Fahlmann. Christopher Ecker
Jens mir erzählte, Mutter, wie sie früher gewesen war, wenn sie sich neben mir über den Wohnzimmertisch beugte, vor uns aufgeschlagene Bücher und Hefte, während sie sich mit dem Tintenkiller geduldige Locken ins Haar drehte.
Leider hatte die Mutter meiner Kindheit nur wenig mit der sonnenbankgebräunten Person zu tun, die jetzt über den Hof hastete, um den Acht-Uhr-Fünfzehn-Bus zu erwischen, einer Frau, die sich krampfhaft weigerte, alt zu werden, mit zu jungen Männern schäkerte, lachhaft modische Kleider und Teenager-Schmuck trug sowie viel zu oft «in den sonnigen Süden» flog. Ich kann mir übrigens kaum vorstellen, wie ich als Kind aussah. Gewiss, es gibt Fotografien (ich auf Mutters Schoß, ich auf der Schaukel hinterm Haus, ich beim Kuchenbacken mit mehlbestäubtem Gesicht), aber diese Bilder scheinen mir auf seltsame Art und Weise verkehrt zu sein, denn in meinen Kindheitserinnerungen agiere ich stets als körperlich kleinere Version meines erwachsenen Ichs, und der Gedanke, dass ich der kleine Junge gewesen sein soll, der meiner Mutter von seinem Taschengeld ein Küchengerät aus Plastik zu Weihnachten kaufte, verwundert und rührt mich zugleich. Im Gegensatz zu Vater gab mir Mutter immer das Gefühl, ihr etwas Schönes, etwas Nützliches geschenkt zu haben, indem sie meinen Tanten und Onkeln das Geschenk präsentierte, wenn diese am zweiten Weihnachtsfeiertag ihren Pflichtbesuch abstatteten. Ich hatte Vater einmal ein Feuerzeug zum Geburtstag geschenkt. Obwohl er sich damals bei mir bedankte, argwöhnte ich, dass er sich nicht so recht freute, dabei hatte mich das rote Plastikfeuerzeug siebzig Pfennig gekostet und mir zudem einen langen, belehrenden Vortrag des Tabakwarenhändlers über die Gefahren des Rauchens eingebracht. «Und dann schneiden sie dir die schwarzen Raucherbeine ab», resümierte er vergnügt und überging mit einem wissenden Lächeln meine Bemerkung, es handele sich um ein Geburtstagsgeschenk für meinen Vater. «So was hör ich jeden Tag», seufzte er. «Das hör ich so oft, dass ich mir manchmal wünsche, ihr würdet euch was Ordentliches ausdenken.» Wortlos zählte ich ihm sieben Zehnpfennigstücke in die aufgehaltene Hand; ich werde ihn ebenfalls auf meine Schwarze Liste setzen.
An seinem Geburtstag wickelte Vater das Feuerzeug aus der Papierserviette, in die ich es eingeschlagen hatte, sagte: «Aha!», was längst nicht so erfreut klang, wie es wahrscheinlich klingen sollte, räusperte sich erschrocken, als er den Gesichtsausdruck meiner Mutter bemerkte, murmelte: «Danke sehr!» und ließ das Feuerzeug in der Jackentasche verschwinden. «Verschwinden» ist das richtige Wort, denn es blieb tagelang verschollen, bis es überraschend in der Kramschublade des Küchentischs auftauchte, wo ich ab und zu nach Kleingeld stöberte. Von da an schob ich das Feuerzeug jeden Abend unauffällig in Vaters Reichweite, sobald er in seinem Fernsehsessel Platz genommen hatte, um die Tagesschau zu sehen, die Beine hochgelegt, auf dem Wohnzimmertisch der Aschenbecher und die Abendzigarre.
Aber jedes Mal, wenn Vater das Feuerzeug benutzte und es beim Wetterbericht an die Spitze der Zigarre hielt, um die Flamme mit kussähnlichem Schmatzen in den Tabak zu saugen, wurde mir schmerzlich bewusst: Er hatte vergessen, dass es sich hierbei um das Geburtstagsgeschenk seines Sohns handelte. Achtlos legte er es beiseite und zog sich in eine Wolke beißenden Gestanks zurück, aus der nach einer Weile ein Arm kam, um nach der Fernsehzeitung zu tasten. Dieses Spielchen machte ich etwa eine halbe Woche mit, dann hatte ich die Nase voll: Ich ließ das Feuerzeug in der Kramschublade, und zu meiner Bestürzung zog Vater am ersten feuerzeuglosen Abend ein Schächtelchen extralanger Streichhölzer aus der Brusttasche der Feierabendweste und gab sich mit großer Selbstverständlichkeit Feuer. Seitdem habe ich ihm nichts mehr geschenkt.
