Fahlmann. Christopher Ecker

Fahlmann - Christopher Ecker


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Dr. Janensch als höchst gering ein: Vor Jahrmillionen hat das Wasser alle Skelette auseinandergerissen und die Knochen in alle Himmelsrichtungen verstreut. Anfangs glaubte Bahlow an ein Missverständnis, doch nach und nach stellte sich heraus, dass die Knochen tatsächlich aus dem afrikanischen Boden ragten. Und gab es da nicht eine dunkle Erinnerung an einen Mann, der über einen Knochen stolperte? Einen Mann, der gerne Portwein trank? Bahlow wünschte, er hätte nie von dem verfluchten Absinth gekostet!

      In der Nachbarkabine ertönten Volkslieder, plötzlich rummste es, und danach war es lange still, bis die Stimme genau dort wieder einsetzte, wo sie ein unbestimmtes Vorkommnis unterbrochen hatte; und während es nebenan das Wa-hand-ern sang, widmete Bahlow sich wieder dem Dossier. Irgendwelche Hebungen und Senkungen des Erdbodens, re-he-hecht-er Müller sein, hatten also die Schicht mit den Fossilfunden nach oben geschoben, die Schichten korrigierte er sich streng, denn die Tendaguru-Expedition grub in drei unterschiedlichen Etagen, nebenan kehrte Stille ein, grub sozusagen in drei Saurier-Stockwerken, die harte Sandsteinbänke mit reichlich maritimer Fossil-Fauna voneinander trennten. Schon auf den schmalen Negerpfaden, die von dem Sockelplateau des Tendaguru in die Mbemkuru-Niederung hinabführten, war es aufgefallen, dass die knochenführende Saurierschicht nicht nur die Oberfläche des Sockelplateaus zusammensetzte, sondern noch zweimal in tiefern Lagen angetroffen wurde, jedes Mal in der Oberflächenform eine Terrainstufe mit Steilabsturz nach Westen bildend. Es schien, als sei das Land nach dieser Richtung in Staffeln abgesunken und habe so terrassenförmigen Aufbau erlangt. Diese Auffassung musste aber alsbald weichen … Der Stewart brachte das Abendessen. Bahlow verbarg den rasch abgenommenen Tropenhelm hinter dem Rücken. Im Spiegel gefiel ihm der verwegene Helm, und er verkleidete sich täglich damit als Abenteurer und Entdeckungsreisender, aber vor einem Fremden – und gar vor einem Stewart! – wäre er sich albern vorgekommen.

      Die Firma hatte ihn mit allem eingedeckt, was er benötigen würde: Reisegepäck, entomologische Ausrüstung, Nachschlagewerke, Bestimmungsbücher, und da die zur Verfügung gestellte Kleidung von wirklich herausragender Qualität war, hatte Bahlow seine eigene Garderobe eines Nachts Stück für Stück aus dem Bullauge geworfen, das auf die schaukelnde Leere hinausschaute. Es war wie ein Abschied, die alten Hüllen trieben davon, er würde neu beginnen, beobachten, berichten, mein Freund ist der Süd-Monsun. Nach einigen Tagen erschöpfte sich der Volksliedvorrat; der musikalische Mitreisende ging zu Kirchenliedern über; und die dünne Wand tönte vom Ruhm und der Gerechtigkeit Gottes, derweil Bahlow Abschriften von Hennigs Korrespondenz durchging. Nicht einige wenige, einander nahe verwandte Formen, sondern eine ganze äußerst mannigfachige Fauna der Kreidezeit liegt in deutsch-ostafrikanischer Erde verborgen, schrieb Hennig seiner Braut. Sie war, vermutete Bahlow, erheblich jünger als Hennig. Dieser erzählte seinem «Mausebärchen» nie von Dinosauriern, sondern stets von «Schreckens-Echsen». Das Gesicht unter dem Tropenhelm blickte in den Spiegel und sagte: «Schreckens-Echse!» Und wieder: «Schreckens-Echse!» Es lachte gellend. Informativer (aber nie weniger schwärmerisch) fielen Hennigs Kurznotizen aus, die er in regelmäßigen Abständen im Archiv für Biontologie der Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin veröffentlichte. Unter der Tropensonne entspann sich eine Ausgrabungstätigkeit, wie sie noch nicht im Dienste der jungen paläontologischen Wissenschaft gestanden hatte!, jubelte es hier zum Beispiel, und Bahlow erfuhr, indes der Musikant nebenan offenbar Selbsterfundenes zum Besten gab, die Sammlung des amerikanischen Milliardärs Carnegie (der vor einigen Jahren dem Kaiser, wie Bahlow sich zu erinnern glaubte, Gipsabgüsse vollständiger Skelette zum Geschenk gemacht hatte) sei durch die Ostafrika-Funde rasch übertrumpft worden. Der Abguss des amerikanischen sog. Diplodocus im Berliner Museum zeige zwar eine Länge von 25 Metern, eine Höhe von 4–5 Metern, und der Oberarmknochen messe ganze 0,95 Meter, aber der Oberarm des größten Tieres vom Tendaguru umfasse nicht weniger als 2,10 Meter! Es sind zwar nur Einzelteile, hatte jemand (Kuider?) unter diesen Artikel geschrieben, aber dieser «unerwartete Schatz» (der Unbekannte spottete hier über eine Formulierung Hennigs aus einer anderen Publikation) macht die Geologisch-Paläontologische Abteilung des Berliner Museums den berühmten nordamerikanischen Sammlungen ebenbürtig!

