Die Höhle des Löwen. Christian Macharski

Die Höhle des Löwen - Christian Macharski


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hatte, war er in seiner üblichen Kluft, der grauen Stoffhose mit den ausgefransten Hosenträgern und dem grün-weißen Baumwollhemd, gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff in seinem Sessel versunken.

      Nachdem Will den sich bereits krümmenden Hund angeleint hatte, schlüpfte er in seine Gummistiefel, setzte sich seine grüne Kappe auf und zog seinen Kapuzenparka über. Kaum war er vor die Tür getreten, erleichterte sich Knuffi schon unter dem Rhododendron. Der kleine Hund schien eine gigantische Blase zu haben, denn erst nach einer gefühlten Ewigkeit senkte er wieder sein rechtes Hinterbein. Ein breites, gelbes Rinnsal schlängelte sich hinunter bis zum Bürgersteig und mündete dort in einer großen Pfütze, die das Unwetter hinterlassen hatte. Noch immer nieselte es und Will zog sich seine Kapuze über den Kopf. Das große Geschäft sparte Knuffi sich traditionell für seine Lieblingswiese auf, die etwa 50 Meter die Straße hinunter lag und Landwirt Dieter Brockers, Wills Rivalen, gehörte. Als sie sich der Wiese näherten, wedelte Knuffi bereits voller Vorfreude mit dem Schwanz. Will genoss derweil die frische, vom Regen gereinigte Nachtluft, die ihn ein wenig ausnüchterte. Mit einem Mal jedoch wurde die abendliche Ruhe von lautem Sirenengeheul zerrissen. Will und Knuffi zuckten zusammen. Während der Hund seinen Schwanz zwischen den Hinterbeinen einklemmte, beobachtete Will entgeistert, wie mehrere Streifenwagen mit quietschenden Reifen ins Neubaugebiet einbogen. Und da Will nicht nur der erfolgreichste Landwirt von Saffelen, sondern auch dessen verantwortungsvoller Ortsvorsteher war, war ihm sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wenn so viel Polizei den beschwerlichen Weg in das kleine Dorf an der holländischen Grenze auf sich genommen hatte. Ohne zu zögern spurtete er los. Knuffi jaulte auf und musste sich anstrengen, mit seinen kurzen Beinchen hinterherzukommen, ohne von der Leine stranguliert zu werden. Der kleine Hund bellte entsetzt, als er mit Schrecken feststellte, dass der dringend nötige Halt an seiner Lieblingswiese ausfiel.

      Wills ohnehin nicht sehr ausgeprägte Kondition hatte unter der Flasche Dujardin und den Chips gelitten und so bog er nach wenigen Minuten schnaufend und schwitzend in die Goethegasse ein, um dort seine schlimmsten Vorahnungen bestätigt zu sehen. Das Blaulicht der kreuz und quer geparkten Streifen- und Krankenwagen tauchte das Haus von Peter Kleinheinz und Bettina Hebbel in ein gespenstisches Licht. Ein Beamter sperrte gerade den kompletten Vorgarten mit Flatterband ab. Völlig außer Atem überquerte Will die Straße. Als der schwächelnde Knuffi dabei unvermutet seinen Weg kreuzte, geriet der Landwirt an der Bordsteinkante ins Straucheln. Glücklicherweise aber war am übernächsten Tag Müllabfuhr und Kleinheinz’ Nachbarn hatten bereits heute pflichtbewusst ihre mit blauen Mülltüten vollgestopfte Tonne an die Straße gestellt. So konnte Will sich im letzten Moment an der Tonne festhalten, um einen bösen Sturz zu vermeiden. Er pustete einmal tief durch und ging dann die letzten Meter bis zum Tatort bewusst langsam, um seinen Puls wieder zu beruhigen. Er band den verstörten Knuffi an einen Laternenpfahl und näherte sich dann mit großer Geste dem Polizisten, der das Flatterband befestigte.

      „Wilhelm Hastenrath mein Name“, stellte er sich höflich vor, „ich bin der Ortsvorsteher von Saffelen. Würden Sie mir bitte sagen, was hier los ist?“

      Der Uniformierte musterte ihn kurz und antwortete dann schroff: „Tut mir leid. Darf ich nicht.“

      Will drückte den Rücken durch und setzte erneut an. Diesmal etwas bestimmter. „Junger Mann, ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich bin hier der Ortsvorsteher und ich verlange auf der Stelle von Sie …“

      „Wie gesagt“, unterbrach der Polizist den Landwirt, ohne dabei aufzusehen, „ich kann nichts für Sie tun. Am besten, Sie gehen nach Hause.“

      Will traute seinen Ohren nicht. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Gerade als er den jungen Beamten in seine Schranken weisen wollte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Es handelte sich um Peter Haselheim, den Rektor der Saffelener Grundschule, der zwei Häuser weiter wohnte. Der Lehrer trug Filzpantoffeln und einen lächerlichen Frotteeschlafanzug.

