Das Echo deiner Frage. Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage - Eva Weissweiler


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blieb einem großen Teil der Pflegekinder bisher vorenthalten: ihr Leben ist Heimatlosigkeit, ihre Zukunft Verwahrlosung. Nur durch schnelles und energisches Eingreifen der verantwortlichen Stellen kann vermieden werden, dass weiteren tausenden von Kindern dieses Schicksal zuteil wird.[208]

      Am Seddiner See

      Benjamin lag mit GreteRadt, Grete am Tegernsee, als die Sprechsaal-Leute einen Ausflug nach Seddin in der Gegend von Potsdam machten.[209] Es war im Frühsommer 1914, fast zu heiß, um sich viel zu bewegen. »Wir wanderten nicht, sondern lagerten den ganzen Tag über«, schrieb Wieland HerzfeldeHerzfelde, Wieland in sein Tagebuch. Er war 1896 geboren, etwas jünger als der Rest der Gruppe, Sohn eines anarchistischen Autors und einer Aristokratin, die mit ihrem Mann eines Tages spurlos verschwunden war und ihre Kinder sich selbst überlassen hatte. Zusammen mit seinem Bruder HelmutHerzfeld, Helmut, der später als der Künstler »John HeartfieldHeartfield, John #i#Siehe#ie# Herzfeld, Helmut« bekannt werden sollte, war er bei Pflegeltern in der Nähe von Salzburg aufgewachsen. 1914 ging er zum Studium der Germanistik und Medizin nach Berlin, wo er sofort mit dem Sprechsaal in Kontakt kam. Georges BarbizonBarbizon, Georges gefiel ihm am besten. Benjamin weniger. Er sei sehr ernst, scharf und intellektuell gewesen, allerdings nicht sehr »künstlerisch«.

      An dem Ausflug nach Seddin nahmen etwa 15 Personen teil, darunter auch Dora. HerzfeldeHerzfelde, Wieland war tief beeindruckt.

      Ich hielt sie, als ich sie kommen sah, für ein Mädchen. Und eine unbewusste Verwandtschaft fühlte ich mit ihr, als ich sie kaum gesehen hatte. Als sie mir dann als Frau vorgestellt wurde, zuckte es unmerklich, aber doch so weh in mir auf, dass ich spürte: du bist verliebt. Nicht eine Minute dauerte das. Sie erkannte dann plötzlich, als ich mit ihr sprach, meinen österreichischen Dialekt, und war darüber maßlos erfreut, denn sie ist Wienerin und hängt gleich mir an dieser eigenen Sprache. Nun sprachen wir miteinander Dialekt […] und ich glaube, Frau Pollak hatte auch für mich Sympathie. Ich half ihr beim Butterbrotschmieren usw. und war recht glücklich, in ihrer Nähe weilen zu können. Als wir dann nebeneinander auf dem Boden lagen, um uns auszuruhen, wusste ich auf einmal, dass ich nicht nur Sympathie für sie empfand, sondern Liebe.

      Auf dem Weg zum Bahnhof tauchte plötzlich Franz SachsSachs, Franz auf und mischte sich eifersüchtig in das Gespräch ein. Da Dora nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, rief sie eine Freundin und flüsterte ihr zu, dass sie HerzfeldeHerzfelde, Wieland ablenken möge. HerzfeldeHerzfelde, Wieland war tief verletzt.

