Die Lehren der Zeugen Jehovas. Lothar Gassmann
Trennung war die Lehre vom Loskaufopfer. Damit war der Kreuzestod Jesu Christi gemeint. Barbour achtete diesen sehr gering. Russell hingegen sah in ihm ein zentrales Ereignis, obwohl er die Lehre von der Dreieinigkeit (Trinität) Gottes ablehnte. In der „Herald“-Ausgabe vom August 1878 hatte Barbour geschrieben, dass „unseres Herrn Tod nicht mehr nützen könnte zur Bezahlung der Strafe für die Sünden der Menschen als das Durchstechen einer Fliege mit einer Nadel“. Dies war eine bibelkritisch geprägte „Linksabweichung“ von Russell, der dem Kreuzesopfer Jesu immerhin eine Wirkung zugestand, nämlich den Ausgleich der von Adams Versagen her ausgehenden Sünden. Wegen dieser Lehrdifferenzen kam es schließlich zur Trennung zwischen Barbour und Russell.
Endzeit-Berechnungen
Nun werfen wir einen Blick auf die Berechnung von Jahreszahlen hinsichtlich der Wiederkunft Jesu Christi. Bereits jüdische Rabbiner im ersten Jahrhundert nach Christus wandten – etwa unter Hinweis auf Zahlen im biblischen Buch Daniel – die Regel an: ein Tag für ein Jahr. Sie versuchten, dadurch das Kommen des Messias zu berechnen. Auch Joachim von Fiore hat im Mittelalter Berechnungen angestellt. So zählte er zum Beispiel die 1260 Tage in Offenbarung 11, 3 und 12, 6 zum Geburtsjahr Jesu Christi hinzu und gelangte dadurch zum Jahr 1260, in welchem das Zeitalter des Geistes beginnen sollte. Manches weitere Beispiel aus der (Kirchen-)Geschichte für Termin-Berechnungen könnte genannt werden (etwa der württembergische Prälat Johann Albrecht Bengel, der die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1836 datierte).
Von welchem Grunddatum gehen solche Berechnungen aus? Mindestens drei Möglichkeiten sollen Erwähnung finden. Das erste Ausgangsdatum ist die Erschaffung der Welt oder auch des ersten Menschenpaares. Die Datierung dieser Ereignisse ist natürlich sehr ungewiss. Ein zweites wesentliches Datum ist das Geburtsjahr Jesu Christi, das sich allerdings infolge der Veränderung des Kalenders und aus anderen Gründen auch nicht genau bestimmen lässt. Ein dritter häufig verwendeter Termin ist die Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar, welche nach Aussage der archäologischen und theologischen Forschung auf das Jahr 587 v. Chr. fällt. Neben diesen Datierungen finden sich zahlreiche weitere, die unterschiedliche Berechnungen bedingen. Im Kapitel über die „Letzten Dinge“ (Eschatologie) werde ich ausführlicher auf solche Fragen eingehen.
Wie schon erwähnt, erregte im 19. Jahrhundert vor allem die Voraussage der Wiederkunft Jesu Christi für das Jahr 1844 durch William Miller großes Aufsehen. Vor Miller, der diese „Entdeckung“ lange Zeit für sich behielt und erst 1831 damit an die Öffentlichkeit ging, hatte allerdings der Engländer John Aquila Brown diese Jahreszahl öffentlich vertreten, und zwar in einer bereits 1823 publizierten Schrift (vgl. Franz 1991, S. 140 f.). Brown (und nicht Miller, auch nicht Russell) dürfte nach den Forschungen von Franz (ebd.) als der wahre Urheber der Deutung der sieben Zeiten in Daniel 4 auf 2520 Jahre gelten. Die 2300 Tage aus Daniel 12 sollten laut Brown 1844 enden, die 2520 Jahre oder sieben Zeiten aus Daniel 4 im Jahre 1917 (ausgehend von der fälschlich auf das Jahr 604 v. Chr. datierten Zerstörung Jerusalems). Barbour verschob diesen Termin (ebenso unzutreffend) auf 606 v. Chr. und gelangte dadurch auf (ungefähr) 1914. Diese Berechnung hat schließlich Russell übernommen. Heute geht die Wachtturm-Gesellschaft vom Jahr 607 v. Chr. aus, weil Russell fälschlich ein Jahr 0 gezählt hatte.
