„… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“. Richard A. Huthmacher
– ein guter Tod?
Reinhard betrachtete ihr Gesicht, das nur noch aus Haut bestand, welche den knöchernen Schädel überspannte, und musste unweigerlich an einen Schrumpfkopf denken. An den eingeschrumpften Kopf eines getöteten Menschen. In der Tat: getötet hatte man seine Frau. Ohne dass irgendjemand außer ihm aufgeschrien hätte.
Ähnlich bizarre Gedanken wie der Vergleich mit einem Schrumpfkopf kamen Reinhard fortwährend in den Sinn. So dachte er an Hölderlin und dessen über alles geliebte Susette. Welche er, Hölderlin, vom Totenbett gerissen, in seinen Armen gehalten, in unsäglicher Verzweiflung umher geschleppt, durchs Totenzimmer geschleift hatte. Bis man ihn gewaltsam entfernte. Im Nachhinein wusste Reinhard nicht mehr, ob auch er seine Maria in schierer Verzweiflung aus dem Bett gezerrt und in den Armen gewiegt hatte; jedenfalls konnte er sich deutlich an ihren ausgezehrten Körper erinnern, an ihre Arme, die nur noch knöcherne Röhren, an ihre Rippen, die so spitz waren, dass er sich daran geradezu hätte stechen können.
Ihm fiel ein, dass man Maria eine parenterale Ernährung verweigert hatte. Um ihren Leidensweg zu verkürzen. Angeblich. Hatte man sie schlichtweg verhungern lassen? Denn parenterale Ernährung ist teuer. Und muss man vorhandene Ressourcen nicht vornehmlich denen zugutekommen lassen, die sich, im Gegensatz zu unheilbar Kranken und Sterbenden, noch an der Gesellschaft „verdient“ machen können?
In diesem Moment schämte sich Reinhard geradezu, dass er zu den Mitbegründern der Hospizbewegung in Deutschland gehörte, die sich in den Achtziger–Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte. Maßgeblich beeinflusst, getragen von den wunderbaren Gedanken einer Elisabeth Kübler-Ross, die in ihrem eigenen Sterben so alleine war wie ein verjagter räudiger Hund.
Er wollte sich indes nicht wie Hölderlin in den Irrsinn flüchten. Seine Feinde würden sich vor Freude auf die Schenkel schlagen. Zumal sie ohnehin versuchten, ihm eine psychische Erkrankung anzudichten. Um ihn, den kritischen Arzt, den unliebsamen Querdenker, den Renegaten, der immer wieder seinen Finger in die Wunden des Medizinbetriebs legte, aus dem Verkehr zu ziehen. Mundtot zu machen. Hinter Psychiatrie-Mauern verschwinden zu lassen. Für immer und ewig.
Gleichwohl schrie er auf ob der Verbrechen, die an seiner Frau und ihm begangen wurden. Indes: Zu groß war die Feigheit derer, die davon wussten, jedoch nichts taten – „Freunde“ ebenso wie Amnesty international („in Deutschland können Sie doch die Gerichte bemühen, wir leben schließlich in einem Rechtsstaat“), Human Rights Watch (die sich nicht einmal die Mühe machten, ihm zu antworten) geradeso wie investigative Journalisten oder Künstler und Schriftsteller. Von Wecker bis Walser, von Wallraff bis Grass oder Jelinek.
Seine Presseerklärungen waren Legion, interessiert hatten sie (fast) niemand. Einmal wollte das Schweizer Fernsehen ein Interview mit ihm senden. Kurz vor dessen Ausstrahlung wurde der zuständige Ressortleiter ohne Angabe von Gründen gefeuert. Das Geld der Anzeigen-Auftraggeber war zu wichtig, der politische Einfluss „von oben“ zu groß, sein „Vergehen“ (Krebskranken für wenig Geld zu helfen) zu verwerflich, als dass sich eine helfende Hand gerührt hätte. U.a. hatte er den folgenden Aufruf verfasst – ohne jegliche Reaktion der Angesprochenen:
Öffentlicher Aufruf
Ich bin vorm. Chefarzt und Ärztlicher Direktor. Und habe u.a. neue, alternative Methoden der Krebsbehandlung entwickelt. Die erfolgreich, den Patienten schonend und zudem extrem kostengünstig sind.
Dadurch störe ich die Kreise derer, die durch die Medizin möglichst viel Geld verdienen wollen und – auch deshalb – kategorisch eine Unterordnung unter schulmedizinisches (Pseudo-)Wissen verlangen.
Aufgrund vorgenannten Sachverhalts hat man meine Frau und Mitstreiterin, eine international bekannte Philosophin – psychisch zeitlebens völlig gesund und niemals zuvor in irgendeinem Kontakt mit dem Psychiatrie-Apparat –, zwangsweise psychiatrisiert. Ohne Grund, ohne Diagnose, ohne rechtliche Grundlage. Mit Polizeigewalt aus unserem Haus verschleppt. In einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung zwangsbehandelt. Ende letzten Jahres ist meine über alles geliebte Frau gestorben. Man kann natürlich auch sagen, man hat sie ermordet.
