Hineni – Hier bin ich!. Ruthmarie Moldenhauer
offenbar macht und uns in seiner Nähe sein lässt.
Die Krise
Gott ist auch ein eifernder Gott, so sagt uns die Bibel. Er sucht ungeteilte Herzen, Orte, an denen er wohnen kann – denn er liebt es zu wohnen.
Mit sehr unterschiedlichen Gefühlen gingen wir dieses Jahr 2020 auf Ostern zu. Während wir uns durch das Corona-Virus alle im selben Sturm befanden, saßen wir doch in unterschiedlichen Booten.
Wir erleben die Auswirkungen sehr unterschiedlich. Da gibt es jene, für die die Welt völlig auf den Kopf gestellt scheint und andere, für die sich das Außenleben endlich einmal ihrem Innenleben angleicht und die sich deswegen darin gar nicht so fremd, gar nicht so in Not fühlen. Und dann gibt es jene Menschen, die fragen: Wo ist Gott? Ist dieser Sturm von Gott?
Das erinnert mich an die Geschichte, als Jesus die Jünger über den See schickte und sie in einen Sturm gerieten. Man kann sich fragen, warum Jesus sie losschickte; er musste doch von dem Sturm gewusst haben. Warum sandte er sie scheinbar mitten in diesen Sturm hinein?
Und an jenem Tag sagte er zu ihnen, als es Abend geworden war: Lasst uns zum jenseitigen Ufer übersetzen! (Mk 4,35).
Jesus gebot ihnen, ans andere Ufer zu fahren. Er sagte nicht: Fahrt in den Sturm. Das andere Ufer war das Ziel. Es war auch der Ort, wo ein Mensch (der Gerasener) seine Heilung, seine Befreiung erleben sollte. Jesus hatte ein Ziel vor Augen, doch oftmals gehen unsere Wege zu diesem Ziel auch durch Stürme, denn Gottes Wegen stellen sich Stürme entgegen, um uns vom eigentlichen Ziel abzubringen.
Gott sieht weiter als bis zu diesem Virus. Er hat etwas im Blick, das wir zu einem großen Teil noch nicht sehen. Der Weg dorthin ist stürmisch, herausfordernd, beschwerlich und auch furchteinflößend.
Doch damals saß Jesus mit im Boot. Die Jünger waren nicht allein. Sie hatten den Friedensbringer mit an Bord, der Wind und Wellen gebieten konnte. Sie hatten den dabei, der auch im Sturm schlafen kann, weil in ihm keine Furcht ist. Und wenn wir meinen, Gott schlafe gerade, Gott schaue scheinbar gerade weg, dann ist es gut, sich daran zu erinnern:
Er wird nicht zulassen, dass dein Fuß wankt. Dein Hüter schlummert nicht. Siehe, nicht schlummert und schläft der Hüter Israels (Ps 121,3-4).
Ich möchte nicht nur das Licht am Ende des Tunnels sehen und darauf hinweisen; ich möchte das Licht im Tunnel, direkt an meiner Seite, sehen und darauf deuten. Hier, schau hin, du bist nicht allein. Er schläft und schlummert nicht, sondern ist um dich. Er ist dein Hüter.
Die Verlassenheit
An einem frühen Morgen fragte ich Gott: Was ist in deinem Herzen, Vater? Zeige uns dein Herz in diesen Tagen! Schau auf Golgatha – war die Antwort. Ich habe euch zuerst geliebt und sehne mich nach einer Antwort. Gott ist und bleibt bis an das Ende der Welt ein Gott mit Sehnsucht im Herzen. Er wirbt auf Golgatha um unser Herz. Nur kurze Zeit, bevor Jesus ans Kreuz ging, sagte er den Menschen:
Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke! (Joh 7,37b).
Und dann kommt das Kreuz, und die Jünger erleben einen Tag des Verlustes, der Enttäuschung, tiefster Trauer und Verlassenheit. Sie erleben die Krise ihres Lebens. Alle ihre Träume zerbrechen. Alles scheint umsonst gewesen zu sein, alles verloren. Und deshalb ergreift Angst und Schrecken ihre Herzen. Was bedeuten da noch die Worte Jesu? Woran konnten sie sich festhalten?
Aller Hoffnung beraubt, gingen sie in die Isolation, an einen Ort, wo sie sich aus Furcht vor den Juden hinter verschlossenen Türen verbargen. Auf dem Ölberg hatte Jesus den Jüngern gesagt, sie sollten wachen und beten; doch sie waren in Schlaf gefallen und später tatsächlich nicht bereit für das, was ihnen begegnete.
