Fahlmann. Christopher Ecker

Fahlmann - Christopher Ecker


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Wohnung: In der Speisekammer, die Knie an die Brust gezogen. «Wir sind oben!», erklärte Vater. «Ein Stockwerk höher.» Und kurz darauf: «Siehst du, wir sind alle noch da!» Doch ich ließ sein Bein erst wieder los, als wir zu Hause aus dem Taxi stiegen.

      Ein ähnliches, wenn auch nicht so traumatisches Erlebnis hatte ich Jahre später, als ich mich mit der Métro verfuhr. Ich war unterwegs zur Station Jussieu, versuchte den Kulturteil einer französischen Zeitung zu lesen, malte Kreise und Schlaufen unter Paris, die Buchstaben einer außerirdischen Schrift, wir tauchten aus dem Boden auf, um eine überirdische Station anzulaufen, ein Moment kurzen Glücks, dann riss es uns wieder hinab in die Dunkelheit. Auf einmal hielt die Métro, und sämtliche Passagiere stiegen in einer beunruhigenden Gelassenheit aus, als wüssten sie alle etwas, das ich nicht einmal ahnte. Ich ließ die unverständliche Lektüre auf einem pflichtbewussten Sitz liegen, der nicht hochklappte, um nach dem sich entfernenden Hintern des Aufstehenden zu schnappen, und folgte der Menge. Ein Meer von Köpfen glitt auf einer langgezogenen Rolltreppe in eine tiefere Etage. Hier verkehrten richtige Züge, RER, stand an den Wänden, seltsame Pläne, seltsame Namen, eine Welt unter der Métro, Châtelet Les Halles, halt, das kenn ich doch, umherirren, Schilder, Rolltreppen, endlose Gänge, Spiegel, Schilder, Treppen hinauf, Treppen hinab, Schilder, ein Drehkreuz, ja, bestätigte mir ein deutscher Familienvater, die violette Linie fahre zum Porte de Clignancourt, bei Barbès-Rochechouart stieg ich aus (wie immer verkaufte der alte Araber Nüsse und Gewürze auf seiner umgedrehten Apfelsinenkiste, ich freute mich richtig, ihn zu sehen), quetschte mich in einen überfüllten Wagon, fuhr eine Station weiter in Richtung Porte Dauphine und hatte mich erst wieder halbwegs beruhigt, als ich die Station Anvers durch das vertraute Jugendstiltor verließ.

      Achim, mit dem ich an unserem Stammplatz in Mollingers Eck saß, konnte ich meine beiden «Etagen-Erlebnisse» nicht erzählen. Er war nicht in Stimmung für ein ernsthaftes Gespräch. Ich hielt ihm mein Bierglas hin. Wir stießen an. Ich hatte mich eben an diese beiden Erlebnisse erinnert, weil Heinz behauptet hatte, er wäre vor einigen Jahren mit einigen Freunden durch die Kneipen gezogen und hätte Betrunkene aufgegabelt, um sie in anderen Städten auszusetzen. «‹Klar fahrn wir dich nach Hause!›, haben wir denen gesagt, und wenn wir gemerkt haben, dass sie so breit waren, dass sie nix mehr geschnallt haben, gings ab auf die Autobahn.» Heinz zauberte eine Zigarette hinter dem Ohr hervor, brach den Filter ab, sagte: «Hat mir Molli geschenkt», steckte sie an und sprach weiter, wobei er die Tabakfäden, die an der Lippe kleben blieben, trocken zur Seite spuckte. «Also stellt euch vor, ihr wankt durch die Stadt, thp, und wisst absolut nicht, wo ihr seid, thp, thp, und ihr orientiert euch am, thp, Karstadt, aber so wie hier hat das Karstadt noch nie ausgesehen, thp, tshp, Scheißzigarette!» Er zerquetschte sie im Aschenbecher. «Alles falsch, ihr kennt die Straßennamen nicht, kennt die Straßen nicht, auch wenn sie so heißen, wie sie sonst heißen, und wenn ihr dann zum Bahnhof geht …» – «Ist der Bahnhof ein unheimliches, ein fremdes Gebäude», ergänzte ich. Heinz nickte und zündete sich mit sichtlichem Behagen eine Gauloises an. «Gemein!», sagte Achim anerkennend, der seit seiner Bemerkung über Heinz’ «modische Kleidung» zu großen Respekt hatte, um auch nur eine Spur Skepsis an dessen Geschichte zu zeigen. – «Und das habt ihr wirklich gemacht?», fragte ich. – «Yup!» – «Wie oft?» – «Vier-, fünfmal war das bestimmt.» – «Klasse!», sagte ich. – «Jau!» Heinz stützte die Fäuste auf den Tisch, stand auf. «Ich geh dann mal zurück zu den Jungs am Tresen!» Achim sah Heinz’ breitem Rücken nach – und in diesem Augenblick biss die erste Erinnerung an. Schnell zog ich die Leine ein: Am Haken baumelte ein schreiender Junge in der leergeräumten Etage eines Mietshauses. Kaum hatte ich den Fang vom Haken gelöst und die Leine erneut ausgeworfen, fing ich die zweite Erinnerung: Ein verstörter Tourist mit erbärmlichen Französischkenntnissen, der inmitten routinierter Pendler eine steile Rolltreppe ins Unbekannte hinabfährt.