      Bis zum Bahnhof sprach ich fast kein Wort mehr, und was ich sprach, sachlich und mit trockener Kehle. Wir mussten uns beeilen, um in Seddin den letzten Zug nach Berlin zu erreichen. Da wir etwas hinten geblieben waren […] kam Herr PollakPollak, Max, der mit BarbizonBarbizon, Georges etc. vorangegangen war, zurück und schimpfte auf Philisterart über die Trödelei und Langsamkeit. Besonders seine Frau hatte darunter zu leiden. Und das verdüsterte mich noch mehr, wenn dies möglich war. Denn ich war eigentlich gar nicht böse auf Frau Pollak. […] Meine Wut galt der gesellschaftlichen Einrichtung der Ehe. […] Als ich Herrn PollakPollak, Max so schimpfen hörte, keimte leise in mir der Gedanke, […] als leide Frau Pollak unter ihrem Mann und als sei ich der einzige, der dies Leid mitfühlt. Und wenn ich von mir auf andere schließen darf, so kann ich wohl behaupten, dass man erst dann ein Mädchen ganz und gar liebt, wenn man erkannt hat, dass es leidet. Und wenn ich jetzt auch wortlos blieb wie vorher und im Zug so starr und freudlos vor mich hinschaute, dass es BarbizonBarbizon, Georges auffiel und er mich fragte, so war das doch nicht mehr eine Stumpfheit in mir, sondern ein Schmerz, der schön ist. […] Ich hatte die Empfindung, dass Frau Pollak und ich die einzigen empfindenden, leidenden Menschen im Eisenbahnwagen seien, und war schmerzerfüllt, da ich sah, wie wir aneinander vorbeigehen mussten. […] Wir gingen auseinander und sahen eine Zeit lang nicht wieder.[210]

      Wieland HerzfeldeHerzfelde, Wieland, ein junger Mann mit markantem Kinn und wachen, klugen Augen, hatte sich also in Dora verliebt, sie sich aber nicht in ihn. Er war schließlich im Alter ihres Bruders, des kleinen »VickerichKellner, Viktor«, sechs Jahre jünger als sie! In den nächsten Tagen und Wochen sahen sie sich manchmal, ohne sich näherzukommen. HerzfeldeHerzfelde, Wieland hatte das Gefühl, wegen seines »anarchistischen Idealismus« nicht recht in den Sprechsaal zu passen. Er kam sich manchmal fast wie in einer Sekte vor, etwa als Hans KollwitzKollwitz, Hans ein Flugblatt verteilte, auf dem allen Ernstes erklärt wurde, nur, wer »innerlich rein« sei, dürfe künftig an den Versammlungen teilnehmen.[211]

      HerzfeldeHerzfelde, Wieland gab Dora auf. Sie war unerreichbar für ihn, eine Art hohe Frau, der er nicht würdig zu sein glaubte, wenn er auch ahnte, dass es in ihrem Inneren völlig anders aussah. Später rückte er sehr weit nach links und gründete die Zeitung Die neue Jugend, die alsbald verboten wurde. Er wurde Trauzeuge von Max ErnstErnst, Max und dessen Frau LuiseErnst, Luise. In seinem bewegten, bisher kaum dokumentierten Leben, in dem George GroszGrosz, George, Harry Graf KesslerKessler, Harry Graf, Erwin PiscatorPiscator, Erwin, Else Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else und vor allem die Kunst und die Politik eine Rolle spielten, wird Dora nicht mehr vorkommen.

      3 Sommer ohne Sonne (1914–1918)

      »Der fürchterlichste und scheußlichste Verrat«

      Am 28. Juni 1914 wurden der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz FerdinandFranz Ferdinand von Österreich-Este und dessen Frau SophieSophie Herzogin von Hohenberg in Sarajevo auf offener Straße erschossen. Der Täter, ein serbischer Nationalist, war noch Schüler. Die Zeitungen schrieben zwar ausführlich darüber, aber niemand im Umfeld des Sprechsaals schien die Sache besonders ernst zu nehmen, nicht einmal Käthe KollwitzKollwitz, Käthe, die ein so waches Auge für Politik hatte.

      Nicht ganz drei Wochen später, am 15. Juli, feierte Benjamin seinen 22. Geburtstag, den er zum ersten Mal seit langem wieder in Berlin verbrachte. Er wurde reich beschenkt, von seinen Eltern, von Grete RadtRadt, Grete, aber auch von Dora und MaxPollak, Max, die ihm dunkle Rosen in einer hohen Glasvase schickten, so als sei er eine ältere Dame und kein junger Student. Benjamin fühlte sich trotzdem äußerst geschmeichelt.

      Während man in den Wiener Caféhäusern schon lange von Krieg sprach, schien man in Berlin nichts davon zu ahnen, jedenfalls nicht im


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