Fahlmann. Christopher Ecker
steht dann am Straßenrand ein Holzkreuz oder eine rote Grablaterne oder, wie in jenem Fall, an den ich mich jetzt deutlich erinnere, das mit einem Kranz umwundene Rad eines Fahrrads. Ich fuhr ein paar Tage nach dem Unfall mit Susanne an dem geschmückten Rad vorbei (wohin wir unterwegs waren, weiß ich nicht mehr; bestimmt hatten wir uns von Onkel Jörg den Transit geliehen, um Getränke einzukaufen) und sagte stolz: «Den haben wir mit diesem Auto abgeholt.» – «Verschon mich mit deiner Arbeit!» – «Der hat hinten im Auto drin gelegen.» – «Georg!» – «Hat immer so geröchelt», ich gab gurgelnde Geräusche von mir, «und von innen an die Zinkwanne geklopft, weil er raus wollte. Erst haben wir gedacht, es würde was am Auto klappern. ‹Was klappert denn da?›, fragt mich Heinz, und ich sage: ‹Das ist doch eher ein Blubbern!›» – «Georg!», zischte Susanne. Ich fuhr schweigend weiter. Nach einer Weile fing ich an, mit Fistelstimme «Hilfe! Hilfe!» zu rufen und dabei ganz leicht mit dem Knöchel an die Seitenscheibe zu pochen. «Hilfe! Hilfe!», piepste ich. «Lasst mich bitte raus! Hilfe!» Gleich, wusste ich, würde Susanne mit diesem lächerlichen Gesichtsausdruck zu schreien beginnen, bei dem ich nicht ernst bleiben könnte. «Macht dir deine Arbeit nichts aus?», hatte mich Winkler mal gefragt. «Nein», sagte ich, «ich bin damit groß geworden. Wir haben im Sarglager Verstecken gespielt. Aber manchmal schafft es schon.» Ich überlegte, was und wie viel ich ihm anvertrauen durfte, und ergänzte vorsichtig: «Junge hübsche Frauen zum Beispiel.» – «Und hast du nie?» – «Nie! Ich bitte dich!» Natürlich hatte ich. Aber das war eine kalte, traurige Sache, nichts worüber man reden sollte. Und schon gar nicht mit jemandem wie Winkler.
Bevor ich mit dem Schreiben begann oder mich wieder hinlegte, weil mir schlecht wurde, wenn ich ans Schreiben dachte, bedauerte ich regelmäßig Jens. In der Schule zwang man ihn zum Stillsitzen, zum Aufmerken und zum Kopfrechnen. Man erzählte ihm jede Menge Unsinn vom lieben Gott und der Wichtigkeit des Arbeitens, nötigte ihn dazu, im Kanon Hoch auf dem gelben Wagen zu singen, las ihm hanebüchenen Unfug vor: Der süße Brei (Gebr. Grimm), Der kleine lustige Hase (Gebr. Dumm) – und aus welchem Grund glauben Erwachsene eigentlich, man müsste Kindern alles über St. Martin erzählen? «Warum hat er dem Bettler nicht den ganzen Mantel gegeben?», hatte Jens einmal wissen wollen, und seine Lehrerin ermahnte ihn, ernst zu bleiben und zukünftig freche Zwischenbemerkungen zu unterlassen. «Ich halte das durchaus für einen berechtigten Einwand», tröstete ich ihn, aber die moralische Unterstützung seines Vaters half Jens in der Schule denkbar wenig.
Als ich die vierte Klasse besuchte, hatte meine Lehrerin, die wir «Fräulein» nannten, obwohl sie schon zum zweiten Mal verheiratet war, eine Nikolaus-Tombola veranstaltet. Fräulein Gilbeck heftete Schönschrift-Zahlen an die Päckchen, arrangierte sie auf dem Pult, und dann musste jeder eine Nummer aus ihrer gefütterten, muffig riechenden Wintermütze ziehen. Das Geschenk, das ich zur Tombola beisteuerte, war ein Dreierpack, bestehend aus einem Bleistift, einem Bleistiftspitzer und einem Radiergummi, ganz wie es Fräulein Gilbeck vorgeschlagen hatte, als Andreas sie fragte, wie teuer das Nikolausgeschenk denn sein müsse. «Wir kaufen nur kleine Sachen.» Fräulein Gilbeck lispelte leicht und sprach stets in diesem geduldigen, nachsichtigen Tonfall, den ich als Erwachsener nur dann anschlug, wenn ich Susanne zur Weißglut bringen wollte. «Wir», fuhr Fräulein Gilbeck in einer Munterkeit fort, die sie für ansteckend hielt, «schenken uns alle etwas Nützliches.» – «Was ist denn etwas Nützliches?», fragte Andreas, und Fräulein Gilbeck antwortete prompt: «Ein Bleistift, ein Bleistiftanspitzer und ein Radiergummi zum Beispiel.» In meiner kindlichen Ehrfurcht vor Autoritäten ließ ich Mutter tatsächlich besagte Schreibwaren kaufen und in das Weihnachtspapier mit den fetten Engeln und verblichenen Kometen einwickeln, das vom Vorjahr übriggeblieben war. Natürlich versuchten wir am Tag der Verlosung rauszukriegen, welche Gewinnmöglichkeiten sich uns boten. Als absolutes und ungeschlagenes Hitgeschenk stellte sich ein Lustiges Taschenbuch heraus, und wir alle hätten selbstverständlich lieber Fantomias schlägt zurück gewonnen als eine Packung Lego (von Michael) oder das Pferdebuch mit den Lesespuren am Rücken (von Karin) oder gar den Bleistift, den Spitzer und den Radiergummi.
