Keine Zeit für Arschlöcher!. Horst Lichter

Keine Zeit für Arschlöcher! - Horst Lichter


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zehn oder zwölf Tagen auf der Intensivstation – die sich wie einer anfühlten, weil jeder Tag gleich ablief, es war wie im Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« – fühlte ich mich wie eine stupide Maschine. Die fuhr morgens hin, ging mittags für zwei Stunden, fuhr nachmittags wieder hin und blieb dann bis spätabends bei Mutter. Jeder Tag war gleich furchtbar, man konnte einfach nichts ändern.

      Um diese grausame Stille zwischen uns erträglich zu machen, die nur gebrochen wurde vom nervtötenden Piepen und Surren der Maschinen, fuhr ich nach Rommerskirchen zu einem alten Elektroladen, den ich noch aus meiner Kindheit kannte. Ich kaufte einen CD-Spieler, besorgte mir ein paar Hörbücher wie »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand«, weil ich das Buch wunderschön fand. Natürlich wollte ich vor allem auch Mutter ablenken, sie unterhalten, in eine andere Welt entführen. Ich dachte, das wäre eine gute Idee. Also kaufte ich das alles und baute es gutgelaunt in ihrem Zimmer auf. Ich sagte – ich sprach ja immer mit ihr, obwohl sie nicht antwortete: »Mutter, jetzt schau dir das an! Damit du hier nicht nur über dich nachdenkst und Trübsal bläst, hab’ ich dir was Wunderschönes mitgebracht. Jetzt lachen wir uns mal ein bisschen die Sorgen weg.«

      Und dann passierte es. Mutter richtete sich mühsam in ihrem Bett auf und sprach mich an. Urplötzlich und ohne Vorwarnung. Das alleine erwischte mich schon völlig auf dem falschen Fuß. Aber was sie dann sagte, das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Diese Worte werde ich mein Leben lang nicht vergessen: »Junge, meinst du nicht, dass es langsam mal Zeit wird, dass du aufhörst mit dem Blödsinn, den du immer machst? Hör endlich auf, der Clown zu sein. Die Zeit für Spaß ist vorbei, Junge. Geh jetzt und komm morgen wieder, wir müssen ernsthaft reden.«

      Sprachlos stand ich auf, verließ das Zimmer und fuhr zurück ins Hotel, völlig perplex.

      4. Der unbelehrbare

       Clown

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      Im Hotelzimmer saß ich ungefähr zwei Stunden auf einem Stuhl und starrte die Wand an. Ich war verwirrt, total von der Rolle. Gekränkt, schockiert, verzweifelt, wütend. Fühlte mich abgekanzelt, gemaßregelt wie ein Fünfjähriger. Da ist man über 50 Jahre alt, hat sich hart zum Erfolg malocht und die eigene Mutter, die todkrank im Bett liegt, fährt einem über den Mund, als wäre man immer noch ein dummes Kleinkind. »Hör endlich auf, der Clown zu sein. Die Zeit für Spaß ist vorbei, Junge.« Immer wieder hörte ich ihre Stimme. Müde, tadelnd und abwertend. Als ob ich ihr immer nur Kummer bereitet hätte.

      Horst, der Clown, der für alle immer Blödsinn macht. Sie sagte das so verärgert, so verachtend. War ich in ihren Augen das Sorgenkind? Ich saß nur da und dachte nach, versuchte, mich in meine Mutter hineinzuversetzen, sie zu verstehen. Versuchte, mir ein klares Bild von unserem Verhältnis zu machen. »Welchem Verhältnis?«, dachte ich. Mir wurde schmerzhaft klar, dass Mutter und ich nie ein sehr inniges Verhältnis zueinander gehabt hatten. Ich war immer ein Papa-Kind. Papa war mir immer der Liebste. Obwohl – oder weil? – er eigentlich nie da war, denn er hat ja immer nur gearbeitet. Papa hatte mich nie geschlagen. Einmal ist er mit dem Besen hinter mir hergelaufen, aber er hat mich nicht gekriegt. Weil er mich sowieso nicht kriegen wollte. Mutter? Ich weiß nicht, wie oft die mir den Arsch versohlt hat. Aber daran konnte ich mich sehr wohl erinnern. Woran ich mich nicht erinnern konnte, sosehr ich das auch wollte, waren Zärtlichkeiten, Schmusereien. Oder mal am Sonntagmorgen eine große Kuschelei im Bett. Hatten wir gemeinsam Lieder gesungen? Hatte sie mir Geschichten erzählt oder vorgelesen? Waren wir im Zoo gewesen oder etwa auf dem Rummelplatz? Ich wusste es nicht mehr und fühlte mich deswegen hundeelend. Dann dachte ich, bestimmt haben wir das alles gemacht und ich habe es einfach nur vergessen. Aber wenn ich ganz tief in mich hineinhorchte, war da diese traurige Kinderstimme, die sagte: »Nein, das hat es alles nicht gegeben.«

