Die Lehren der Zeugen Jehovas. Lothar Gassmann
1881 verkündete er, dass die nominelle Kirche von dem unsichtbar gegenwärtigen Christus 1878 verworfen worden sei. Nun fühlte er sich berufen, die wahren Anhänger Jehovas aus den Kirchen herauszuführen. Diese Angriffe blieben nicht ohne Antwort. Insbesondere sein selbstangemaßter Status als „Pastor“ wurde kritisch hinterfragt, so etwa von dem Baptistenpastor J. J. Ross.
1912 hatte Ross eine Schrift mit dem herausfordernden Titel Einige Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell veröffentlicht, die zu einem Gerichtsprozess Anlass gab. Ross kennzeichnet darin Russells System als „unvernünftig, unwissenschaftlich, unbiblisch, antichristlich und eine bedauernswerte Verkehrung des Evangeliums von Gottes geliebtem Sohn“ (S. 7). Ferner warf er Russell im Blick auf seine selbstangemaßte Position vor: „„Er hat niemals eine höhere Schule besucht, weiß vergleichsweise nichts über Philosophie, systematische oder historische Theologie und ist ein totaler Ignorant hinsichtlich der alten Sprachen“ (S. 3 f.).
1913 fand in Ontario der Prozess zwischen Ross und Russell statt, den Russell verlor. Nach diesem Prozess schrieb Ross noch eine Schrift mit dem Titel:Einige Tatsachen und noch mehr Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell. Darin berichtet Ross über Einzelheiten dieses Prozesses, die ein denkbar schlechtes Licht auf Russells Charakter werfen. So hat Russell nachweislich Falschaussagen hinsichtlich seiner Ordination und Sprachkenntnisse gemacht.
Beispielsweise fragte ihn Rechtsanwalt Staunton: „Kennen Sie das griechische Alphabet?“ Russell antwortete: „Oh ja.“ Als Staunton ihn jedoch aufforderte, einige griechische Buchstaben vorzulesen, musste er zugeben, mit der griechischen Sprache doch nicht vertraut zu sein. Ähnlich lief ein Kreuzverhör in Bezug auf Russells angebliche Ordination ab. Nachdem er zunächst unter Eid versucht hatte, seine Ordination zu behaupten, musste er schließlich zugeben, „niemals von einem Bischof, Geistlichen, Presbyterium, Konzil oder einer entsprechenden Körperschaft ordiniert“ worden zu sein.
Russells Selbstverständnis und Werk
Obwohl Russells Skandale in der Öffentlichkeit nicht mehr zu verbergen waren, nahm trotzdem seine Anhängerschaft ständig zu, angefeuert von dem immer näher rückenden magischen Termin 1914. So konnte man 1909 die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft vergrößern und nach Brooklyn/New York verlegen, wo sie sich noch heute befindet. Russell hat in den Jahren vor 1914 seine Vortrags- und Reisetätigkeit ständig gesteigert. Es wird behauptet, er sei in seinem Leben mehr als 1,6 Millionen Kilometer gereist, habe ca. 30.000 Predigten gehalten und viele davon Woche für Woche an ungefähr 3.000 Zeitungen in Amerika, Kanada und Europa geschickt, wo sie – allerdings oft als Annonce – dann zum Teil auch veröffentlicht wurden (vgl. Jehovah`s Witnesses in the Divine Purpose, 1959, S. 50). An anderer Stelle heißt es, er habe „Bücher geschrieben, die insgesamt über 50.000 Seiten ausmachten“ und „oft 1.000 Briefe im Monat diktiert“ (Jahrbuch 1977, S. 77).
Dass Russell ein sehr engagierter und zu seiner Zeit weithin bekannter Mann war, sei unbestritten, doch dürften derartige Zahlenangaben eher legendarischen Wert besitzen. Franz Stuhlhofer (1994, S. 46 ff.) hat beispielsweise die Seitenzahlen sämtlicher von Russell verfassten Bücher und Artikel addiert und ist zum Ergebnis gelangt, „dass die Behauptung von Russells 50.000 Buchseiten um ein Vielfaches übertreibt“ (ebd., S. 51; vgl. auch die Kritik bei Martin/Klann 1985, S. 15 ff.).
Einen großen Bekanntheitsgrad sicherte der Bewegung das große Photodrama der Schöpfung, das 1912 konzipiert und im Januar 1914 in New York uraufgeführt wurde. Neueste technische Möglichkeiten, eine Kombination von Filmen und Lichtbildern, die man mit Musik- und Sprechplatten synchronisierte, kamen in zahlreichen Städten der USA zum Einsatz. Bis Ende 1914 sollen über 9 Millionen Menschen dieses „Photodrama der Schöpfung“ gesehen haben. In ihm wurde der gesamte biblische Heilsplan, wie Russell ihn verstand und erklärte, in einer insgesamt achtstündigen Vorführung dargeboten. Es wurden Lichtbilder vorgeführt vom Urnebel bis zur Schlacht von Harmagedon und dem Ende des Tausendjährigen Reiches.