Über solche Sachen dachte ich oft nach, wenn ich mich ins Untergeschoss schlich, nachdem Mutter zur Arbeit gegangen war. Bereits im Wohnungsflur lauerten Erinnerungen, und kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, ergriff mich die wehmütige Gewissheit eines unwiederbringlichen Verlustes. Eine moderne Couchgarnitur hatte die bequemen Sessel vertrieben, der Läufer war verschwunden, über dessen umgeknickte Ecke wir früher alle gestolpert waren, und die zahllosen Aschenbecher hatten nach Vaters Tod ihr trauriges Exil auf dem Dachboden angetreten, wo sie nur noch mir treue Dienste leisteten. Im neu gekachelten Badezimmer, hier roch es nach Mutters süßlichem Deodorant, vermisste ich meinen Handtuchhalter Marke Entenkopf, auf dem Glasregal über dem Waschbecken stand ein einziger verwaister Zahnputzbecher, aber am schlimmsten hatte es mein Kinderzimmer erwischt. In diesem kleinen, als Gästezimmer verkleideten Raum endete der Rundgang. Ich legte mich aufs Bett, das noch am alten Platz stand, und zelebrierte eine Senior Service, eine dieser legendären Zigaretten, die James Bond zu rauchen pflegt. Ich aschte in den Bettkasten, ließ Arabesken und Ornamente aus Rauch zur Decke aufsteigen, aus deren Flecken und Rissen die vergessenen Fratzen der Jugend traten. Auch aus den Falten der Vorhänge krochen Erinnerungen, bewegten sich seitwärts wie Krebse auf mich zu, ich nahm einen knisternden Zug an der Zigarette, vermisste das Star-Wars-Plakat an der Tür, die Bravo-Poster von Debbie Harry an den Wänden, vermisste sogar die Vollmondnächte, in denen ich nicht schlafen konnte und die Lamellen der Fensterläden das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos über die Zimmerdecke fächerten. Ich war nicht gerne erwachsen. Ich war nie gerne ein Kind gewesen. Mutter mochte Susanne nicht. Susanne mochte Mutter nicht. Ich mochte Mutters Freunde nicht. Tja … Gegenüber machte Onkel Jörg sich bemerkbar, immer noch im lila Bademantel. Ich winkte, und zufrieden darüber, dass ich ihn gesehen hatte, schloss er das Schlafzimmerfenster und zog den Vorhang zu. Ich nahm die Thermoskanne von der Fensterbank und schenkte die Tasse wieder voll. Damals hatte Onkel Jörg meinen Vater eingesargt, alleine, am Nachmittag, aber das Licht brannte noch immer hinter den getönten Scheiben des Lagers, als ich schlafen ging. Am nächsten Tag fuhr er ihn gemeinsam mit Heinz zum Krematorium, nahm dort persönlich die Urne in Empfang und zeigte sie uns allen, bevor er sie nach Sylt zu unserem Reeder schickte. Den Wunsch, auf See bestattet zu werden, hatte Vater mehr als einmal geäußert. Bestimmt ertrug er die Vorstellung nicht, dass sein zu Lebzeiten so sorgsam gepflegter Körper im Erdboden zu Sülze verrottete, Käferlarven ernährte, Maden ein Heim bot, während der Totenwurm Tunnel um Tunnel ins verwesende Fleisch bohrte.
Der Polizist, den sie uns damals geschickt hatten, war klein und in Zivil, hatte starken Sonnenbrand auf der Stirnglatze und versuchte offenbar, einen Weltrekord im Preisschwitzen aufzustellen. «Sie brauchen keinen Leichenwagen zu rufen», sagte er und sah von seinem Block auf. «Sie können das ja selbst machen.» Dieser Gedanke ließ ihm von nun an keine Ruhe mehr. «Ich weiß, dass das makaber klingen mag, aber irgendwie ist es doch», er zögerte, «praktisch», jetzt war es heraus, «wenn er hier im Hof», um Verständnis heischendes Armrudern, «Sie verstehen schon!» Interessiert wandte er sich an Onkel Jörg, der neben dem Toten auf einem umgedrehten Bierkasten saß. «Wollen Sie es selbst erledigen, Herr Fahlmann?» Onkel Jörg brachte ihn mit einer matten, abwehrenden Handbewegung zum Schweigen. Teilnahmslos beobachtete ich, wie das Sonnenlicht die Westfassade unseres Hauses hinabströmte. Nachdem der Polizist gegangen war, begann Onkel Jörg zu weinen. Heinz legte mir den Arm um die Schulter. Der alte Doktor Birch kam, um den Totenschein auszustellen. Danach ließ er einen Flachmann mit gutem Cognac rumgehen. Er bemerkte mehrmals, es sei eine Schande, ich stimmte jedes Mal zu, gab ihm den Flachmann zurück, er nahm selbst einen tiefen Schluck, Heinz räusperte sich entschlossen. «Wir packen ihn besser weg, bevor Marianne nach Hause kommt!» Und dann packten wir Vater weg.
Im Flur klingelte das Telefon, hartnäckig, mit prahlerischem Dudeln. Früher haben Telefone wenigstens noch richtig geläutet, aber das hört man leider nur noch in alten Filmen. Hier gibt es kein Telefon. Wozu auch? Ich sitze an einem – nein, ich muss weitermachen, muss mich weiter erinnern, das Telefon läutet, ich muss mich erinnern, wie ich die Kaffeetasse auf die Fensterbank stellte, in den Flur ging, muss mich genau erinnern, wie ich den Hörer abhob …
«Spreche ich mit Herrn Georg Fahlmann?»
Ich kannte die Stimme. «Ja», sagte ich.
«Es geht um Ihren Großvater.»
«Wer spricht dort, bitte?»
«Buchhandlung Struebing. Struebing mein Name.»
Vorsichtig, um mich nicht im Telefonkabel zu verheddern, ging ich zurück in die Küche, schob das Frühstücksgeschirr beiseite und parkte das Telefon zwischen Tellern und Marmeladengläsern. Jens hatte seinen Kakao nicht ausgetrunken, aber wir waren froh, wenn er überhaupt frühstückte. «Ein halbes Brötchen», drängten wir und werteten es als Erfolg, wenn er zwei Drittel davon aß. Ein Pausenbrot brauchte man ihm gar