      Leise raunte er Will zu: „Komm da weg. Das gibt nur Ärger. Die reagieren sehr empfindlich.“

      „Aber was ist denn überhaupt passiert?“

      „Keine Ahnung. Vor ein paar Minuten brach hier plötzlich die Hölle los. Polizei, Krankenwagen. Eben habe ich sogar mitbekommen, wie von einem Toten die Rede war.“

      „Um Gottes Willen“, entfuhr es Will.

      Er schlug die Hände vor den Mund und Haselheim fuhr fort: „Ich soll mich hier bereithalten zur Befragung.“

      „Hast du denn irgendswas mitbekommen?“

      „Na ja, als ich ins Bett ging, habe ich seltsame Geräusche gehört. Es hat viermal kurz hintereinander geknallt. Zuerst dachte ich, das wär ein Fensterladen, der vom Sturm auf- und zugeschlagen wurde. Aber jetzt, im Nachhinein, bin ich mir sicher, dass es sich um Schüsse gehandelt haben muss.“

      Während Will noch die Gedanken in seinem Kopf sortierte, sah er plötzlich, wie ein alter Bekannter aus der Haustür trat: Jochen Dohmen, der langjährige Partner von Peter Kleinheinz. Vor gerade mal zwei Monaten hatte er ihn näher kennengelernt, als sie gemeinsam einen Fall gelöst hatten. Das war seine Chance. Will ließ Haselheim stehen. Er riss das Absperrband hoch und betrat den Vorgarten. Innerhalb von Sekunden wurde er gestoppt. Ein fester Griff umklammerte seinen Arm.

      Der junge Polizist von vorhin zischte ihm böse zu: „So, es reicht. Sie werden jetzt auf der Stelle den Einsatzort verlassen. Ich erteile Ihnen einen Platzverweis. Wenn Sie dem nicht Folge leisten, gibt’s eine Anzeige wegen …“

      Will entwand sich dem Griff und funkelte den Beamten grimmig an: „Ich sag Sie mal was. Ich habe schon mehr Kriminalfälle gelöst als wie Sie. Außerdem kenne ich der Herr Dohmen persönlich. Und wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, dann wird der dafür sorgen, dass Sie unehrenhaft entlassen werden. Ich kenn sogar der Landrat … vom Sehen.“

      Oberkommissar Jochen Dohmen war mittlerweile dazugekommen. Er hatte seinen alten Spezi natürlich sofort erkannt und wusste, dass es sich um einen engen Freund von Kleinheinz handelte. Er selbst hatte sich zwar noch nicht so recht mit dem ruppigen Charme des Landwirts angefreundet, wusste aber dennoch um dessen Verdienste. Und so trat er zwischen die beiden Streithähne und bat den Polizisten, ihn kurz mit dem Mann allein zu lassen. Leicht verärgert kam dieser der Bitte nach. Dohmen war kreidebleich. Was auch immer in diesem Haus geschehen war, es schien ihn sehr mitgenommen zu haben.

      Es vergingen einige Sekunden, bevor der Kommissar stockend zu erzählen begann: „Herr Hastenrath, hören Sie, ich darf Ihnen eigentlich nichts sagen, aber ich weiß, dass Peter Kleinheinz Ihr Freund ist. Und deshalb … ja, ich kann es selbst noch nicht fassen. Viel können wir noch nicht sagen, wir warten noch auf die Mordkommission aus Aachen und die Spurensicherung. Das ganze Haus ist voller Blut ... Peter hatte mich angerufen. Er war völlig verwirrt und hat nur gestammelt, dass etwas Furchtbares passiert sei. Ich habe gerade versucht, mit ihm zu sprechen, aber er ist noch nicht vernehmungsfähig. Im Moment muss man wohl von einer Beziehungstat ausgehen. Ein noch nicht identifizierter Mann wurde erschossen, Frau Hebbel ist allem Anschein nach sehr schwer verletzt. Mehr weiß ich noch nicht und selbst das dürfte ich Ihnen eigentlich nicht sagen. Ich schlage vor, Sie gehen jetzt nach Hause und wir machen hier unsere Arbeit. Wir müssen sowieso erst mal warten, bis der Staatsanwalt da ist. Sie können mich aber gerne in den nächsten Tagen anrufen.“ Dohmen gab Will seine Karte.

      Der Landwirt steckte sie in seine Parkatasche und stammelte: „Danke, Herr Dohmen. Und bitte versprechen Sie mir, dass Sie alles für der Peter tun, was nötig ist.“

      Dohmen nickte und antwortete mit belegter Stimme: „Das verspreche ich Ihnen, Herr Hastenrath. Peter ist nicht nur Ihr guter Freund, sondern auch meiner.“ Er reichte Will die Hand.

      „So, und jetzt muss ich wieder rein – meine Arbeit machen.“ Will wartete noch, bis der Kommissar wieder im Haus verschwunden war, streng verfolgt vom verbiesterten Blick des jungen Polizisten. Er begab sich unter dem Flatterband hindurch zurück auf den Bürgersteig, machte Knuffi los und trat den Heimweg an. Es fühlte sich an, als würde er einen Mühlstein hinter sich herziehen, so schwer wurde ihm plötzlich ums Herz. An der Straßengabelung drehte er sich noch einmal um und beobachtete noch einige Minuten das aufgeregte


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