Das Echo deiner Frage. Eva Weissweiler
Gelehrten- und Künstlerfamilie, zu der der Mathematiker Arthur SchoenfliesSchoenflies, Arthur und die Dichterin Gertrud KolmarKolmar, Gertrud gehörten. Der VaterBenjamin, Emil war stolz auf eine entfernte Verwandtschaft mit Heinrich HeineHeine, Heinrich. Er kam aus Köln, hatte ursprünglich das Bankfach gelernt, war aber dann in ein Kunst- und Auktionshaus eingetreten, an dem er so hohe Anteile erwarb, dass er sich zurückziehen und als Aktionär verschiedener Unternehmen leben konnte, die er mit geschickter Hand zu lenken verstand.[186] Doch er blieb ein unermüdlicher Autographen-Sammler von höchstem Niveau. Fünf Jahre nach seinem Tod versteigerte die Firma Stargardt einen Teil seiner Hinterlassenschaft, darunter Briefe von AndersenAndersen, Hans Christian, BeethovenBeethoven, Ludwig van, EichendorffEichendorff, Joseph von und FontaneFontane, Theodor, Korrespondenz der Familien Goethe und Grimm, Fragmente aus Heines Lutetia, Notenhandschriften von BrahmsBrahms, Johannes und Felix MendelssohnMendelssohn Bartholdy, Felix, aber auch Aufzeichnungen berühmter Sozialisten wie BebelBebel, August, MarxMarx, Karl, Robert BlumBlum, Robert, LassalleLassalle, Ferdinand und LiebknechtLiebknecht, Karl. Doch genau dieser VaterBenjamin, Emil kommt in Benjamins Briefen und Schriften nicht vor, nur der Kaufmann und Kapitalist, der zu wenig Verständnis für ihn hatte. Es ist vielleicht übertrieben, von einem neurotischen Verhältnis zu sprechen, das sich im Lauf der Zeit immer mehr verhärtet habe.[187] Man wird aber sagen dürfen, dass Benjamin ein sehr einseitiges Vaterbild hatte und in diesem Punkt relativ unbelehrbar war.
Walter Benjamin war ein kränkliches Kind, das jahrelang von Privatlehrern unterrichtet wurde und später nur ungern auf das Gymnasium ging. Die »märkische Backsteingotik«, der Zwang, »die Mütze vor den Lehrern abzunehmen«, die »altertümlichen Formen der Schulzucht«, das Schrillen der Pausenklingeln und die diffuse »Masse der Schüler«: Alles das war ihm zuwider.[188] Er war so oft krank und hatte so wenig Freude am Griechisch-, Mathematik- und Turnunterricht, dass die Eltern beschlossen, ihn in ein »Landerziehungsheim« nach Haubinda zu schicken, das nach reformpädagogischen Grundsätzen geführt wurde. Hier begegnete er Gustav WynekenWyneken, Gustav, der sein geistiger Mentor werden sollte.
