Fahlmann. Christopher Ecker
hatte mich meine überschwängliche Begeisterung fürs Dramatische zu weitaus gewagteren Szenen hingerissen. Klassenarbeit Erdkunde, splitternd fliegt die Tür auf, ein Polizist mit vernarbtem Gesicht hechtet ins Klassenzimmer der 8a, rollt sich geschickt ab und lässt die Mündung seiner Waffe über die Bankreihen streichen. Hinter ihm erscheinen weitere Polizisten. «Wer von Ihnen ist Georg Fahlmann?» Ein hagerer, finster dreinschauender Kommissar im Trenchcoat tritt vor. – «Wer will das wissen?», frage ich. – «Wir brauchen Ihre Hilfe, Fahlmann!» Plötzlich fährt er herum und schnappt: «Wer ist dieser Knilch?» – «Das ist Herr Schöppke.» Ich mache eine abfällige Handbewegung. «Ein Erdkundelehrer.» Urkunden werden überreicht, Handgranaten detonieren, Maschinengewehrgarben zerfetzen meine Mitschüler, ich steige in den wartenden Jeep. Bereits auf dem Lehrerparkplatz fallen die ersten Schüsse. «Das ist ein Hinterhalt. Sie hat ihnen alles verraten. Man darf niemals – Papa?» Ich schaltete das Licht an. Es war Jens.
«Was gibts?»
«Om stinkt.»
«Aha.» Wieso steht er auf meiner Bettseite, obwohl sich Susannes Seite näher an der Tür befindet? «Nach was stinkt er denn?» Jens kicherte vielsagend, und ich brachte erst ihn ins Bett, packte dann Om im Genick, trug ihn ins Bad und duschte sein Hinterteil mit lauwarmem Wasser ab. «Was warn los?», fragte Susanne, als ich mich wieder hinlegte.
«Schlaf weiter!», sagte ich.
«Gute Nacht!», sagte ich.
Pause. «Gute Nacht!», sagte ich etwas lauter.
«Gute Nacht!», sagte Susanne.
«Haben Sie Interesse, für das FBI zu arbeiten?», fragte der hagere Kommissar und sah mich abwartend an.
3Ich bin der einzige Mensch, über den ich nie einen Roman schreiben könnte, bekannte ich in jenem Sommer meinem Notizbuch. Ich habe keinen hervorstechenden Charakterzug, nichts, bei dem der Leser sagen würde: «Aha, das ist Georg Fahlmann!» Ich bestehe aus unverbundenen Taten, Gedanken, Ängsten und einem dürren aber leidlich gesunden Körper. Ich stehe morgens am Fenster und werde nicht wach, ich schlafe abends schlecht ein und stelle mir meine Beerdigung vor. Ich habe nicht einmal einen Tic wie jede siebte Figur bei Thomas Mann, und oft weiß ich nicht, wer oder was ich eigentlich bin. Ich verschwende viel Zeit meines ereignislosen Lebens, mich an ereignislose Zeiten zu erinnern und mir etwa zu überlegen, wieso es mich belastet, dass ich im Sportunterricht nie die Kletterstange hochgekommen bin. Nachtrag: Eben ist mir noch jemand eingefallen, über den ich nie einen Roman schreiben könnte: unser neuer Briefträger.
Das letzte Wort erhebt sich in Großbuchstaben über die zittrigen Krakel meiner Handschrift. Und dass es mit zornigen Strichen eingekästelt ist, zeigt mir, wie schwer mir der Mann damals zusetzte. Heute erinnere ich mich der Gefühle und Empfindungen meines früheren Ichs mit gewisser Wehmut, obiger Notiz, nebenbei bemerkt, mit ungläubiger Scham: Die Klage, ein ereignisloses Leben zu führen, erscheint mir leichtfertig, denn nach allem, was mir inzwischen widerfahren ist, hat die Verknüpfung der Worte «ereignislos» und «Leben» einen fast idyllischen Beigeschmack. Eigentlich ist es unerheblich für mein Vorhaben, aber da ich den Briefträger nun aus den Kellern der Erinnerung hinauf ins Parterre gezerrt habe, will ich ihn da nicht verloren stehen lassen – inmitten der abgedeckten Sessel und Stühle. Anfangs hatte ich gedacht: Der lernts noch, aber als Wochen und Monate ins Land gingen und ich meine Briefe weiterhin in der Nachbarschaft zusammensuchen musste, weil er meine Post nach mysteriösen Kriterien auf fremde Briefkästen verteilte, platzte mir der Kragen. Ich wartete einen günstigen Zeitpunkt ab, um ihm die Leviten zu lesen, und als ich ihn einige Tage später die Straße entlangwatscheln sah (ich kam mit dem Leichenwagen vom Getränkemarkt Zarth zurück), dachte ich: So Freundchen, jetzt bist du fällig! Ich fuhr an ihm vorbei, parkte zehn Meter weiter. Ein Dackel, der vor der Metzgerei Kundel an einem Laternenmast festgebunden war, wir müssen draußen bleiben, mahnte das Schild auf der Glastür, Wurst, Wurst, Schinken, lockte das Innere des Ladens, beobachtete, wie ich ausstieg und mich in Halbstarkenmanier an die geöffnete Wagentür lehnte. Der Bauch des Dackels hing durch, einige Häuser straßab verschwand der Briefträger hinter einem Zaun, tauchte wieder auf, bog in einen Gartenweg, seine Mütze schwamm auf einer Hagebuttenhecke, und schon saß sie wieder auf seinem Kopf. Ich überlegte, was ich sagen sollte. Ohne stehen zu bleiben, wühlte der Briefträger in seiner schweren Tasche. Ein Ausspruch Philip Marlowes geisterte mir durch den Kopf: Ich hör die Parzen mit den Scheren klappern, aber bestimmt wusste der Briefträger nicht, was Parzen sind. «Die was?», würde er fragen und damit alles ruinieren. Es gab andere Möglichkeiten. «Ab heute können Sie Ihre Briefe in der Hölle austragen.» Schrotflinte unter die Nase und abgedrückt. Hurra, Aufregung, das Dackel-Frauchen verließ die Metzgerei, hurra, wuff, hurra, jetzt fessle ich mich mal mit meiner Leine, Wurst, Wurst, Schinken, «halt mal bitte still», Wurst, sie band den Köter los, Schinken, wuff, prima Schinken, ist das etwa Fleischwurst, «hier, mein Schatz», sie hielt ihm ein Stück Wurst unter die Schnauze, und endlich näherte sich der Briefträger, links die lederne Posttasche, rechts eine böse Schlagseite.