Hinter mir, in der nur halberinnerten Küche, in der sich mein erinnertes Ich an seine Kindheit zurückerinnert, weil ich will, dass es sich genau jetzt daran erinnert, begann der Wasserkessel zu pfeifen, erst zaghaft, dann mit wütender Energie. Ich nahm ihn vom Herd, goss sprudelndes Wasser in den Filter, der unförmig auf der Thermoskanne saß, ich rieche den frisch gebrühten Kaffee, rieche ihn hier im Hotelzimmer und stehe wieder am Küchenfenster. Als ich mein Nikolaus-Tombola-Geschenk überreicht bekam, fiel es mir schwer, die Enttäuschung zu verbergen: drei Drittklässlerhefte. Natürlich wusste ich, von wem sie stammten. Das Mädchen hieß Astrid, stand kurz vor der Überweisung in die Sonderschule und wohnte in einem so genannten sozialen Brennpunkt, einer berüchtigten Straße, die wir beim Spielen mieden. Fräulein Gilbeck entging meine Enttäuschung nicht. Sie zeigte sich bestürzt über meinen zugegebenermaßen etwas kärglichen Gewinn und machte den Vorschlag, dass der- oder diejenige, «der oder die drei Hefte für die dritte Klasse zur Nikolaus-Tombola einer vierten Klasse beigesteuert hat», mir morgen etwas mitbringen solle, «als Wiedergutmachung sozusagen», einen Apfel zum Beispiel, den der oder die Betreffende (außer Fräulein Gilbeck wusste jeder, um wen es ging) mir vor der ersten Stunde auf die Bank legen könne. Ich sah mich außerstande, zu protestieren. «Lasst es doch bleiben!», hätte ich gerne gerufen. «Macht euch wegen mir keine Umstände und vergesst die ganze Sache!» Stattdessen sagte ich nichts und schämte mich, im Mittelpunkt zu stehen, schämte mich dafür, dass sich Astrid schämte, schämte mich, dass jeder wusste, dass sie mir jetzt einen Apfel mitbringen musste, schämte mich, dass Jochen einen Bleistift, einen Spitzer und einen Radiergummi gewonnen hatte, außerdem mochte ich damals keine Äpfel. Genauso wenig wie Birnen, Mirabellen und Pflaumen; allein das Wort «Fallobst» jagte mir einen Schauder über den Rücken.
Am Boden des Filters hatte sich ein fingertiefer Morast gebildet, ich goss heißes Wasser nach, flutete den Sumpf zum dampfenden Tümpel, zum See, und ließ den Kaffeesatz bis zum oberen Rand emporstrudeln. Am nächsten Tag hatte ein Apfel auf meiner Bank gelegen. Ich betrat das Klassenzimmer, sah ihn, bemerkte zugleich, dass mich alle beobachteten, versuchte, erfreut und überrascht zu wirken, näherte mich meinem Platz ohne Astrid dabei anzusehen, setzte mich blöd grinsend hin und ließ den Apfel unter der Bank im Ranzenfach verschwinden. Selbst nach den Weihnachtsferien lag er noch da, faulte und verströmte süßlichen Verwesungsgeruch. Ich ekelte mich dermaßen vor dieser verschrumpelnden Frucht, dass ich sie nicht berühren konnte. Nicht in der Lage, sie eigenhändig zu entfernen, setzte ich meine Hoffnungen in die Putzfrauen, doch der Apfel blieb liegen. Abends vorm Einschlafen dachte ich an nichts anderes als an diesen sich in grauen Schleim verwandelnden Apfel, ich konnte mich in der Schule kaum noch konzentrieren, vergaß Zahlen beim Kopfrechnen, verlas mich beim Vorlesen, Apfel, tönte es unaufhörlich in meinem Kopf, verfaulender Apfel. «Georg?» Fräulein Gilbeck baute sich vor mir auf. «Hast du häusliche Probleme?» Ende Februar fasste ich den Entschluss, mir die Sache etwas kosten zu lassen. Neben mir saß Jochen. Seine Eltern waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt, was ihn in den Augen seiner Mitschüler zu einer Sensation machte. Er lebte bei einer alten Tante, durfte Raumpatrouille Orion und Die Vögel sehen («Und wosch! fliegt die Tankstelle in die Luft!») und war ein hartgesottener, frühreifer Bursche («Dann haben wir aus ihrer Tittenmilch Pudding gemacht!»), der kein Wort Hochdeutsch sprach und seine Popel so genussvoll und ungeniert verzehrte, wie ich es seither nie wieder gesehen habe. «Ich geb dir ne Mark, wenn du den Apfel wegmachst.» – «Ich machs für zwei.» – «Okay!», sagte ich, und wir besiegelten es mit Handschlag. Vielleicht hat Susanne ja recht mit der Behauptung, dass ich zu viel in der Vergangenheit lebe, überlegte ich am Küchenfenster, aber ich kann nicht verzeihen. Von Fräulein Gilbeck bis zum unfreundlichen Busfahrer meiner Gymnasialzeit: Sie stehen alle auf der Schwarzen Liste.
Ich warf die Filtertüte in den Ausguss, schenkte mir Kaffee ein. Unten zog Mutter die Wohnungstür zu, und kurz darauf sah ich sie nur wenige Meter an der Stelle vorübereilen, wo Vater gestorben war; sie hatte offensichtlich die erste Stunde frei. Seit Vater tot war, blühte sie von Jahr zu Jahr mehr auf. Die Arbeit machte ihr Spaß, die Schüler nannten sie Frau und nicht Fräulein Fahlmann, und auf die Idee, eine Nikolaus-Tombola zu veranstalten, wäre sie gewiss nicht gekommen. Mutter, von deren Vater ich die Leidenschaft für Bücher geerbt hatte, half Jens nachmittags bei den Hausaufgaben. Mein Argument, dass sich das schon einmal