Die Lehren der Zeugen Jehovas. Lothar Gassmann
Begründungen für deren Amtsenthebung. In einem Gespräch zwischen Rutherford und den vier widerspenstigen Direktoren wird seine Vorgehensweise deutlich. Rutherford sagte:
„Es ist euch entgangen, Brüder, … dass ihr alle vier Mitglieder der pennsylvanischen Körperschaft seid. Die Satzungen dieser Körperschaft besagen, dass ihr im Staate Pennsylvania gewählt werden müsst. Seid ihr dort gewählt worden?
Nein, antworteten sie.
Ihr wurdet im Staate New York gewählt. Wollt ihr nun streng sachlich werden, dann sage ich euch streng sachlich, dass ihr vor allem keine legalen Mitglieder der Körperschaft seid“ (zitiert nach Gebhard 1970, S. 105).
Hinzu kam, dass Rutherford ein Gesetz rückwirkend anwandte, das die jährliche Wiederwahl der Direktoren forderte. Da aber eine solche jährliche Wiederwahl nicht erfolgt war, sondern Russell die Direktoren auf Lebenszeit eingesetzt hatte, seien sie – so behauptete Rutherford – keine rechtmäßigen Mitglieder des Direktoriums. Johnson seinerseits bestritt, dass ein solches Gesetz rückwirkend angewandt werden könne, und fragte, ob dann nicht auch Rutherford zu Unrecht zum Präsidenten gewählt worden sei.
Nichtsdestotrotz konnte Rutherford aufgrund solcher formaler Versäumnisse die vier Direktoren entmachten. Nach ihrer Entlassung nahmen vier Männer seines Vertrauens ihre Stelle ein. Bei dieser Säuberungsaktion schlossen sich mehrere Dutzend leitende Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft den Oppositionellen an und mussten ebenfalls gehen. Auch in vielen Gemeinden kam es zu Unruhen und vielerorts auch zu Spaltungen.
Über Rutherfords Vorgehensweise bei der „Säuberungsaktion“ berichtet Johnson aus seiner Sicht folgendes:
„Er (Rutherford) befahl mir, das Bethel am gleichen Tag zu verlassen, die vier Direktoren sollten am folgenden Montag gehen. Meine respektvolle, oft wiederholte Bitte, vor der Familie eine Erklärung abgeben zu dürfen, wurde nicht erfüllt… Bruder Hirsch bat darum, einen Brief von Bruder Pierson vorlesen zu dürfen, in dem dieser schrieb, dass er Rutherfords Ausschluss der vier Brüder vom Direktorium nicht billigte und dass er treu zu dem alten Direktionsausschuss hielte. J. F. R. schrie förmlich, dass Bruder Johnsons ´Falschheit` daran schuld wäre, dass dieser Brief geschrieben wurde… Noch zorniger befahl er mir unter Androhung von gerichtlichen Schritten, das Bethel zu verlassen. Ich antwortete, dass ich den Direktionsausschuss wegen dieser Entscheidung angerufen hätte; und da ich den Ausschuss als amtierend betrachtete, wobei dieser das Recht habe, bei der Berufung Entscheidungen zu treffen, wartete ich nun auf diese Entscheidung; wenn mir der Ausschuss befehlen sollte, das Bethel zu verlassen, würde ich dies sofort tun. Auf diese Erwiderung hin verlor Rutherford alle Selbstbeherrschung. Um seinen Befehl durchzusetzen, stürzte er sich auf mich und schrie: ´Du verlässt dieses Haus`. Er packte mich am Arm, so dass ich fast hingefallen wäre“ (zitiert nach Rogerson 1969, S. 49).
Daraufhin verließ Johnson die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft. Doch die Oppositionellen gaben sich noch nicht geschlagen. Rutherford hatte den entlassenen Direktoren ehrenvolle, aber einflusslose Posten als „Pilgerbrüder“ angeboten, um sein Gesicht zu wahren. Dieses Angebot wurde von diesen selbstverständlich abgelehnt. Sie schürten weithin Unruhe. Im Sommer 1917 waren die meisten Versammlungen weltweit gespalten. In dieser Zeit des Machtkampfes erfolgte die entscheidende Umstrukturierung der Wachtturm-Gesellschaft, die vorher und nachher nicht in diesem Maße vorgenommen worden war.
Noch zweimal versuchten die Gegner Rutherfords, das Ruder an sich zu reißen, doch ohne Erfolg. Bei der Hauptversammlung im August 1917 in Boston übernahm Rutherford die Diskussionsleitung und überging einfach die Wortmeldungen seiner Opponenten. Bei der Körperschaftsversammlung der Pennsylvania-Gesellschaft im Januar 1918 hatte Rutherford schon längst die Kontrolle über die Medien seiner Organisation übernommen und die meisten Mitglieder für sich gewonnen. Kein Opponent wurde in den Direktionsausschuss gewählt. Die Sache war entschieden.