Wegen des großen Einflusses von Barbour auf Russell sei nachfolgend die Version Russells von deren Begegnung wiedergegeben. Dabei liegt Russell viel daran, seine Eigenständigkeit zu betonen. Ich zitiere ausführlich aus dem „Wachtturm“ vom April 1907:
„Im Januar 1876 wurde meine Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf den Gegenstand der prophetischen Zeit gelenkt, und wie sehr sie mit diesen Lehren und Hoffnungen verknüpft ist. Es kam dies so: Ich erhielt ein Blatt genannt ´Der Herold des Morgens`, von seinem Verfasser, Mr. N. H. Barbour, zugesandt. Sofort beim Öffnen sah ich am Titelbilde, dass es von adventistischer Seite kam, und ich prüfte den Inhalt mit etwas Neugierde, um zu sehen, was nun die von ihnen für das Verbrennen der Welt bestimmte Zeit sein würde. Aber welch eine Überraschung und Befriedigung für mich, aus dem Inhalte zu sehen, dass des Verfassers Augen anfingen aufgetan zu werden hinsichtlich derselben Gegenstände, die unsre Herzen in Allegheny seit einigen Jahren so hoch erfreut hatten – dass der Zweck der Wiederkunft des Herrn nicht Zerstörung ist, sondern die Segnung aller Geschlechter auf Erden, und dass Sein Kommen gleich dem Diebe sein würde, nicht im Fleische, sondern als ein Geistwesen, den Menschen unsichtbar: und dass das Versammeltwerden Seiner Kirche und die Trennung des ´Weizens` von der ´Spreu` am Ende dieses Zeitalters stattfinden würde, ohne dass die Welt es gewahr werden würde. Ich war erfreut, zu sehen, dass andere gleich uns, Fortschritte gemacht hatten, staunte aber, die in sehr vorsichtiger Form gehaltene Behauptung zu finden, dass der Verfasser annahm, der Herr sei den Prophezeiungen nach schon in der Welt gegenwärtig (ungesehen und unsichtbar), und dass das Erntewerk des Einsammelns des Weizens schon an der Zeit sei, – und dass diese Ansicht durch die Zeit-Prophezeiungen bestätigt werde, die er erst vor wenigen Monaten als nicht zugetroffen angesehen hatte.
Hier war ein neuer Gedanke: Konnte es sein, dass die Zeit-Prophezeiungen, die ich wegen ihres Missbrauchs durch die Adventisten so lange verachtet hatte, wirklich gegeben waren, um anzuzeigen, wann der Herr unsichtbar gegenwärtig sein würde um sein Reich aufzurichten…?“
Und Russell fährt fort:
„Ich erinnerte mich gewisser Beweisführungen, deren sich mein Freund Jonas Wendell und andere Adventisten bedient hatten, um darzutun, dass das Jahr 1873 der Zeitpunkt des Verbrennens der Welt usw. sein würde – indem die Chronologie der Welt zeigte, dass die sechstausend Jahre seit Adam mit Anfang des Jahres 1873 endeten – sowie anderer Beweisführungen, die der Schrift entnommen waren und das Gleiche bestätigen sollten. Konnte es sein, dass diese Beweisführungen in Bezug auf die Zeit, die ich als der Beachtung nicht wert übergangen hatte, wirklich eine wichtige Wahrheit enthielten, die sie falsch angewendet hatten?
Begierig zu lernen, von woher es auch sei, was irgend Gott zu lehren haben würde, schrieb ich sofort an Mr. Barbour, teilte ihm meine Harmonie über andere Punkte mit und wünschte besonders zu wissen, warum, und auf Grund welcher Schriftbeweise er glaubte, dass Christi Gegenwart und die Erntezeit des Evangeliumszeitalters im Herbst 1874 seinen Anfang genommen habe. Die Antwort zeigte, dass meine Vermutung richtig gewesen war, dass nämlich die Beweisgründe für die Zeit, die Chronologie usw. die gleichen waren, die die Adventisten im Jahre 1873 gebraucht hatten, und dass Mr. Barbour und Mr. J. H. Paton zu Michigan, sein Mitarbeiter, bis dahin voll und ganz Adventisten gewesen waren; als jedoch das Jahr 1874 vorüberging, ohne dass die Welt im Brande vernichtet wurde, und ohne dass sie Christum im Fleische sahen, waren sie für eine Zeitlang wie verstummt.“
Russell berichtet dann, wie das Verstummtsein endete und er selber den entscheidenden Impuls für das Jahr 1874 empfing:
„Es scheint, dass nicht lange nach ihrer Enttäuschung im Jahre 1874 ein Leser des ´Herold des Morgens`, der die Diaglott-Übersetzung besaß, darin etwas bemerkte, das ihm merkwürdig vorkam -, dass in Matthäus 24, 27. 37 und 39 das in der gewöhnlichen Übersetzung mit ´Kommen` wiedergegebene Wort mit ´Gegenwart` übersetzt worden war. Das war der Leitfaden; und indem sie ihm gefolgt waren, wurden sie durch die prophetische Zeit zu richtigen Ansichten hinsichtlich des Zweckes und der Art und Weise der Wiederkunft des Herrn geleitet. Ich, im Gegenteil, wurde zuerst zu richtigen Ansichten über den Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft des Herrn geleitet, und danach zu der Prüfung der Zeit für diese Dinge, nach den Anhaltspunkten, die Gottes Wort dafür bot. So führt Gott seine Kinder oft von verschiedenen Ausgangspunkten zur Wahrheit.“
Ob diese Prophezeiungen wirklich der Wahrheit entsprechen sollten – mit dieser Frage werden wir uns später (im Teil „Letzte Dinge“) beschäftigen. Aber schon an dieser Stelle soll gesagt werden, dass man gegen eine unsichtbare Gegenwart schwer argumentieren, geschweige denn sie widerlegen kann. Freilich lässt sie sich auch nicht schlüssig beweisen.
Aufgrund der ihm bei Barbour und anderen begegnenden Berechnungen entwickelte Russell seine Ansicht von den Jahren 1874 und 1914. 1874 sei Christus unsichtbar wiedergekommen, um die Erntezeit einzuleiten und seine Gemeinde zu sammeln – und 1914 gehe diese Erntezeit