaffen könnte: Die Telematikinfrastruktur (TI) mit ihren Anwendungen wird der Digitalisierung im Gesundheitssystem enormen Vorschub leisten. Hierzu gehören die elektronische Patientenakte (ePA), der Notfalldatensatz (NFD), der elektronische Medikationsplan (eMP), das eRezept sowie die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) (s. Kap. 10 ePA und TI – Ein Blick über den DiGA-Tellerrand). Diese Entwicklungen sollten alle Hersteller von digitalen Gesundheitstools stets im Blick behalten.
4
Hallo, ich bin neu hier, wie funktioniert das deutsche Gesundheitswesen?
Wir kennen niemanden, der das gesamte deutsche Gesundheitswesen komplett versteht – aber keine Panik, wie der Hitchhiker’s Guide sagt, es reicht zumeist, wenn man sich einigermaßen orientieren kann. Wenn man Bismarcks Sozialgesetzgebung als Start nimmt, ist es über fast 140 Jahre gewachsen. Es ist ein hochkomplexes Gebilde, welches zum Großteil weniger von der Politik als von den eigenen Stakeholdern verwaltet wird (Stichwort gemeinsame Selbstverwaltung, s. u.). Es gibt kaum einen Teilbereich, der nicht umfangreich geregelt und vielfach reformiert wurde. Dieses Kapitel gibt einen knapp gefassten Einblick, um das Verständnis der weiteren Kapitel dieses Buches zu erleichtern.
Duales Versicherungssystem
Das deutsche Gesundheitswesen ist von einem Nebeneinander von gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) geprägt. Ca. 73 Millionen Menschen sind gesetzlich versichert. In der GKV werden alle Versicherten im Hinblick auf Leistungen und Beiträge unter Berücksichtigung ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Bedarfs gleichbehandelt (Solidaritätsprinzip). In der PKV entscheidet der Versicherte, welche Leistungen er in Anspruch nehmen möchte und welchen Tarif er entsprechend zu zahlen bereit ist. Hinzu kommt, dass das individuelle Risiko, z. B. Vorerkrankungen, und der resultierende Bedarf berücksichtigt werden. Aus diesen und anderen Faktoren ergibt sich ein individueller Tarif (Äquivalenzprinzip). Anders als in der PKV gilt in der GKV, dass Versicherte nicht in Vorleistung gehen müssen und Kosten von der Versicherung erstattet bekommen; Versicherte erhalten Leistungen unmittelbar als Sachleistung oder Dienstleistung. Ansprüche von Versicherten auf bestimmte Leistungen zur Krankenbehandlung bestehen rechtlich gesehen gegenüber der jeweiligen Krankenkasse, die diese Leistungen allerdings nicht selbst erbringt, sondern sich gleichsam der Leistungserbringer bedient. Die Abrechnung erbrachter Leistungen erfolgt zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Es bestehen nur wenige Ausnahmen von diesem Grundsatz. Das führt dazu, dass regelmäßig Preise mit Krankenkassen oder gar einheitliche Preise für alle Krankenkassen mit dem Spitzenverband Bund der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband – GKV-SV) vereinbart werden müssen. So ist es auch