Toter Kerl. Tim Herden

Toter Kerl - Tim Herden


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nutzen. Zunächst war sein Argument gewesen, dass Rieder keine Betriebsfahrerlaubnis für das Land Mecklenburg-Vorpommern besitze. Seine alte aus Berlin sei hier nicht gültig. Rieder hatte seine Fahrkünste durch den Fahrlehrer auf dem Hof der Polizeidirektion in Stralsund überprüfen lassen müssen. Aber als er endlich den entsprechenden Nachweis in den Händen hielt, hatte Damp Rieder trotzdem den Schlüssel verweigert. Er, Damp, wohne im südlichen Inselort Neuendorf, Rieder dagegen in Vitte, nahe der Polizeistation. Da reiche das Dienstfahrrad, um schnell auf dem Revier zu sein.

      Was noch gegen Damp sprach: Er war auf der Insel nicht sehr beliebt. Mit einem wahren Kontrollwahn brachte er die Hiddenseer und auch Rieder gegen sich auf. Mal lauerte er am Abend am Straßenrand zwischen Neuendorf und Vitte und hielt jeden an, der ohne Licht am Rad fuhr, und verpasste ihm ein Ordnungsgeld. Mal maß er an den Gaststätten der Insel mit dem Zollstock den Abstand zwischen den Tischen vor den Lokalen zur Straße aus und ließ dann alles wegräumen, was die Vorgaben der Inselordnung überschritt. Ein Bußgeldbescheid folgte natürlich auch noch.

      Soweit die Insel und das kleine Büro im Rathaus es zuließen, gingen sich die beiden Beamten jedenfalls aus dem Weg.

      Rieder blickte nach oben. Er sah in das stark gerötete Gesicht seines Kollegen. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

      „Moin, Damp, was gibt’s?“

      Damp zog sein Taschentuch aus der Hose, nahm seine Mütze ab und wischte wahre Sturzbäche von seiner Stirn und seinem Gesicht.

      „Verdammt, ist das jetzt schon am Morgen heiß.“

      „Na ja, es ist August.“

      „Trotzdem.“

      „Sie sind wahrscheinlich nicht gekommen, um mit mir übers Wetter zu plaudern. Oder ist das nur ein plumper Versuch, die Autorität der Dienstuniform zu nutzen, um sich in der Schlange nach vorn zu drängeln.“

      „Ach Quatsch!“ Damp schüttelte seinen mächtigen Kopf. Dann knöpfte er seine Brusttasche auf und kramte einen Zettel heraus. „Hier, ein Anruf vom Steilufer am Enddorn im Norden. Ich habe den Typen nicht so recht verstanden. Geht bestimmt wieder um die Abbrüche an den Kreidefelsen. Wahrscheinlich hat er nasse Füße bekommen, als er um die Nordspitze laufen wollte. Oder was weiß ich. Und da Sie heute in die Richtung wollten, dachte ich, Sie könnten vielleicht mal nachsehen.“

      Damit drückte er Rieder den Zettel mit der Telefonnummer in die Hand.

      Die Spannungen im Revier hatten nach und nach zu einer Arbeitsteilung zwischen Damp und Rieder geführt. Damp machte vor allem Innendienst und kümmerte sich um den ganzen Schreibkram. Rieder streifte über die Insel und sorgte für Ordnung und Sicherheit. Er musste am Strand aufpassen, dass als Tagestouristen getarnte Taschendiebe dort nicht ihr Unwesen trieben, kümmerte sich um die Sicherheit der Wege und Stege auf der Insel und schaute in den Häfen der Insel nach dem Rechten. An den geraden Tagen durchquerte er den Norden der Insel, an den ungeraden den Süden. Heute war der Norden dran. Er wollte sich am Vormittag mit Thomas Förster, dem Chef des Nationalparkhauses, am Bessin treffen. Die Halbinsel war in den letzten Jahrhunderten durch angespülten Sand und Geröll entstanden. Viele Seevogel­arten hatten am Südende des Alten Bessin ihre Nistplätze.

      Letzte Woche hatte Rieder beobachtet, dass sich am Strand auf der Landzunge ein ölartiger Teppich gebildet hatte. Rieder wollte von Förster wissen, ob es sich dabei um eine Verschmutzung durch die Schifffahrt auf der Ostsee handelte oder um Algen.

      „Okay, ich schau nach. Kann ich das Auto bekommen?“, fragte er Damp. Er kannte die Antwort bereits, aber einen Versuch musste er wenigstens machen.

      Damp nahm noch einmal seine Mütze ab und kratzte sich das dichte wuschelige Haar.

      „Gerade heute ist es schlecht.“ Nichts anderes hatte Rieder erwartet. „Ich muss in Kloster schauen, ob die Fernsehleute alles ordentlich hinterlassen und mit ihrem Übertragungswagen nicht zu viel Schaden angerichtet haben. Falls da etwas aufgenommen werden muss, brauche ich das ganze Zeug aus dem Auto. Sie wissen schon, Zollstock, Kamera, vielleicht auch den Laptop. Tut mir leid.“

      Rieder konnte sich erinnern, dass sein Kollege am Vortag selbst den Abbau der Fernsehtechnik überwacht hatte, bis der Übertragungswagen auf die Fähre in Vitte gefahren war.

