New Hope City. Severin Beyer

New Hope City - Severin Beyer


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Leidwesen ebenfalls dieser Taskforce an. Das hatte er seiner Juniorpartnerin Irina zu verdanken. Mit viel Engagement (und dem fast schon ans Verbrecherische angrenzenden Einfordern von Gefallen) hatte sie ihr Ermittlerduo in die Mordkommission AlbinoBlue geboxt. Diese Frau konnte Berge bewegen, da war sich der Kommissar ganz sicher. Denn bei Steiners Ruf grenzte Irinas Erfolg schon fast an ein Wunder. Sie machte ihm manchmal etwas Angst. Irina wollte unbedingt Karriere machen – aber nicht um der Karriere willen, sondern weil sie wirklich etwas verändern wollte. Jetzt ermittelte er mit ihr zusammen im Fall der Mumienmorde. Leider.

      Die Dunkelziffer der Todesfälle lag wahrscheinlich deutlich über den bisher bekannten Opferzahlen. Denn aus irgendeinem noch unbekannten Grund zerfielen die ausgetrockneten Leichen nach wenigen Minuten zu Staub. Sicherlich war anfangs nicht jeder auffällige Staubhaufen mit dem Verschwinden eines Menschen in Verbindung gebracht worden.

      Steiners Kollegen gingen davon aus, dass ein Zusammenhang mit dieser neuen Droge namens AlbinoBlue bestand, die alle Opfer konsumiert hatten. Seit Monaten überschwemmte die Substanz die Straßen New Hopes. Steiner hatte einmal gewagt zu fragen, ob die Tode nicht einfach eine Folge der Droge selbst sein könnten, zum Beispiel als ungewöhnliches Ergebnis einer Überdosis. Seine Hoffnungen, dass dies keine Angelegenheit einer Mordkommission, sondern eine Sache des Drogendezernats sein könnte, zerschlugen sich jedoch schnell, als ihm Irina so effizient wie genervt die Fakten präsentierte:

      Das AlbinoBlue war nicht tödlich, egal in welcher Dosierung. Das hatten alle Versuche an der neuesten Generation von Bio-Dummys gezeigt, die den menschlichen Organismus sogar in Echtzeit simulierten. Auch die Tests zu Wechselwirkungen mit anderen chemischen Elementen und Verbindungen hatten zu keinen nennenswerten Erkenntnissen geführt. Zwar bereitete die Formel des AlbinoBlues den Experten nach wie vor Kopfzerbrechen, da es sich dabei um ein völlig neuartiges und hochkomplexes Molekül handelte, dessen Struktur und Wirkungsweise selbst den hinzugezogenen Wissenschaftlern ein Rätsel war. Aber auch wenn die Experten der Polizei sich an AlbinoBlue die Zähne ausbissen, so sprach doch vieles für Mord. Denn bei allen Opfern hatten Forensiker vor dem Leichenzerfall eine kleine Einstichwunde an der Stirn entdeckt. Allerdings gab es nach wie vor keine einzige Videoaufnahme der vermuteten Morde, die von Argus‘ flächendeckender Überwachung aufgezeichnet worden wäre.

      » … Es gibt also definitiv eine Verbindung zwischen den Toten und dem Blue. Wir wissen nur noch nicht, welche«, hatte Irina damals ihre Ausführungen beendet. Seitdem waren sie in ihren Nachforschungen keinen Schritt weiter gekommen. Selbst die Kollegen, die undercover im Drogenmilieu ermittelten, hatten nicht den Hauch einer Spur von den Hintermännern. Nur Websites, Spammails und Flyer, die das AlbinoBlue mal als bewusstseinserweiterndes Nonplusultra, mal als den heißesten Shit, den man unbedingt ausprobiert haben musste, anpriesen, fanden sie zuhauf.

      In ihrer Ratlosigkeit hatte die New Hoper Polizei im Zusammenhang mit den Mumienmorden öffentlich vor dem Konsum von AlbinoBlue gewarnt. Die Medien stürzten sich begierig darauf: Der »Fluch des Pharao« war geboren. Die Droge, die dir den Trip deines Lebens verschafft – es sei denn du triffst den Pharao, der dich in eine Mumie verwandelt. Game over. Leider hatte die Polizeiwarnung für viele, die den Kick suchten, den Reiz erst erhöht. Seufzend stellte der Kommissar fest, dass er in einer Zeit der Ressourcenknappheit lebte: Da der Konsumgesellschaft die Güter ausgegangen waren, war das Sammeln von Erfahrungen als höchster Lebensinhalt geblieben. Synthetische Drogen florierten.

      Steiner machte sich auf den Weg zu seinem Zeugen. Vielleicht war dieser Rivera ja tatsächlich der Pharao, der hinter all diesen Morden steckte. Steiner stieß ungewollt auf. Sein eigener vergammelter, nach Alkohol riechender Atem stieg ihm in die Nase,

      ›Memo an mich selbst: Ich muss mir unbedingt eine zweite Zahnbürste für Madame Ming oder die Arbeit zulegen. Mundwasser tut es vielleicht auch.‹

      Beim Verlassen des Gebäudes machte Steiner an einem Snackautomaten halt. Eine Packung Kaugummi mit Minzgeschmack musste vorerst ausreichen.