Russell äußerte über sein Hauptwerk, die sechsbändigen Schriftstudien, sie seien unerlässlich zum Verständnis der Heiligen Schrift. Wenn jemand die „Schriftstudien“, nachdem er sie zehn Jahre lang gelesen hat und mit ihnen vertraut geworden ist, weglegt und ignoriert und nur zur Bibel greift, „so wird er – das zeigt unsere Erfahrung -, auch wenn er die Bibel zehn Jahre lang verstanden hätte, binnen zwei Jahren in die Finsternis gehen. Wenn er andererseits nur die Schriftstudien mit ihren Bibelzitaten gelesen hat und keine Seite der Bibel als solche, so würde er am Ende von zwei Jahren noch im Lichte sein, da er das Licht der Schrift besäße“ („Wachtturm“ vom Dezember 1910, S. 218 f.). Russell hat sein Werk also der Heiligen Schrift übergeordnet. Wie zeitbedingt allerdings sein Werk war und wie sehr er sich auch in diesem Punkt geirrt hatte, zeigt die Tatsache, dass die Zeugen Jehovas schon sehr bald (etwa ab Mitte der 20er Jahre) die Schriftstudien nicht mehr druckten – aus leicht verständlichen Gründen (nicht eingetroffene Terminberechnungen und ähnliches).
Worum ging es in den Schriftstudien? In Band 1 („Der göttliche Plan der Zeitalter“) gibt Russell einen grundlegenden Überblick über sein System. Er behandelt die Frage nach Gott, dem Verständnis der Bibel, dem Lösegeld und Wesen Christi sowie – anhand einer Zeitalter-Karte – dem Ablauf der Heilszeitordnungen. Er möchte im Leser den Glauben an Gott sowie an die Bibel als göttlich inspirierte Offenbarung befestigen, um darauf aufbauend den Heilsplan zu entfalten. In Band 2 („Die Zeit ist herbeigekommen“) geht es ausführlich um „Zeit und Zeitpunkte“, eine „vollständige Bibelchronologie“. Band 3 („Dein Königreich komme!“) untersucht daran anknüpfend die prophetischen Zeitabschnitte im Buch Daniel und in der Offenbarung des Johannes, ferner die Frage nach dem Schicksal Israels und die Zeitberechnung anhand der Maße der Cheops-Pyramide. Band 4 („Der Tag der Rache“) handelt von der „Auflösung der gegenwärtigen Ordnung der Dinge“. Band 5 („Die Versöhnung des Menschen mit Gott“) entfaltet ausführlich Russells Auffassung vom Loskaufopfer Jesu Christi, verstanden als engelhaftes Geistwesen, nicht als zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit. Band 6 („Die neue Schöpfung“) schließlich beschreibt die Schöpfungswoche nach 1. Mose 1 f., die „Herauswahl“ der Gemeinde sowie deren Organisation, Gebräuche, Zeremonien, Pflichten und Hoffnungen.
Zu Russells Lebensstil existieren sehr unterschiedliche Äußerungen. Die einen sagen, er hätte einfach und bescheiden im New Yorker „Bethel“ gelebt und viele Jahre nur ein Taschengeld bezogen. Die anderen behaupten, er hätte sämtliche Aktien-Anteile der Wachtturm-Gesellschaft besessen. Was ist wahr?
Tatsache ist, dass er das gesamte Vermögen seines väterlichen Betriebs für die Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft sowie für Firmen, die mit dieser kooperierten (z. B. die „Tower Publishing Company“, welche der Wachtturm-Gesellschaft Papier lieferte), eingesetzt hat. Er verkaufte das blühende Textilunternehmen für eine Viertelmillion Dollar und investierte dieses Geld in die Wachtturm-Tätigkeit (vgl. Twisselmann 1995, S. 47.59). Im Ehescheidungs-Prozess bezeichnete er sich als arm und wollte nichts bezahlen, aber das Gericht stellte fest, dass er Geld besaß und bestrafte ihn wegen Hinterziehung. Damals wurde festgestellt, dass Russell die Kontrolle über eine Gesellschaft, eben die Wachtturm-Gesellschaft, in Händen hielt, in der er den größten Teil des Kapitals besaß (vgl. Martin 1985, S. 39 f.).
Was soll man daraus folgern? Russell war keineswegs arm, aber es ist durchaus möglich, dass er selber im Alltag bescheiden lebte. Dass er über große Kapitalmengen verfügen konnte, geht deutlich aus seinem Testament hervor, mit dem wir uns weiter unten beschäftigen.
Um Russell wurde schon zu Lebzeiten von vielen seiner Anhänger ein Personenkult betrieben. Ein ausgeprägtes endzeitliches Sendungsbewusstsein war ihm zueigen. Er nahm an, dass sich am Ende der Tage das Licht der Wahrheit immer mehr erhellt und ein vollerer Zugang zu den göttlichen Geheimnissen möglich ist. Er selber, Russell, sei der Empfänger dieses Lichtes. Er verglich sich mit dem „klugen und treuen Knecht“ in Matthäus 24, 45-51 und Lukas 12, 41-46. Von seinen Anhängern wurde er als „der Sendbote der Gemeinde von Laodizäa“ nach Offenbarung 3, 14-22 bezeichnet, so etwa in dem posthum herausgegebenen Band 7 der Schriftstudien (siehe unten). Russell wurde dort in eine Linie mit Paulus, Johannes, Arius, Waldus, Wiclif und Luther gestellt, welche die anderen Gemeinden