Nun will man auch mich psychiatrisieren. Mit denselben Methoden wie in (kommunistischen oder faschistischen) Diktaturen üblich. Deshalb brauche ich dringend den Schutz einer informierten Öffentlichkeit.
Darum meine Bitte: Informieren Sie die Medien (Internet, Presse, Verlage, Fernsehen, Rundfunk). Versuchen Sie, den Kontakt zu kritischen Journalisten und sonstigen nicht absolut systemgläubigen „Personen des öffentlichen Lebens“ (Musiker, Schauspieler, Künstler allgemein etc.) herzustellen. Berichten Sie über die Vorgänge, wenn Sie als „Medienmacher“ die Möglichkeit dazu haben.
Dadurch, dass Sie verhindern, dass neue, bahnbrechende Behandlungsmethoden unterdrückt werden, retten Sie vielleicht irgendwann Ihr eigenes Leben oder das eines geliebten Angehörigen.
Nähere Informationen und Kontakt:
Dr. med. R.A. H…
Arzt, Facharzt, Chefarzt und Ärztlicher Direktor i. R.
...
Reinhard hatte das System von Herrschaft und Unterwerfung, das sie ihn Demokratie zu nennen gelehrt hatten, in Frage gestellt, indem er sich dessen Gestaltungs- und Ordnungsprinzipen nicht mehr kritiklos unterwarf; dadurch war er zum Ausgestoßenen, sozusagen vogelfrei geworden. Und konnte nur hoffen, dass man ihn nicht zugrunde richten würde. Denn Renegaten, Abtrünnige werden seit jeher aufs schwerste bestraft. Weil sie grundsätzlich in Frage stellen: bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, den Irrsinn vorhandener Ordnungsstrukturen, die Vergewaltigung des Denkens, Fühlens und Seins. Weil sie – wie Fromm – ein richtiges Leben im falschen nicht für möglich halten und sehen und kundtun, wie die Menschen an diesem ihrem falschen Leben zerbrechen. Seelisch. Physisch. Existentiell.
Worin bestand nun sein Verstoß gegen die „geltende Ordnung“? Schlichtweg darin, dass er heilen konnte, wo die Schulmedizin versagt. Dann heilen konnte, wenn die Schulmedizin hilflos war. Wenn sie Schwerstkranken mehr schadete als nützte. Beispielweise bei Krebserkrankungen. Aber nicht nur dort. Was er natürlich an Hand von Patienten-Akten beweisen konnte. Und weshalb „man“ (will heißen: die instrumentalisierte Staatsgewalt, der Erfüllungsgehilfe entsprechender Interessengruppen wie der Pharmaindustrie) bei ihm regelmäßig Hausdurchsuchungen machte, um Unterlagen zu beschlagnahmen und seiner Forschungsergebnisse habhaft zu werden. Die er zwischenzeitlich natürlich im Ausland und sonst wo in Sicherheit gebracht hatte. Hausdurchsuchungen, Überfälle, Bedrohungen und Ähnliches mehr. Wohlgemerkt auch des Staatsapparats. Wider jedes – formale – Gesetz natürlich.
Auch wollte man ihn für verrückt erklären. Per Ferndiagnose, denn niemals hatte ihn ein Psychiater, einer dieser Schandflecke der medizinischen Zunft, auch nur zu Gesicht bekommen. Ver-rückt war er tatsächlich, indes nicht im Sinne von psychiatrisch krank. Vielmehr hatte er sich selbst aus der gängigen Ordnung ge-rückt, war damit in der Tat tatsächlich ver-rückt. Weil er nicht mehr das Profit-Spiel der Pharma-Industrie spielte. Sondern mit alternativen, will heißen nicht-schulmedizinischen Methoden seine Patienten heilte. Für einen verschwindend kleinen Bruchteil der Kosten, welche die Schulmedizin verursacht. So dass er sich des Verbrechens schuldig machte, das überaus profitable Geschäft des medizinisch-industriellen Komplexes zu stören.
Jedenfalls war dieser Versuch, ihn zu psychiatrisieren, um ihn unter Bruch sämtlicher formaler Gesetze wegzusperren, eine elegante Art, sich seiner zu entledigen. Ihn umzubringen hätte möglicherweise zu viel Aufsehen erregt. Einen Kennedy, eine Marylin Monroe, eine Lady Dy, auch einen Johannes Paul I. kann man nicht einfach wegsperren, die muss man eliminieren. Bei einem kleinen Arzt verhält es sich umgekehrt.
Trotz alledem würde Reinhard niemals freiwillig aufgeben. Bis er den Tod seiner Frau „gerächt“, will heißen, die Täter benannt und in der Öffentlichkeit bloßgestellt hatte: als eitel, dumm – im Sinne von ignorant, also nicht-wissend, nicht erkennend, kritiklos bejahend, ohne je zu hinterfragen; auch im landläufigen Sinne „gebildete“ Menschen können durchaus ignorant sein! –, als egoistisch, machthungrig und skrupellos. Bis