«Entschuldigen Sie», begann ich zaghaft, «ich muss mir die Post immer in der Nachbarschaft zusammensuchen.» Das Ärgernis schnaufte, es war sehr jung, es war sehr fett, es sah mich verständnislos an. Frau Kundel glotzte aus dem Schaufenster der Metzgerei; ich nickte ihr freundlich zu. Dem Briefträger hing hellblondes, verschwitztes Haar in die Stirn, über seiner dicken Oberlippe spross das schüttere Bärtchen eines Dreizehnjährigen, und dass er trotz akuter Atemnot eine Zigarette rauchte, machte mich betroffen. Ebenfalls milde stimmte mich sein kränkliches Aussehen: Unter den Fischaugen glänzten feuchte Ränder, das bartlose Fleisch der Wangen und des Halses war leicht gerötet. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und fragte: «Ihre Post zusammensuchen?» Ich würde ihn gar nicht erst auf die Schwarze Liste setzen. «Bei den Nachbarn», erklärte ich. «Die Post ist nicht in meinem Briefkasten.» – «Ah, ich mach was falsch.» Er seufzte so ausgiebig, dass sich seinem Doppelkinn die Gelegenheit bot, nach dem Krawattenknoten zu schnappen. «Sie ahnen nicht, wie oft mir so was passiert. Tut mir sehr leid. Ist mein Fehler. Ich versprech Ihnen, es wird nie wieder vorkommen!» – «So schlimm ist es auch nicht. Ich wollte nur …» – «Es wird nie wieder vorkommen! Wie war Ihr Name, sagten Sie?» – «Fahlmann. Georg Fahlmann.» – «Fahlmann», er schaute an mir vorbei, «vom», er las die Beschriftung des Transits: «Beerdigungsinstitut Georg Fahlmann.» Erst amüsierte es mich, dass er Gebr. für eine Abkürzung meines Vornamens hielt, aber dann begriff ich die Tragweite dieser Fehlleistung. Ich hätte ihn nie mit dem Transit abfangen dürfen! Nun hatte sich nämlich der durchaus klug kombinierte Zusammenhang Georg-Fahlmann-fährt-einen-Leichenwagen-auf-dem-sein-Name-steht in den Windungen seines Gehirns verhakt. Rasch versuchte ich zu retten, was noch zu retten war.
«Das mit dem Auto hat nichts zu sagen. Ich wohne zwar neben dem Beerdigungsinstitut Gebrüder Fahlmann», hierbei zeigte ich auf den Transit, «habe dieses Auto», ich zeigte wieder auf den Transit, «aber nur geliehen. Fahlmann. Das ist mein Name. Georg Fahlmann. Nebenan. Ich wohne ne-ben-an. Neben dem Institut. Also die Post bitte ne-ben-an in den Briefkasten werfen!» Der Briefträger quittierte den Dammbruch des Stausees von Informationistan mit einem Kopfnicken. Dann meinte er ernst: «Ich habe Post für Sie, Herr Georg Fahlmann», wobei es ihm in rührender Weise misslang, seiner Stimme einen amtlichen Tonfall zu geben. Er kramte in der Umhängetasche. Wieso benutzt er kein Wägelchen wie alle Briefträger? Die Tasche war vollgestopft. Außerdem stand eine Flasche Sprudel darin. Waldquelle. Mit wenig Kohlensäure. Der Anblick dieser Flasche erschütterte mich so sehr, dass ich mit einem harschen «Werfen Sie mir die Post doch einfach in den Briefkasten!» in den Transit stieg.
Am Nachmittag holte ich die Post bei Onkel Jörg ab.
«Über was regst du dich eigentlich so auf?», fragte Susanne.
«Ich rege mich darüber auf, dass ich mich nicht mehr über etwas aufregen kann, über das man sich eigentlich aufregen müsste. Aus irgendwelchen sentimentalen Gründen …»
«Wer ist man?»
«Man bin immer ich.» Man stand am Küchenfenster, sah aber nicht hinaus, sondern Susanne und Jens an, die frühstückten. «Ich rege mich darüber auf, dass die Post nicht kommt.»
«Aber du regst dich