Und er stand auf vom Gebet, kam zu den Jüngern und fand sie eingeschlafen vor Traurigkeit (Lk 22,45).
In einer Übersetzung heißt es: Sie waren schlafend vor Traurigkeit.9
Manchmal fühlen wir uns wie betäubt von Schmerz, Traurigkeit und Enttäuschung. Es ist ein Kampf, ein Ringen, nicht schläfrig zu werden und stattdessen im Gebet, in der Begegnung mit Gott zu bleiben. Genau heute ist die Zeit, wo wir es so sehr brauchen.
Jesus hat es uns vorgelebt. Er wusste, er würde in Kürze für einen Moment tatsächlich von Gott verlassen sein. Die Sünde der Welt, meine Sünde, würde auf ihm liegen; und das würde gleichzeitig bedeuten, dass Gott sich zurückziehen würde von ihm. Das kostete Jesus über den unsagbaren Schmerz hinaus auch einen Gebetskampf, von dem es heißt, dass sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde fiel. Er hatte Todesangst vor dieser Trennung. Jesus, der die innigste Nähe zum Vater kannte und darin lebte, wusste um den Schmerz darüber, nicht mehr dort sein zu können. Das Kreuz, unsere Schuld würde ihn trennen vom Vater. Für einen Moment würde der Vater zurücktreten und Jesus würde dieses eine Wort aussprechen, das uns vergewissert, dass er wirklich durch die letzte Gottesverlassenheit gegangen ist:
Um die neunte Stunde aber schrie Jesus mit lauter Stimme auf und sagte: Elí, Elí, lemá sabachtháni? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46).
In diesen Tagen kommt mir immer wieder dieses Wort in den Sinn – wache und bete! Wir sind an vielen Stellen schläfrig geworden. Die Umstände, Bequemlichkeit, Enttäuschung, Schmerz, Bitterkeit und Zweifel haben uns schläfrig gemacht. Manch einer von uns ist in seiner Traurigkeit eingeschlafen. Aber Krisenzeiten sind genau die Zeiten, in denen wir etwas lernen, die uns formen, die Wachstum hervorbringen, wenn wir uns aufstören lassen, wenn wir das Bisherige und Heutige in Frage stellen lassen.
Krisen und Wüsten sind Orte, an die wir nicht freiwillig gehen. Die Israeliten haben viel Zeit in der Wüste verbracht, viel Zeit mit Aufbegehren und Murren. Sei weise in Wüstenzeiten, d. h. es ist gut zu wissen: Woher bekomme ich Wasser? Wo habe ich einen Ort, an dem ich mich bergen kann? Wo finde ich Nahrung und welches Feuer hält mich in der Kälte der Wüstennacht warm? Enttäuschung kann jedes Feuer auslöschen. Sie kann den Blick auf die Treue Gottes versperren. Jesus hatte dazu aufgefordert, diejenigen, die durstig seien, sollten zu ihm kommen. Und kurz darauf war er nicht mehr da. Was macht das mit uns, wenn unsere Hoffnung gestorben ist?
Und dennoch kam nach der Dunkelheit das Licht, nach dem Tod die Auferstehung. Und bald danach kam die versprochene Quelle lebensspendenden Wassers, fortwährender Versorgung durch den Heiligen Geist.
Ja, manchmal müssen wir eine Strecke in der Wüste zurücklegen. Wir wissen nicht, wie lange sie dauert. Vielleicht ist das die größte Herausforderung. Doch in allem Ungewissen bleibt Eines gewiss – Gott ist vorher, während und nachher derselbe. Er verändert sich nicht, unabhängig von meinen Gefühlen und Umständen. Es kostet etwas, an ihm festzuhalten – der Preis ist mein Vertrauen. Ich muss ihm mein Herz anvertrauen. Es kostet etwas, ihn weiterzusuchen, weiterhin zu beten. Doch genau das ist es, was hilft, meine Wurzeln tiefer zu graben, sodass ich aus dem tiefsten Grund der Liebe heraus versorgt werde.
1 Vallotton, Kris, https://www.bethel.tv/podcast/sermons/episodes/478
2 Vgl. Dave Adamson, 52 Hebrew Words Every Christian Should Know, S.33, 2018.
3 Debora Sommer, Im Herzen ist Raum für mehr, S. 188, 2020.
4 Johannes Hartl, Gott ungezähmt, S. 14, 2016.
5 Martin Schleske, Krisenzeiten, Der Ruf des Raben, S. 129, 2020.
6 Vgl. Elberfelder Bibel, Offb 1,14.15,