Fahlmann. Christopher Ecker

Fahlmann - Christopher Ecker


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wie Onkel Jörg sodann die Hand auf den Schaltknüppel sinken lässt und mit erhobenem Kopf in den neu justierten Rückspiegel blickt, der ihm, wie ich in alptraumhafter Gewissheit begreife, einen leeren Hof zeigt. Und in der Tat entschuldigte sich Onkel Jörg später: «Ich dachte wirklich, es wäre frei.» Ich stehe gelähmt am Fenster, mein Vater hat sich nach etwas gebückt, Onkel Jörg blickt in den Spiegel, und mit irrwitziger Geschwindigkeit stößt der Transit zurück.

      Die Reifen schleudern Schotter in die Höhe, ein dumpfer Aufprall, und Vater rudert mit Armen und Beinen durch die Luft, als wollte er zum Mond schwimmen, der als bleiche Muschel am Morgenhimmel klebt. Onkel Jörg erstarrt hinterm Lenkrad, legt den ersten Gang rein, das Getriebe knirscht, erneut wird Gas gegeben, die Hinterreifen entfernen sich von Vaters verkrümmtem Körper, der Motor wird abgewürgt, Onkel Jörg schaut ausdruckslos in den Rückspiegel. Dann steigt er aus, schlägt die Fahrertür zu und verschwindet hinter den schwarzen Scheiben des Hecks.

      «Mein Vater ist tot», sage ich tonlos zur Fensterscheibe.

      Hinter mir lacht Susanne. Unten taumelt Onkel Jörg hinter dem Heck des Transits hervor, sieht die Gestalt am Boden. Seine Miene ist steinern. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Bisweilen fährt er sich mit der Hand über die Stirn. Leise und eindringlich sage ich: «Das stimmt wirklich.» Hinter mir knistert es (Susanne legt die Zeitung beiseite), Stuhlbeine scharren über den Küchenfußboden (Susanne steht auf), unten beugt sich Onkel Jörg über seinen Bruder, greift dem schlaffen Körper unter die Achseln, zerrt ihn auf den Transit zu. Vaters Absätze ziehen Furchen in den Schotter.

      «Was geht denn da ab?», flüstert Susanne neben mir.

      Onkel Jörg sieht sich um. Sein Blick zuckt nach links, sein Blick zuckt nach rechts, sein Blick hebt sich, bleibt am Küchenfenster kleben.

      «Ich weiß es nicht», sage ich, «aber jetzt hat er uns entdeckt.»

      Wir sehen Onkel Jörg an und er sieht uns an, lange und ausdruckslos, ehe er den Körper meines Vaters behutsam auf den Boden sacken lässt. «Halt mal bitte!» Ich drücke Susanne die Tasse in die Hand, öffne das Fenster und rufe Onkel Jörg zu: «Ich komme zu dir runter.»

      Gott sei dank, dachte ich auf dem Weg nach unten, ist Mutter in der Schule. Und: Gott sei dank ist Jens im Kindergarten. Mehr dachte ich nicht. Weder empfand ich Trauer noch ein Gefühl der Leere oder des Verlustes (das kam erst Jahre später und hatte andere Gründe) – und schon knirschten meine Sohlen auf dem Schotter des Hofs. Onkel Jörg lehnte am Leichenwagen, der schwarze Lack ließ ihn blass aussehen. Beim Näherkommen verzerrte sich meine Gestalt in der spiegelnden Heckklappe: Erst stauchte es mich zum Zwerg zusammen, um mich gleich darauf wieder auseinander zu ziehen. Ich sah Onkel Jörg fragend an; dieser bewegte den Kopf verneinend hin und her und wich dabei meinem Blick aus.

      «Der Krankenwagen kommt gleich!», rief Susanne aus dem Küchenfenster. Der Putz unseres Hauses war, wie mir plötzlich auffiel, erheblich schmutziger als der des Beerdigungsinstituts. Außerdem (auch dies nahm ich mit einer Klarheit wahr, als sähe ich es zum ersten Mal) stand unser Haus eine Spur schiefer. Wegen einer Grubensenkung neigte es sich leicht zur Straße hin, als verbeugte es sich höflich vor den Passanten. Es wurde einem schwindlig, wenn man es zu lange anschaute. Ein sich mit den Jahren verbreiternder Riss, den Vater alle paar Monate neu verputzte, kroch aus dem geschotterten Boden über die Hauswand zum Kellerfenster empor, durchschnitt unsichtbar das Glas, und zuckte sodann eine große fensterlose Partie bis zu einem Punkt empor, den Susanne mühelos berühren könnte, hätte sie sich ein kleines Stück weiter aus dem Fenster gelehnt.

      «Ich habe auch bei der Polizei angerufen», sagte sie.

      «Polizei?» Onkel Jörg wirkte besorgt.