      Der regionale Fernsehsender hatte die Verleihung des Deutschen Literaturpreises an den Inselpfarrer Jens-Uwe Schneider übertragen. Schneider hatte viele Jahre unter dem Pseudonym „Jean ­Jacques Hoffstede“ Literaturkritiken in einer bekannten deutschen Wochenzeitung veröffentlicht. Seine Rezensionen waren zum Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg eines Buches auf dem deutschen Literaturmarkt geworden. Erst im Frühjahr war durch eine Indiskretion des zuständigen Redakteurs die wahre Identität des Literaturkritikers enthüllt worden. Dem ungläubigen Erstaunen der Kulturwelt darüber, dass der Pfarrer einer Inselkirche über Jahre hinweg bestimmt hatte, was die Deutschen lesen sollten und was nicht, war eine wahre Pilgerfahrt Intellektueller zu dem kleinen Pfarramt und dem alten Gotteshaus in Kloster gefolgt.

      Die Hiddenseer hatten die Enthüllung eher gelassen hingenommen. Prominenz war auf der Insel keine Seltenheit. Gerhart Hauptmann hatte hier gewohnt, Thomas Mann auf der Insel Urlaub gemacht. Dass nun aber ausgerechnet Schneider ein journalistisches und literarisches Talent sein sollte, hatte sie dennoch überrascht. Denn seine Predigten in der Inselkirche galten unter den nicht gerade gottesfürchtigen Insulanern als eher langweilig.

      Schneiders Vorliebe für Literatur jedoch war durchaus bekannt. Während der Urlaubssaison veranstaltete er zahlreiche literarische Abende und Lesungen mit bekannten Schriftstellern. Auch hier war das Interesse geteilt. Während die Touristen von diesem kulturellen Angebot begeistert waren, glänzten die Insulaner eher durch Abwesenheit. Viele Autoren verbanden dann auch das Angenehme mit dem Nützlichen und verbrachten gern ein paar Tage oder mehrere Wochen in der Ferienwohnung des Pfarrhauses. Kurpastoren, die im Sommer Schneider bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit auf der Insel unterstützten, mussten sich dann mit dem weniger luxuriösen Appartement im Gemeindehaus im südlichen Inselort Neuendorf begnügen. Darüber allerdings rümpften die Hiddenseer schon die Nase.

      Jedenfalls war Pfarrer Schneider alias Jean Jacques Hoffstede am vergangenen Wochenende mit dem Preis der Literaturkritik ausgezeichnet worden. Viele Prominente, darunter bekannte Schriftsteller, der Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern und sogar der Bundestagsvizepräsident, hatten an dem Festakt in der kleinen Inselkirche in Kloster teilgenommen und im nahen Gerhart-Hauptmann-Haus hatte es noch einen Empfang gegeben.

      Für Rieder und Damp war es wahrscheinlich der Höhepunkt ihrer Arbeit als Inselpolizisten in diesem Jahr gewesen. Die Vorbereitung hatte den Großteil ihrer Arbeitszeit in den letzten beiden Monaten in Anspruch genommen. Besonders Damp war richtig aufgeblüht beim Erstellen von Listen und Sicherheitskonzepten. Wie ein Stabschef hatte er seit Samstag die Vorbereitungen überwacht und die von Stralsund und Rügen zur Verstärkung abkommandierten Polizisten in ihre Aufgaben eingewiesen. Am meisten hatte Rieder überrascht, dass selbst die Personenschützer der ­Politiker aus Berlin und der Landeshauptstadt Schwerin sich ohne Murren Damps Anweisungen gebeugt hatten.

      Nur die Hiddenseer waren vergrätzt gewesen. Damp hatte angeordnet, dass alle Handwagen aus dem Hafen Kloster verschwinden mussten. Sie wären eine Unfallgefahr für die Ehrengäste, die mit Extrabooten aus Stralsund und Schaprode ankommen sollten. Aber es war auch ein Ferienwochenende. Viele Urlauber reisten ab und neue kamen in Kloster an. Da die Handwagen und Karren fehlten, mussten sie ihr Gepäck allein zu den Pensionen und Ferienwohnungen schleppen oder die Vermieter mussten es tun. Eine Alternative gab es nicht. Der Inselbus fuhr nur von Montag bis Freitag. Und sonst konnte man sich auf Hiddensee nur zu Fuß, per Fahrrad oder mit der Pferdekutsche bewegen. Autoverkehr war auf der Insel verboten bis auf die Ausnahmen: Polizei, Feuerwehr, Arzt und Krankenwagen. Selbst das ortsansässige Transportunternehmen für die Belieferung der Supermärkte, Geschäfte und Gaststätten durfte nur Elektroautos benutzen.

      Und so sorgten das an diesem Wochenende von Damp verhängte Handwagenparkverbot im Hafen von Kloster und die Plackerei mit dem Gepäck bei sommerlichen Temperaturen unter Touristen und Einheimischen für einigen Unmut.

      Abgesehen davon


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