Träumen. Gottfried Wenzelmann
in den Langzeitspeicher des Kortex überführt. Zugleich werden dabei nicht mehr benötigte Daten gelöscht, was zur Entlastung des Gedächtnisspeichers führt. Spitzer drückt es bildhaft aus: „Der Hippocampus fungiert im Schlaf als Lehrer des Kortex.“11
Zum andern besteht der Nutzen des Traumes in der emotionalen Neubewertung und Bearbeitung von bereits bestehenden Inhalten. Im Traum können Informationen aus ganz verschiedenen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbereichen miteinander neu verknüpft werden. Im Schlaf und Traum herrscht daher eine andere Logik und eine andere Affektivität als im Wachen, die uns nach dem Aufwachen häufig fremd erscheinen. Weil im Traumzustand andere Informationen zugänglich sind, die im Wachzustand nicht zur Verfügung stehen, entwickelt das Gehirn im Traum andere Verarbeitungsstrategien als im Wachzustand. Alte und neuere negative affektgeladene Erfahrungen werden auf diese Weise zur „Wiedervorlage“ gebracht, verarbeitet und gespeichert. Dabei werden neue Zusammenhänge innerhalb des vorhandenen Wissens und Sinngebungen von Erfahrungen möglich und zugänglich. In solchen Prozessen können Kindheitserinnerungen mit gegenwärtigen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Der Schlafende kann auf diese Weise über einen längeren Zeitraum seine Biografie mehrmals durchgehen. Diese Einsicht ist für die Verarbeitung von psychischen Verletzungen und traumatischen Erfahrungen bedeutsam: Träume sind dafür heilsam und lebensnotwendig. Außerdem können so zukünftige Handlungsmuster und -varianten, Entwicklungsrichtungen der Persönlichkeit und schöpferische Ideen entstehen. Neues kann in diesem Prozess zum Vertrauten werden. Von daher kann man das Träumen mit gutem Grund als Gedächtnisarbeit im Schlaf bezeichnen, in dem wichtige Lernprozesse ablaufen. So trägt der Traum dazu bei, die Anpassung an neue Situationen zu verbessern, psychisches Wachstum zu fördern und weitergehende Entwicklungsschritte zu ermöglichen.
Das eine oder andere Ergebnis, das das nächtliche Kopfkino in den vielschichtigen neuronalen Prozessen im Traum hervorbringt, kann und will im Wachzustand fruchtbar werden, indem es vom Bewusstsein aufgegriffen wird. Das soll in den kommenden Abschnitten entfaltet werden.
3.
Verschiedene Wege der Traumdeutung
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Träumen hat vor über hundert Jahren begonnen. Das heißt jedoch nicht, dass die Jahrhunderte davor Träume nicht beachtet worden wären – ganz im Gegenteil. Was all den älteren Traumlehren gemeinsam war, ist ihr zumeist überindividueller Ansatz; das wird uns noch in Abschnitt 6.1 beschäftigen. Sie alle betrachten Träume als Ausdruck transzendenter, schicksalhafter oder mystischer Kräfte. Man sah die Träumenden als Sprachrohr jenseitiger oder überzeitlicher Botschaften. Mögliche individuelle Motive wurden selten in den Blick genommen, weil sie als nicht relevant angesehen wurden. Das Gemeinsame der überindividuellen Traumtheorien ist, vereinfacht formuliert, dass die Träume gleichsam ohne den Träumer gedeutet wurden.
Unter Punkt 1.2 wurde dargelegt, dass ein seelsorglicher Umgang mit Träumen in psychologischer und theologischer Hinsicht sachgerecht sein soll. Soll er in psychologischer Hinsicht sachgerecht sein, muss er die psychologischen Ansätze im Umgang mit Träumen in den Blick nehmen. Dies soll in den folgenden Abschnitten geschehen, indem eine kurze Darstellung der prägenden Schulen gegeben wird. Es kann dabei nur um eher skizzenhafte Einblicke in die Kernanliegen einiger prägender Ansätze gehen, um beispielhaft mitvollziehbar zu machen, welche Ansätze hinter dem hier vorgestellten Umgang mit Träumen stehen.
3.1 Sigmund Freud (1856–1939)
Freud steht für die älteste und damit längste Tradition der modernen professionellen Beschäftigung mit Träumen.12 Er blickte als Arzt auf den Traum und nahm ihn vorwiegend in seinen Bezügen zur seelischen Krankheit wahr. Das Verständnis der Träume ist bei Freud Teil des von ihm entwickelten Gesamtkonzeptes der Psychoanalyse. In diesem Gesamtrahmen stellte er die Entstehung, Funktion und Bedeutung von Träumen auf eine theoretische Grundlage.