      Beobachten, berichten, aber auf was habe ich denn überhaupt zu achten? Bahlow nahm die Mahlzeiten weiterhin in der Kabine ein. Er fühlte sich zunehmend wie ein Schauspieler, der sich ohne Textbuch auf eine schwierige Rolle vorbereiten soll. Nachts träumte er von gewaltigen Urwesen, die sich in seichten Küstengewässern in Fetzen rissen; bei einem Kostümfest in der Messe hatte er einen kurzen Auftritt in Tropenmontur (als er bemerkte, dass nicht nur er auf diese Idee gekommen war, zog er sich in die Kajüte zurück); ansonsten verlief die Seereise ohne nennenswerte Vorkommnisse, es sei denn, man wertete die stetige Zunahme der Außentemperatur als Besonderheit. Unter die Rubrik Vermischtes wäre vielleicht aufzunehmen, dass sich Bahlows Äquatortaufe wegen der rüden Zurschaustellung seemännischer Derbheit als nicht enden wollender Alptraum gestaltete, dass das mörderische Klima des Roten Meeres ihn zweieinhalb Tage lang mit leichtem Fieber ans Bett fesselte, und dass ihm, als das Fieber endlich nachließ, auffiel, dass er nicht wusste, wem er überhaupt Bericht erstatten sollte. Der Zimmernachbar hatte quietschenden Damenbesuch oder einen Herzanfall, ab Dar es Salaam begann Bahlow mit der Chinin-Prophylaxe, und schon ratterte die Ankerkette von der Winde: Dicke Manntaue verbanden das Schiff mit dem afrikanischen Festland.

      Drei kichernde Stewarts trugen das Gepäck an Deck, beteuerten, ihm auch weiterhin zu Diensten zu sein, wie komme er denn sonst an Land – und lösten sich in Luft auf wie Flaschengeister. Minutenlang stand Bahlow inmitten seiner Habseligkeiten. Er schwitzte. Unter dem rechten Arm klemmte der lange Stab eines Fangnetzes. Schließlich entschied er sich dafür, erst die sperrige Holzkiste an Land zu bringen, welche unentbehrliche Dinge wie Gläser, Präparierplatten, den zerlegten Lichtselbstfänger und Flaschen mit Essigäther enthielt. Dann den Seesack und die Reisetasche. Zuletzt die Hutschachtel (Tropenhelm!) und die Rolle feinsten Maschendrahtes.

      «Zu viel Gepäck?», scherzte es hinter seinem Rücken. Die Stimme erkannte Bahlow auf Anhieb! Sie gehörte zweifelsohne seinem musikalischen Kabinennachbarn, der sich ungeniert an Bahlows Hilflosigkeit weidete. Der schafsgesichtige Herr stellte sich dicht neben ihn und riss einige flaue Witzchen über gewisse Leute, die ihren ganzen Hausrat mitnehmen, wenn sie verreisen.

      «Ich bin Entomologe», entschuldigte sich Bahlow.

      «Na, dann viel Spaß mit Ihren Käfern!», verabschiedete sich der andere, und Bahlow sah nicht ohne Neid, wie triumphierend er dabei sein kleines Köfferchen schwenkte. Licht. Grell. Die Eindrücke verschmolzen zu einem Flimmern. Jenseits der glitzernden Wellengipfel verschwand der Witzbold im Menschengedränge des Kais. Bahlow ging in die Hocke, umfasste die Kiste mit beiden Armen, richtete sich ächzend auf. Nach der langen Schiffsreise schien der rissige Boden zu schwanken. Die Kiste senkte sich auf den atmenden Lehm, er sah schlanke, hochgewachsene Massai in rotbraunen Baumwolltüchern, rötlich gefärbte Zöpfe, das Haar quer von Ohr zu Ohr gescheitelt, vorne hing eine Strähne in die Stirn und klemmte unter einem Band aus Kaurimuscheln. Bahlow hatte keine Zeit, sich völkerkundlichen Betrachtungen hinzugeben, stürzte das Fallreep wieder hinauf, um den Seesack und die Tasche zu holen. Am liebsten wäre er jedoch zurück in die Kabine geschlichen, um dort ein Nickerchen zu machen, hätte sich gerne in den Eingeweiden des Schiffes versteckt, Tage, Wochen, für immer, er griff den Seesack, sah zum Ufer hinüber: Zwei junge Burschen machten sich an seiner Kiste zu schaffen.

      «Heh!», schrie er und taumelte an Land. «Heh!»

      Die Burschen hielten inne, sahen ihn ausdruckslos an. Bahlow fuchtelte mit dem Fangnetz vor ihren Gesichtern herum. Ungerührt hoben die Burschen die Kiste an. «Heh! Das ist meine Kiste!»

      «Das geht schon in Ordnung, Doktor Bahlow.»

      Bilderbeck stellte sich vor und gab Anweisungen in Kisuaheli, woraufhin die Boys die Kiste sorgsam absetzten und davoneilten, um sich Bahlows restlichem Gepäck anzunehmen. Bilderbeck grinste den Entomologen an – solange, bis dieser sich unbehaglich fühlte. «Heiß hier», bemerkte Bahlow. Bilderbeck grinste ins Leere. «Gottseidank weht eine leichte Brise», meinte Bahlow.

      «Eine leichte Brise, jaja, gewiss!» Bilderbeck strich sich sandfarbenes, fettiges Haar aus der braun gebrannten Stirn. «Gottseidank! Brise. Da haben Sie recht. So! Das wäre dann wohl Ihr gesamtes Gepäck!» Einige Worte auf Kisuaheli an die Träger, dann vertraulich zu Bahlow: «Sie


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