Fahlmann. Christopher Ecker

Fahlmann - Christopher Ecker


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vom nackten Onkel Jörg, woraufhin Heinz einen Witz über einen blutigen Tampon erzählte. Ich verzehrte derweil die zweite Schnecke; das Schweinsohr würde ich mir für später aufheben. Heinz trug Kniestrümpfe mit einem unerhörten Muster: Grüne Rauten erschreckten orangefarbene Rauten. Ihm war es egal, wie er rumlief, solange man keine dummen Witze darüber machte. Mein Freund Achim hatte einmal einen Scherz über Heinz’ «modische Kleidung» gerissen, und Heinz langte über den Tisch, packte Achim am Kragen und schüttelte ihn durch, bis ihm (Hörensagen) das Bier hochkam.

      «Hast du noch was in deiner Tüte?»

      «Ein Schweinsohr.»

      Heinz dachte nach. «Halbes Schweinsohr?»

      Ich brach das Kaffeestückchen in der Mitte durch.

      «Bistn netter Kerl!» Drei heißhungrige Bisse und er wischte die Krümel vom Anzug, den Onkel Jörg, wenn Heinz es nicht hörte, den «Kommunionsanzug» nannte. Der Stoff spannte über der Brust und an den Oberarmen, ein Lederflicken schützte den rechten Ellenbogen, die Taschen waren ausgebeult. Normalerweise ragten überdimensionale, spitze Kragenzipfel über das Revers, aber heute trug Heinz ein Hemd mit diskretem Kragen, wahrscheinlich sogar das Hemd, das ihm Onkel Jörg zu Weihnachten geschenkt hatte. Mich rührte die Art, wie Heinz sich kleidete. So liefen Junggesellen rum, die sich morgens das Erstbeste aus dem Schrank nehmen, was ihnen in die Finger kommt. Die Sache hatte nur einen Haken: Heinz war kein Junggeselle. Als Kind entnahm ich einer Äußerung meiner Mutter, dass er verheiratet sei, ein Umstand, der mich in Erstaunen versetzte. Mir kam es merkwürdig vor, dass der Heinz, der abends auf der Vespa den Hof verließ, zu einem Zuhause fuhr, wo er ein eigenes Leben führte, das mit unserem keinerlei Berührungspunkte hatte. Heinz sprach nie von seiner Familie; ich fragte ihn nie danach. Einmal hatte ich ihn mit Frau und Kind in der Stadt gesehen, einen unbehaglich dreinblickenden Heinz und nicht den unkomplizierten Kraftmenschen, den ich kannte und mochte. Ich hatte mich im Eingangsbereich eines Spielwarengeschäfts verborgen, einem gläsernen Gang zwischen Schaufenstern voller Marionetten und Stoffgiraffen. Heinz ging dicht an mir vorüber, ich hätte ihn am Ellenbogen berühren können. Er sah erschöpft aus, ausgelaugt, in der linken Hand eine Einkaufstüte, an der rechten ein Kind, und dieses Kind, es war nicht zu erkennen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte, hatte einen so einfältigen Gesichtsausdruck, dass ich vor Bestürzung einige Schritte rückwärts machte. Und da sah mich das Kind! Es drehte den Kopf in meine Richtung und schaute mich an. Mit leerem, schläfrigem Blick sah es mich solange an, bis ich mich umdrehte und ins Spielzeuggeschäft flüchtete. «Ich höre.»

      Ertappt fuhr ich zusammen. «Was?»

      «Du hast mir noch was zu erzählen!»

      «Was soll ich dir denn zu erzählen haben?», fragte ich heiser.

      «Alles. Über die Bäckerei – und die Frauen …»

      «Ich glaub, ich rauch erst mal ne Zigarette.»

      «Aha!», lachte Heinz und hielt mir den Anzünder unter die Nase. «Endlich wirst du wach!»

      Nach einigen Zügen begann ich mich erheblich wohler zu fühlen. Ich würde zwar fast den ganzen Tag im Leichenwagen sitzen, aber der Gedanke, dabei nicht nachdenken zu müssen, war befreiend. Körperliche Arbeit erledigt sich von selbst. Tote wegpacken, Särge zum Auto bringen, Särge aufladen, Särge abladen – kein Problem! Und abends mit Achim auf zwei oder drei Bier in Mollingers Eck. Es gab noch einen Unterschied zu den Schreibtagen: In dieser Nacht würde mir ausnahmsweise mal nicht die Einsicht den Schlaf rauben, wieder einmal mit voller Wucht an meine schriftstellerischen Grenzen geprallt zu sein und nicht länger so weiterleben und -schreiben zu können. Heute ist mein Ehrgeiz geringer. Vieles ist mir gleichgültig geworden. Dennoch genieße ich es, Sie ahnen ja nicht, wie sehr ich es genieße, jetzt einen Absatz zu machen und den nächsten mit einer nüchternen Beschreibung zu beginnen.