      Ich fragte mich, ob etwas mit Mutters Liebe zu mir nicht stimmte. Fast überglücklich fiel mir ein, dass sie mir immer, wenn ich krank gewesen war, einen Kuchen gebacken hatte. Aber mit körperlicher Nähe hatte das streng genommen natürlich auch nichts zu tun. Da saß ich also verunsichert und traurig in meinem Hotelzimmer und weinte. Ich hoffte, dass die Tränen etwas von dieser trostlosen Traurigkeit fortspülten. Meine Gedanken drehten sich um Mutters Worte. »Warum habe ich immer Blödsinn gemacht? Was genau meinte sie mit Blödsinn? Was ist daran so falsch, ein Clown zu sein? Mein Humor und meine Lebenslust haben mir durch so viele Schicksalsschläge geholfen. Mir bei meiner Karriere im Fernsehen geholfen. Das mögen doch die Leute an mir.« Ich hatte immer geglaubt, genau das sei authentisch an mir. Aber jetzt hatte Mutter den Glauben mit zwei Sätzen zerstört. War ich nur aufgesetzt lustig? Versteckte ich mich hinter der Clownsmaske? War ich ein ganz anderer Mensch? Mochte ich deswegen so gerne das Lied von Heinz Rühmann?

      »[…] Der Clown, der Clown

       war immer lustig anzuschaun,

       doch keinen ließ der Clown, der Clown

       in sein Herz hineinschaun […]«

      Meine Kindheit war hart. Das Leben für meine Eltern war auch sehr hart. Wie viele der Kriegskinder-Generation kannten sie Armut, Hunger und Entbehrungen. Sie waren ohne viel Zuneigung und Wärme aufgewachsen, wie sollten sie also etwas weitergeben können, das sie nicht kannten. Nie erlebt hatten. Die Zeiten haben sich geändert und das ist gut so. Dieses ganze »gelobt sei, was hart macht« und »schreiende Babys bekommen eine starke Lunge« hat sich Gott sei Dank weitgehend erledigt. Gewalt gegen Kinder ist gesellschaftlich geächtet und wird völlig zu Recht bestraft. Als ich Kind war, durfte jeder Erwachsene Kinder schlagen. Lehrer, Pfarrer, Eltern – der dazugehörige Spruch war: »Hat noch keinem geschadet« oder etwas zynischer »Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen«. Wahnsinn.

      Wir lebten mit den Eltern meines Vaters und seinem Bruder in einem Haus. Wir wohnten unten. Die oben machten meiner Mutter das Leben zur Hölle. Alkoholkrank und nur am Meckern, das war mein Onkel. Ein richtiges Arschloch, das seine ganze Umgebung malträtierte. Ein böser und unangenehmer Mensch. Während mein Vater sich von frühmorgens bis spätabends den Rücken krumm schuftete, zoffte sich über uns der versoffene Rest der Familie. Meine Mutter wusch Wäsche, kaufte ein und pflegte die kranken Schwiegereltern. Das war kein schönes Leben für eine junge Frau. Viel Arbeit, Armut, alkoholkranke Menschen und eigene Kinder – wer würde da nicht manchmal verzweifeln? Meine Mutter war immer am Limit ihrer geistigen und körperlichen Kräfte. Und das haben wir zu spüren bekommen. Diese aufgestaute Verzweiflung, diese Wut über die nicht zu ändernden Zustände waren sicher eine nachvollziehbare Ursache für ihre oft aggressive, aufbrausende Art gegenüber Vater und mir. Eine Geschichte werde ich nie vergessen: Mutter hatte mich losgeschickt mit ihrem Portemonnaie, um Schuhe beim Schuster abzuholen. Im Geldbeutel waren zehn Mark drin, für uns ein Vermögen. Auf dem Rückweg vom Schuster kam ich unglücklicherweise an einem kleinen Laden vorbei, an dem draußen ein Kaugummiautomat hing. So ein Kaugummiautomat hatte auf Kinder damals eine Anziehungskraft wie heutzutage eine Playstation oder ein Handy. Wie von Geisterhand angezogen stand ich vor dem knallroten Automaten der Verheißung und wollte nichts sehnlicher als eine dieser dicken, bunten Kaugummikugeln. Ich konnte sie schon auf meiner Zunge schmecken, herrlich süß mit einer sauren Brausefüllung im Inneren. In mir brodelte der Konflikt. Ich wägte sorgsam ab, bis mir eine Idee kam: Da der Schuster mir keine Rechnung gegeben hatte, hab’ ich gedacht »ach komm, da fallen zehn Pfennig nicht auf« … und dann habe ich mir einen Kaugummi gezogen.

      Betont unauffällig setzte ich mich zu Hause mit an den Abendbrottisch. Dann sagte Mutter: »Und Junge, was haben die Schuhe gekostet?« Darauf war ich natürlich bestens vorbereitet und antworte: »Zwei Mark sechzig.« Die zehn Pfennig hatte ich natürlich schon obendrauf gerechnet.

      Es schien zu funktionieren, doch dann sagte sie: »Gut. Wo ist das Portemonnaie?« Der Blitz des Unglücks traf mich mitten ins Herz und mir wurde augenblicklich klar, dass ich das Portemonnaie auf dem Kaugummiautomaten vergessen hatte. Vor Schreck sprang ich sofort auf und rannte los. Mutter tobte. Sie schrie wie eine Furie hinter mir, ich sollte bloß nicht mehr ohne Portemonnaie nach Hause kommen.

      Ich bin gerannt, so schnell mich meine kleinen Beinchen trugen, denn der Automat


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