      «Glaubst du ihm?», fragte Achim. «Es war eine gute Geschichte», sagte ich diplomatisch, bedeutete Molli mit einem zweifingrigen V, noch zwei Bier zu zapfen, und nach dem fünften legte der Abend ab, verließ den Hafen und glitt auf einer unbewegten, trüben See davon, die mein Kugelschreiber gegen Mitternacht in einem Strudel des Selbstmitleids aufrührte, als ich nämlich am Küchentisch obigen Etagen-Satz ins Notizbuch kritzelte, ehe ich zu Susanne ins Schlafzimmer schlich.

      Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich mich am folgenden Montag wieder in der falschen Etage befinden und gleichzeitig eine Irrfahrt in einer verrückt gewordenen Métro machen würde, während mich böse Unbekannte sturzbesoffen in einer fremden Stadt ausgesetzt hatten. Das klingt übertrieben, vielleicht auch eine Spur zu originell, aber bei meiner Lesung in der Volkshochschule kam alles zusammen. Nach einer schlaflosen Nacht, in der mich der bevorstehende Auftritt mit Krakenarmen umklammert gehalten und mein Gehirn jedes Mal heftig zusammenpresst hatte, sobald es sich anschickte, im Watte-Reich des Schlafs zu versinken, kroch ich am Montagmorgen als verängstigter Schatten aus dem Bett. Bereits um neun Uhr kratzten wir das erste Unfallopfer von der Straße. Der Fahrer des blutverschmierten Mercedes saß auf einem Gartenmäuerchen; zwischen seinen Sandalen krümmten sich halbgerauchte Zigaretten; das Mädchen, entschuldigte er sich bei den Umstehenden, sei auf die Straße gerannt, einfach so, der Aufprall habe sie auf die andere Fahrbahn geschleudert, er schluckte, vor den Omnibus. Heinz hob die Decke an, die man über den kleinen Körper gebreitet hatte, kam fluchend zurück. Wortlos zog ich die Zinkwanne aus dem Transit und klappte sie auseinander. Die weiteren Termine waren weniger bedrückend: Krankenhäuser, Hausbesuche, die übliche Routine. Heinz philosophierte über seine Freunde, die good ol’ Totenwürmer, ich brütete düster vor mich hin, und als wir irgendwann nachmittags an einer roten Ampel standen, rammte mir Heinz den Finger in die Seite und fragte in kaum verhohlener Besorgnis: «Sag mal, willst du heute nicht in die Bäckerei?»

      «Nein.»

      «Was isn los?»

      Ich erzählte ihm von der Lesung.

      «Ich denk, das macht dir Spaß!»

      «Macht es auch.»

      Heinz sah mich fragend an.

      «Ach, ich weiß ja auch nicht», seufzte ich und rührte den Tabakqualm im Inneren des Transits mit einer hilflos schöpfenden Handbewegung auf, «das ist eine komplizierte Angelegenheit.»

      Danach versuchte mich Heinz bei einem eiskalten Feierabendbierchen in Sonjas Hähnchen Grill zu trösten, indem er mir einen Witz nach dem anderen erzählte. Frauen beim Arzt, Blondinen in der Badewanne, der Ameisenbär im Edelpuff. Laue Pointen umgaukelten die zerfranste Peripherie meines Bewusstseins, als mich Onkel Jörg gegen Abend zur Volkshochschule brachte. Er hatte Heinz zur Nachtbereitschaft verdonnert und freute sich vermutlich schon, dass sie binnen einer Stunde «sterngranatenvoll» im Büro sitzen würden. Onkel Jörg war ein Verführer in Sachen klarer Schnaps und Heinz ein willfähriges Opfer. Ich hätte mir auch lieber einige Kurze hinter die Binde gekippt, anstatt mich vor aller Welt lächerlich zu machen! «Nö, brauchst du nicht, ich nehm mir nachher ein Taxi. Sauft nicht zu viel. Und danke fürs Rumbringen!» Onkel Jörg hupte zum Abschied, ich winkte ihm nach, betrat die Volkshochschule und ließ mich von pfeilförmigen Pappschildern in den Keller leiten, dessen Wände irgendein Unbegabten-Workshop mit abstrakten Gemälden geschmückt hatte, zu denen Titel gepasst hätten wie Trauriges blaues Quadrat oder Alberner grüner Rhombus.

      An der Rückwand des Seminarraums, in dem ich lesen sollte, hatte man mehrere Tische in einer pornographischen Assemblage versammelt: Sie kletterten übereinander, besprangen sich und reckten in wohliger Trägheit die nackten Metallbeine in die Luft. Nur ein einziger Tisch distanzierte sich von dem schamlosen Treiben, ein Tisch, den eine Leselampe und ein umgestülptes Glas als mein «Pult» kenntlich machten. Ich drehte das Glas um, stellte die mitgebrachte Wasserflasche, kohlensäurearm, rülpsfeindlich, so daneben, dass nur ich allein das Etikett lesen konnte, knipste die Lampe an, sie funktionierte, noch sechsundzwanzig Minuten, knipste sie aus und saß ähnlich ausgeknipst vor den leeren halbmondförmig aufgebauten Stuhlreihen. Aus dem Ranzen des Mädchens war ein Schulbuch auf die Straße gerutscht, Mathematik, viertes Schuljahr, ich zwang mich, an den Ameisenbären im Bordell zu denken, tap, tap, tadap, krebsten meine Finger in nervösen Märschen über die Tischplatte, noch zweiundzwanzig Minuten, dachte ich, eine nackte Frau sitzt in der Badewanne, dachte ich, Großvater kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten


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