      Die Leichenhalle des Evangelischen Krankenhauses lag im Keller eines Seitentrakts. Ein zur Tür hin offenes U kleiner, rechteckiger Milchglasfenster befand sich unter der Decke des fast quadratischen Raums. Eines der Fenster stand offen. Draußen sah man gestutzten Rasen und, vorausgesetzt man presste sich dicht an die Wand, den blauen, fast wolkenlosen Sommerhimmel. Für Winkler war meine Arbeit ein Quell steter Faszination, aber in den Leichenhallen, die ich besuchte, ging es nicht zu wie in den Horrorfilmen, von denen er schwärmte: «Nackte Frauen sind gut», behauptete er oft, «aber nackte, tote Frauen, die bärenstarken Leichenwäschern den Kopf samt Wirbelsäule abreißen, sind besser.» Ich mochte andere Filme. Nein, das ist gelogen. Ich mag keine Filme. Ich sah selten fern; ins Kino ging ich nie. Heute immer noch nicht. Wieso auch?

      Winkler brachte das Gespräch regelmäßig auf meine Arbeit, obwohl ihm meine Informationen eine Illusion nach der anderen raubten. Die Leichen lagerten zum Beispiel nicht, wie er glaubte, in Kühlvitrinen. «Natürlich gibt es Kühlvitrinen in der Prosektion, aber darin bewahrt man nur die strittigen Fälle auf, bei denen es eventuell zu einer Obduktion kommen kann. In manchen Krankenhäusern gibt es nicht einmal eine Leichenhalle, und wir müssen die Toten in den Sterbezimmern der jeweiligen Stationen abholen, aber mir sind Krankenhäuser mit Leichenhalle lieber. Das ist diskreter.» – «So», nickte Winkler, «ich verstehe.» – «Was willst du noch wissen?» – «In welchem Zustand sind die Leichen?» – «Nun, das Pflegepersonal hat sie vor dem Aufbahren gewaschen. Man hat ihnen frische Binden angelegt und jedem eine Windel angezogen, damit niemand beim Transport ausläuft. Am besten sehen die Leichen aus, die wir in Altenheimen abholen. Frisch rasiert und gekämmt. Sogar die Nägel hat man ihnen geschnitten. Alles nur …» Winkler unterbrach mich und ergänzte: «Damit keine Gerüchte entstehen wie: Im Altenheim X werden die Leute schlechter behandelt als im Altenheim Y.» – «Genau», sagte ich.

      «Ihr wart heute ganz schön auf Zack», sagte Heinz.

      Der Pfleger, ein bulliger Mensch mit schweren Augenlidern und Pferdeschwanz, nickte.

      «Herzschlag», vermutete ich.

      Der Pfleger, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, nickte erneut.

      Das Gesicht des Aufgebahrten war zu einer Maske erstaunten Leids erstarrt; Heinz hob ein Augenlid: Eine geweitete Pupille stierte ins Leere. Die Haut des Toten hatte sich noch nicht verfärbt und wies lediglich an den Fingernägeln die aschgraue Tönung auf, die nach einem Herzschlag den ganzen Körper überzieht. Sie hatten uns wirklich schnell gerufen. Ich stellte mich an die Wand, blickte aus dem Fenster, sah in die Sonne hinein und kniff die Augen zusammen. In den Wimpern schillerte das Spektrum der Fraunhoferschen Linien. Oder hieß der gute Mann Frauenhofer? Ich blinzelte, Frauenhofer klingt blöd, ohne e, genau, schreibt sich wahrscheinlich ohne e, Grundkurs Physik, ich hatte nichts verstanden, alle Physiklehrer auf die Schwarze Liste, mit Befremden stellte ich fest, dass ich mir das Gesicht der Bäckereiverkäuferin nicht ins Gedächtnis rufen konnte, Abbild der Sonne auf der Netzhaut. So sehr ich mich auch konzentrierte, ich sah nur ihre schönen Unterarme vor mir, die Kuchenzange, die zugriff, vielleicht findet sie mich ja trotzdem sympathisch, ihre Möpse, vielleicht denkt sie, ich wäre schüchtern, gut, schüchtern ist gut, vielleicht hab ich mich gar nicht so schlimm blamiert … «Weißt du, was das ist?», fragte Heinz.

      «Eine Trage?», mutmaßte ich.

      Heinz nickte dem Pfleger aufmunternd zu, und dieser verkündete: «Das ist ein Ferno-Verstorbenen-Transporter.» Dann machte er die Spannungspause seines Lebens.

      «Ein was?», fragte ich.

      «Na, erklärs ihm schon!», sagte Heinz, und ich bekam erläutert, es sei ein Problem, die Verstorbenen aus den Krankenzimmern zu schaffen, ohne dass die Besucher und Patienten dadurch gestört würden. «Stell dir vor, du gehst deine Omma im Krankenhaus besuchen, tideldum, und da schieben sie gerade nen Toten ausm Nachbarzimmer. Da kannst du ja gleich wieder nach Hause gehn!» Der Ferno-Verstorbenen-Transporter sei die Lösung dieses Problems, denn diese scheinbar leere Krankentrage habe einen doppelten Boden, eine so genannte Leichenmulde. Das Wort «Leichenmulde» kam ihm verdächtig glatt von den Lippen. Was ging hier vor? Wieso wusste er so gut Bescheid? Hatte er einen Kurs an der Volkshochschule besucht? Leichenmuldenkunde für jedermann? Und wie ließ sich sein enormes Bedürfnis erklären, den Ferno-Verstorbenen-Transporter in den höchsten


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