WynekenWyneken, Gustav lehrte ihm, dass Erziehung niemals in der Familie stattfinden könne, sondern nur in einer »Gesellschaft von Gleichaltrigen«, die durch das »pädagogische Eros« eines »geistigen Führers« beseelt sei. Nur »große Urteilslosigkeit« und »Affenliebe« könne dazu führen, »die Familienerziehung als Ideal zu preisen«.[189] Die meisten Schüler waren begeistert von WynekenWyneken, Gustav. Die Eltern weniger. Es gab Klagen, dass er ihnen die Kinder »vollständig entfremdet« habe, »in einer Weise, die fast an Verachtung« grenze.[190] Nicht nur oberflächlich ähnelten die Grundsätze von WynekenWyneken, Gustav denen von Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie. Beide glaubten an ihre messianische Sendung. Beide hatten ausgeprägt pädophile Neigungen. WynekenWyneken, Gustav verherrlichte die griechische »Knabenliebe« und pflegte mit seinen Lieblingsschülern in einem Zimmer zu schlafen.[191] Später würde er sich wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener vor Gericht verantworten müssen.[192] WynekenWyneken, Gustav war gelegentlich Sommergast von Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie und verehrte sie sehr, obwohl er ansonsten von Frauen nichts hielt.[193] »Erziehung« war für ihn grundsätzlich nur »Knabenerziehung«. Mädchen seien nur in Ausnahmefällen zu fördern, soweit ihr beschränkter Geist »dazu fähig sei«.[194]
Da man in Haubinda kein Abitur machen konnte, musste Benjamin nach zwei Jahren wieder zurück nach Berlin. Er hatte viel Selbstbewusstsein gewonnen und absolvierte den Rest seiner Gymnasialzeit mit Bravour. Doch das häusliche Milieu wurde ihm immer fremder: die protzigen Schmuckstücke der Mutter, die steifen Gesellschaftsabende, die edlen Sektschalen und die ihm undurchsichtigen Verhältnisse, auf denen der Wohlstand der Familie beruhte – aus dieser Szenerie floh er so oft er konnte, auf Reisen, in die Jugendkulturbewegung, in den Sprechsaal und – zu Dora, die er am 13. Mai 1914 zum ersten Mal in ihrer Wohnung in der Emser Straße besuchte.
»Hinreißende Terzen und Oktaven«
Er hatte Glück. Denn aus Doras Beziehung zu Franz SachsSachs, Franz war nichts geworden, zum Glück, möchte man beinahe sagen, denn er hatte entsetzlich herablassende Ansichten über Frauen, besonders jüdische Frauen, die er für »ziseliert«, »manieriert« und unmütterlich hielt, vor allem, wenn sie aus den gehobenen Kreisen stammten.
Kein Feuer, keine Leidenschaft, keine Begeisterung oder schöner Ernst; alles ist geglättet. Den Dingen, mit denen sie sich befassen – und sie haben für vielerlei ein bewegliches Interesse – werden alle schärferen Ecken abgeschliffen; ihnen wird alles zur Konversation. Soziale Probleme werden ebenso wie die Regungen der Seele mit ein bisschen Tätigkeit (soziale und Berufsarbeit) in den Wind geschlagen. Sie verlieren – das ist bezeichnend – ein natürliches Verhältnis zu Kindern, zur Landschaft, zur Einsamkeit. Die Kunst dient ihnen zur Erhöhung persönlicher Behaglichkeit; Vorliebe für Operette und Kino kennzeichnet sie. Sehr rationalistisch und geschäftig gleichen sie jenem von uns so bekämpften Typ des modernen Großstadtjuden; so wird auch Liebe ihnen ein veräußerlichtes Spiel, ein Flirt, eine Körpertechnik.[195]
Er war wieder einmal sehr scharf zu Dora gewesen und hatte ihr einen »nicht eben geistvollen Brief« geschrieben.[196] Sie hatte es geahnt, dass er sie unglücklich machen würde. Das sei ja ihr Schicksal. »Wenn ich unglücklich sein soll, dann muss ich eben unglücklich sein«, schrieb sie an Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert.[197] In dieser Zeit scheint sie ein recht schwaches Selbstbild gehabt zu haben.
Aus dem gemeinsamen Musizieren mit Franz SachsSachs, Franz wurde also nichts. Stattdessen lud sie Walter Benjamin ein, um mit ihr »den HalmHalm, August« durchzuarbeiten. Dabei konnte er weder Noten lesen noch ein Instrument spielen. Aber er war trotzdem glücklich über die »hinreißenden Terzen und Oktaven«, die sie ihm in kurzer Zeit beibrachte. Dazu benutzten sie wahrscheinlich HalmsHalm, August »Harmonielehre«,[198] die für gebildete Anfänger besonders geeignet war. HalmHalm, August erläutert darin die Tongeschlechter, die Dreiklänge, die Umkehrungen und Intervalle, die Konsonanzen und Dissonanzen, alles anhand von Beispielen, die Dora und MaxPollak, Max ihrem »Schüler« vorspielten. Die intellektuelle Struktur dieses Buches muss Benjamin sehr