Freud war der Ansicht, dass der Ursprung der Träume die halluzinatorische Erfüllung unbewusster sexueller Wünsche wäre. Der Traum würde dafür Symbole verwenden, die den Träumenden die ganze Unerfreulichkeit all ihrer primitiven sexuellen und aggressiven Triebe verbergen wollten. Um die Träumenden vor der Dynamik der verbotenen andrängenden sexuellen Triebe zu schützen, fungiert, Freud zufolge, der Traum, der im Vorbewussten zwischen den triebhaften Teilen des Unbewussten und dem Bewusstsein liegt, als „Hüter des Schlafes“. So bietet der Traum die von Scham besetzten Wünsche nur verschlüsselt dar. Dabei kommt es im Traum zu Symbolbildung, Dramatisierung, Verschiebung (eine Person in der Realität kann durch eine andere ersetzt werden), Verdichtung (zwei getrennte Situationen/Personen können durch eine einzige repräsentiert werden), Umkehrung (ein Mann kann z. B. durch eine Frau dargestellt werden oder umgekehrt) und zur Umwertung von psychischen Werten. Ein Symbol kann also für etwas ganz anderes, ja sogar Gegenteiliges stehen und so den Träumer täuschen. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Freud zwischen dem manifesten, also offenkundigen, und dem latenten, also verborgenen Trauminhalt, wobei für ihn der latente Trauminhalt das eigentliche Traumthema enthält, das jedoch unbewusst bleibt. Im manifesten Traum erscheint der latente Trauminhalt zensiert, also von der unbewussten Traumzensur unkenntlich gemacht.
Kennzeichnend für die psychoanalytische Traumdeutung ist die freie Assoziation: Der Träumer soll spontane Einfälle zum Thema und zu den Gestalten des Traums äußern. Auf diese Weise vermag Freud auch Details der Träume in der Deutung zu erfassen. Er leitet so zur Begegnung der Träumenden mit ihrem Traum von innen her an. In der Assoziation und ihrer Deutung durch den Therapeuten ereignet sich die Spurensuche vom manifesten zum latenten Trauminhalt; das ist für Freud die eigentliche Traumarbeit als „Via Regia“ (Königsweg) zum Unbewussten.
Was ist nun zum psychoanalytischen Umgang mit Träumen zu sagen?
Der auf den einzelnen Träumer zentrierte Ansatz hat in jedem Fall seine volle Berechtigung; er ermöglichte einen grundlegend neuen Umgang mit Träumen. Das Verständnis des menschlichen Seelenlebens wurde dadurch enorm vertieft. Freud hat das Verständnis für das Unbewusste angestoßen.
Nehmen wir die Grenzen dieses Ansatzes in den Blick, so sind fünf zu nennen:
– Für Freud bleibt der Träumer auf den Fachmann angewiesen. Ohne die „detektivische“ Arbeit des Psychoanalytikers ist das tiefere Anliegen des Traums kaum zu erkennen. Dabei kann ein heikles Machtgefälle entstehen: Der Träumer ist dem deutenden Fachmann in gewisser Weise ausgeliefert und es entsteht eine Abhängigkeit zum Experten, wenn der Träumende die „richtige“ Deutung seines Traumes erfahren will.
– Der sogenannte manifeste Traum hat nach Freuds Lehre zumeist eine andere Bedeutung als der sogenannte latente Trauminhalt: Dagegen zeigt es sich in der Praxis der Traumdeutung, dass der von Freud als manifest bezeichnete Trauminhalt gerade der eigentliche Inhalt ist. Die Theorie der Verhüllung in Traumbildern hatte geradezu einen schädlichen Einfluss auf den Umgang mit Träumen, weil sie die Vorstellung verbreitete, Träume seien darauf aus, uns zu täuschen. Wie starr das psychoanalytische Verständnis des Traumes werden kann, zeigt die Äußerung Fritz Morgenthalers: „Das, was im manifesten Traum erinnert wird, kann niemals der Ausdruck des Unbewussten sein.“13 Mit einer solchen starren Theorie tut man den Träumen Gewalt an. Der Traum verbirgt nicht das, was er sagt, sondern er „entbirgt“ es in seinen Symbolen und Szenen; er täuscht nicht, sondern offenbart Wahrheit. Verschleierung ist eher eine Funktion der wachen Psyche, nicht die des Traumes.
– Fragen ergeben sich auch im Hinblick auf eine von Freud intendierte einseitige sexuelle Auslegung der Träume: Sicher kommen sexuelle Symbole immer wieder zur Sprache. Aber die Traumdeutung einseitig auf die Verdrängung sexueller Wünsche hin auszurichten, ist für viele Träume unangemessen.
– Freud hat die kausale Annäherung an Träume ins Zentrum seines Interesses gerückt, weil seine ganze psychologische Theorie sich auf das Es konzentriert. Das führt leicht dazu, den möglichen prospektiven, den auf das Zukünftige gerichteten Aspekt in den Träumen zu übersehen. Dieser ist häufig im Hinblick auf Entwicklungsmöglichkeiten der Träumenden sehr fruchtbar.