      «Ein Unfall», sagte ich leise. «Sie müssen es zu Protokoll nehmen. Du hast ihn nicht sehen können.» Ich ging neben dem Körper in die Hocke und berührte zum ersten Mal seit Jahren meinen Vater. Die Haut am Hals sah aus wie das schlaffe Gummi einer Faschingsmaske. Die Halsschlagader pochte nicht mehr. Vaters Gesicht war glattrasiert, faltig, weich, ich musste an ein ungekochtes Hähnchen denken. Irgendjemand sollte ihm die Augen schließen. Ich konnte das nicht, stand auf und ließ die Augen weiter ins Leere starren. Im Linken drohte die schmale Sichel der Pupille unter dem unteren Lid davon zu tauchen; wie einen Teppich zog die Sonne den Schatten unseres Hauses behutsam ins Fundament zurück; und auf einmal lag Vaters Hinterkopf in der prallen Morgensonne. Das Licht glitt erst über seine vom Tod geglättete Stirn, dann über die maskenhaften Gesichtszüge. Zur Besinnung brachte mich ein wohlbekanntes Knattern von der Straße her, dem einige mechanische Huster folgten. Ich nahm die zerknautschte Zigarettenschachtel aus Vaters zur Kralle erstarrten Hand und steckte sie in die Hosentasche, bevor Heinz mit der Vespa in den Hof einbog; in meiner Nachttischschublade sollte diese Reliquie noch lange nach Tabak riechen.

      «Ich hab ihn nicht gesehen», sagte Onkel Jörg.

      Heinz löste den Kinnriemen und nahm den Helm ab.

      «Er hat sich nach irgendwas gebückt», sagte ich heiser.

      «Man sitzt in dem Ding so gottverdammt hoch», rechtfertigte sich Onkel Jörg und deutete überflüssigerweise auf den Transit. Eine Fliege setzte sich auf meinen Unterarm. Ich ließ sie sitzen. Ihre Füße kitzelten durch meine Haare. Mittlerweile war das Sonnenlicht von Vaters Kinn den Hals hinabgeschmolzen, und mit einer Faszination, für die ich mich heute schäme, registrierte ich, dass Vaters Hemdkragen für den Bruchteil weniger Sekunden die Grenzlinie von Licht und Schatten im Hof bildete. «So eine Scheiße aber auch!», sagte Heinz und steckte sich eine Gauloises an.

      Am nächsten Tag lehnte ich wieder an der Leibung des Küchenfensters und sah in den Hof hinab, als wäre nichts geschehen. Susanne war diese Gewohnheit ein Dorn im Auge, aber ich sollte sie erst nach unserem Umzug aufgeben, und das nur notgedrungen, weil die neue Küche bloß durch ein winziges quadratisches Fenster erhellt wurde, dessen ohnehin viel zu schmale Fensterbank Susanne mit Topfpflanzen zustellte, ehe ich protestieren konnte. «Dann bekomme ich beim Frühstück endlich mal dein Gesicht zu sehen!», meinte sie, doch in der Art, wie sie es sagte, schwang das sichere Wissen mit, sich nie mit meiner Morgenlaune anfreunden zu können. Aber ich greife vor. In dem Sommer, von dem ich hier erzählen will, war Vater schon einige Jahre tot und ich schrieb an meinem ersten Roman. An Wochentagen stand ich mit Susanne und Jens, der inzwischen die zweite Klasse besuchte, auf und trank, sobald die beiden das Haus verlassen hatten, einen Kaffee nach dem anderen am Küchenfenster, bis ich mit der Arbeit beginnen konnte. Gegenüber schlich Onkel Jörg durch die Wohnung über dem Beerdigungsinstitut. Um diese Uhrzeit trug er gewöhnlich einen lila Frotteebademantel und bewegte sich durch sein Schlafzimmer, in das der Wind die Vorhänge des geöffneten Fensters blähte, wie ein Taucher mit Bleischuhen auf dem Meeresgrund. Heinz war noch nicht da, denn die Vespa lehnte nicht an der Wand des Sarglagers, und Om war wohl wieder unterwegs, um in der fast hüfthohen Wiese hinterm Haus, die bald mal wieder gesenst werden müsste, seinen beneidenswert unkomplizierten und abenteuerlichen Geschäften nachzugehen.

      Noch eine oder zwei Tassen, dann eine Zigarette, überlegte ich (im Gegensatz zu Heinz rauchte ich meist eine milde Marke), und dann müsste ich endlich nach oben gehen, um auf dem Dachboden weiter an meinem Roman zu basteln. Wenn ich heute zwei Seiten rausquäle, bin ich gut. Oder drei. Winkler behauptet, sieben Seiten am Tag schreiben zu können, aber das nehme ich ihm nicht ab. Ich ließ Kaffeepulver in die Filtertüte rieseln, ich brauche nicht mitzufahren, nahm meine Tasse von der Spüle, wo sie mehrere Tellertürme bewachte, denn heute ist ein guter Tag, schwenkte sie mit lauwarmem Wasser aus, summte vor mich hin, ein Schreibtag. Seit Vaters Tod fuhr ich montags und mittwochs im Leichenwagen mit, damit Onkel Jörg währenddessen den, wie er es nannte, Bürokram erledigen konnte. In Notfällen rief er mich mitunter nachts an, und war ich nicht zu Hause, probierte er es in Mollingers Eck, wo ich mich fast jeden zweiten Abend mit Achim traf. Dass man uns nachts anforderte, geschah jedoch höchst selten, denn fast neunzig Prozent unserer Klientel zogen es vor, im Krankenhaus zu sterben, und weil dort der Totenschein erst morgens ausgestellt wird, packt man die Toten nachts in die Kühlvitrinen, lässt die Ärzte weiterschlafen, und damit hat es sich. Onkel Jörg mochte es übrigens sehr, wenn ich ihn in angetrunkenem Zustand begleitete. Ich erinnere mich gut an dieses eine Mal, als er mich in Mollingers Eck abholte, um «rasch einen einzusargen»


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