Der Zerfall war nun nicht mehr aufzuhalten. Die Opposition organisierte sich neu, berief ein „Siebener-Komitee“, gab ein eigenes Mitteilungsblatt „The Herald of Christ`s Kingdom“ heraus und führte am 26. 3. 1918 ein eigenes Gedächtnismahl durch, welches die Spaltung endgültig besiegelte. Die Oppositionellen betrachteten sich als die Bewahrer der reinen Lehre Russells und nannten sich zunächst „Dawn Bible Students Association“ („Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“). Rutherford und die Seinen galten als Abgefallene, die sich das materielle Erbe Russells angeeignet hatten 1918/19 zählten die „Ernsten Bibelforscher“ ca. 18.000 Anhänger. Zu den Oppositionellen dürften sich damals schätzungsweise rund 4.000 Menschen gerechnet haben. Doch die Einheit der Oppositionellen war von kurzer Dauer. Dietrich Hellmund berichtet über ihr weiteres Schicksal:
„Das Ende der oppositionellen Einheitsfront kam bald. Anlässlich ihrer Hauptversammlung 1918 kam es zu allerlei Misshelligkeiten. Johnson überwarf sich mit den vier Ex-Direktoren und machte ein eigenes Hauptbüro in Philadelphia auf. Das ist der Anfang der Laymen`s Home Bible Student`s Movement. Ihr stand er bis zum Tode als ´der Erde großer Hoherpriester` vor. Der verbliebene Rest konnte seinerseits auch keinen Frieden untereinander halten und zerfiel bald in eine Unzahl kleiner und kleinster Sekten… Das endgültige Schicksal der Opposition ist Selbstzerfleischung.“
Gefangenschaft
Bald trat für die „Ernsten Bibelforscher“ ein weiteres dramatisches Ereignis ein. Seit dem 6. April 1917 befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Kriegszustand. Gemäß ihrer Weltanschauung galten Rutherford und seine Freunde als radikale Pazifisten – oder richtiger: als „Neutralisten“ ohne Parteinahme für eine bestimmte Kriegspartei. Ihre Lehre war in ihren Auswirkungen jedoch höchst politisch, weil die Wachtturm-Gesellschaft beanspruchte, das wahre Königreich Gottes auf Erden zu verkörpern. Alle anderen politischen und kirchlichen Systeme wurden faktisch abgelehnt. Diese Ansicht wurde später zwar abgemildert, aber in der Zeit des Ersten Weltkriegs wurde sie noch mit voller Vehemenz vertreten – bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.
Deshalb mussten die Zeugen Jehovas in verschiedenen Ländern schwere Verfolgungen erleiden, etwa während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland oder in kommunistischen Diktaturen. Aber auch in demokratischen Staaten wie den USA galt ihre Position gegenüber dem Staat als unerwünscht – vor allem in Krisensituationen wie dem Ersten Weltkrieg, wo es darum ging, möglichst jeden Mann für dem Kampf zu mobilisieren.
Eine maßlose Polemik gegen Staat und Kirchen fand sich nun in dem gerade 1917 veröffentlichten Band 7 der Schriftstudien. Dort wurde beispielsweise immer wieder betont, sämtliche irdischen Reiche würden 1917 oder 1918 ihr Ende finden. Am 28. Februar 1918 sagte Rutherford in einem öffentlichen Vortrag in Los Angeles:
„Als Klasse sind die Geistlichen gemäß der Schrift von allen Menschen auf der Erde die verwerflichsten wegen des großen Krieges, der die Menschheit jetzt plagt. 1.500 Jahre lang haben sie dem Volk die satanische Lehre des Gottesgnadentums der Könige beigebracht. Sie haben Politik und Religion, Kirche und Staat vermischt, haben sich als illoyal gegenüber ihrem von Gott verliehenen Vorrecht erwiesen, die Botschaft vom messianischen Königreich zu verkündigen, und haben sich dazu hergegeben, die Herrscher in ihrem Glauben zu bestärken, dass der König von Gottes Gnaden regiert und daher alles, was er tut, richtig ist.“
Unter Rutherfords Leitung war die Wachtturm-Gesellschaft bestrebt, „der ganzen Welt die Unrechtmäßigkeit der religiösen Systeme und ihre unheilige Verbindung mit den verderbten Regierungen der gegenwärtigen bösen Ordnung der Dinge zu zeigen“ (JZ, S. 648).
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl die amerikanische Regierung als auch die Vertreter der Kirchen waren über diese kirchen- und staatsfeindliche Antikriegspropaganda äußerst aufgebracht. Man ließ die Ernsten Bibelforscher genau beobachten. John Lord O`Brian, Sonderbeauftragter des Justizministers in Kriegsangelegenheiten, übernahm persönlich das Sammeln von Beweismaterial gegen sie. Am 7. Mai 1918 schließlich wurde der Haftbefehl gegen Joseph Franklin Rutherford und sieben seiner engsten Mitarbeiter erlassen. Die Anklage lautete auf Verschwörung als Verletzung des Spionagegesetzes, Anstiftung zum Ungehorsam und zur Verweigerung der Dienstpflicht in den Streitkräften der USA.
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