      *

      Rivera lag nackt auf seinem Bett. Er starrte die Decke an. Aus dem Hintergrund hörte er den laustarken Protest des kanadischen Premierministers gegen die Annexion Kanadas durch die USA. Es war irgendeine Dokumentation auf History Facts – AllAlternativeChannel 5. Wenn dieser Junkie, den er sich eingefangen hatte, wenigstens die Lautstärke etwas drosseln würde … Er strich sich durch sein kurzes, schwarzes Haar und atmete mehrfach tief durch. Er atmete rein aus Gewohnheit, denn sein transhumaner Körper benötigte natürlich keinen Sauerstoff. Aber es wirkte entspannend, also tat er es trotzdem.

      Eigentlich müsste er angewidert sein. Dennoch war er es nicht. Irgendwie ließen ihn die Ereignisse des gestrigen Abends erstaunlich kalt. Klar, er war mit einem Kerl in der Kiste gelandet, aber dieses sexuelle Experiment war letztendlich nichts weiter als eine neue Erfahrung gewesen, von der er noch nicht ganz wusste, wie er sie einordnen sollte. Das hatte ihn selbst etwas überrascht. Homophobe nahmen ihr Anliegen eindeutig zu wichtig.

      Rational betrachtet war er, Rivera, ein Psychopath, darüber machte er sich keine Illusionen. Sein Gefühlsleben entsprach nicht dem des Durchschnitts. Er empfand nichts für seine Mitmenschen, genau genommen nahm er sie mehr als Dinge, denn als Lebewesen wahr. Die naheliegendste Erklärung für ihn war wohl die, dass er schon als Psychopath geboren worden war. Warum die Ärzte das damals trotz des amtlich vorgeschriebenen postnatalen Gehirnscanns nicht erkannt hatten, würde wohl für immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht gab es tatsächlich keine neurologischen Ursachen, vielleicht hatte ihn irgendetwas so werden lassen. Irgendein furchtbares Erlebnis, an das er sich nicht mehr erinnerte. Dabei waren seine Eltern stets liebevoll zu ihm gewesen. Auch hatte er nie ein Trauma erlebt, zumindest keines, das seine jetzigen Neigungen rechtfertigen würde.

      Warum auch immer er war, wie er war, er war ein begnadeter Serienkiller. Aber nicht irgendein gewöhnlicher Serienkiller, oh nein. Rivera verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und grinste ein zufriedenes, selbstsicheres Haifischgrinsen. Im Gegensatz zum gemeinen Serienmörder, der ein spezielles Opferprofil bevorzugte, war Rivera geradezu universell: Für ihn war die gesamte Menschheit Beute. Selbst bei der Todesart ließ er sich nicht festlegen, das wäre eine absolut unnötige Einschränkung seiner Kreativität gewesen. So hatte er allen Spaß der Welt, während die Polizei unmöglich in der Lage war, seine einzelnen Morde miteinander in Beziehung zu setzen.

      Wenn er so darüber nachdachte, dann war die Erklärung für seinen gestrigen Ausrutscher eigentlich recht einfach: Psychopathen liebten Macht. Er war ein Psychopath. Ergo liebte er Macht. Nach seiner Ohnmacht gegenüber diesem Kafkaliebhaber hatte er sich seine Macht zurückerobert, indem er ihn gefickt hatte. Dieser pseudopsychologische Ansatz überzeugte Rivera. Natürlich entsprach diese Denkweise einem überkommenen Männlichkeitsbild, wie er aus dem Sozialkundeunterricht wusste. Damals, als ihn sein Lehrer in der Schule über den Unterschied zwischen den Kategorien Gender und Sex aufgeklärt hatte. Rivera hatte das nie ernst genommen.

      ›Bin ich wirklich so einfach gestrickt?‹ Sein Grinsen wich einem nachdenklichen Blick. Er sah zu dem jungen Mann hinüber, der seinen nackten ausgemergelten Körper in eine Decke gehüllt hatte und auf dem Boden saß, von wo aus er den Wandbildschirm anstarrte.

      ›Vor allem, was mache jetzt mit ihm?‹ Rivera hatte nicht das Gefühl, dass ihn jetzt noch irgendetwas davon abhielt, diesen Typen zu killen. Da sein synthetischer Körper keine DNA-Spuren hinterließ und er die Kameras vor seiner Wohnung manipuliert hatte, würden wie immer keine Rückschlüsse auf ihn möglich sein. Doch sollte er ihn wirklich hier töten?

      Einen Mord in einer auf ihn registrierten Wabe hatte Rivera noch nie begangen. Privates und Vergnügen hatte er bisher immer getrennt gehalten. Es gab also noch keinen Präzedenzfall, an dem er sich orientieren konnte. Er drehte sich zur Seite und ging die ganze Angelegenheit sachlich in Gedanken durch.

      Die Sauerei könnte er auf die Küche oder das Bad beschränken, da wäre es einfach sauberzumachen. Der Abtransport der Leiche wäre da schon eher das Problem. Wenn er mit einem großen Sack auf dem Rücken durch New Hope laufen würde, wäre das wahrscheinlich ein wenig zu auffällig. In seiner Not müsste er den Junkie womöglich zerkleinern und ihn über mehrere Tage hinweg in der Stadt verteilen. Das Zerkleinern würde er wohl am besten in der Duschkabine


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