Fahlmann. Christopher Ecker
Man griff nach Jacken und Handtaschen, in der letzten Reihe erhoben sich zwei ältere Damen, ich steckte Brahnet obs, Walg Nastranz! in die Brusttasche des Flanellhemds, versenkte schWEINe-essIG in der Jutetasche, Feierabend. Nach einer Lesung sind die ersten Schritte in den Raum hinein die schlimmsten: Der Schüler, der sich an der Tafel zum Gespött der Klasse gemacht hat, geht an seinen Platz zurück. Freundliche Menschen verwandelten in einer faszinierend spielerischen Choreographie meinen Tisch in eine Theke und erklärten: «Wir dürfen Ihnen die Flasche leider nicht mitgeben.» Also schlenderte ich mit einem durchsichtigen Plastikbecher hinaus in den Flur zur kniehohen Metallsäule des Aschenbechers, trank warmes Bier, rauchte, hielt nach offenen Hosenläden Ausschau, wären Sie so freundlich, eine Dame mit lilagetöntem Haar wollte mein Buch signiert haben, ich ließ sie mein Bier halten und schenkte ihr einen zitternden Fahlmann. Achim war unauffindbar, die hübsche Vierzehnjährige war verschwunden, andere Frauen, Frauen, wo sind bloß die ganzen anderen Frauen hin, Polkinger beschallte die Anwesenden mit einer kritischen Beurteilung der deutschen Gegenwartsliteratur, wieso muss der Künstler überhaupt zahlen, ich erstand ein zweites Bier, Sauladen, Inge kam auf mich zu, lächelnd, einen Becher Sekt in der Hand.
Sie trug ein verwaschenes, schulterfreies Sweatshirt, Sommersprossen sprenkelten die helle, milchig weiße Haut der Schultern, schwester inge! ihr busen! – bei jeder Bewegung schlingerten ihre, verzeihen Sie mir die Offenheit, geilen Möpse unter dem Stoff. Die Uni, Professor Capart, wir tauschten Belanglosigkeiten aus, Inge ist zu aufgeräumt, um die Busen-Passage auf sich bezogen zu haben, dachte ich erleichtert und fing gerade an, mir Hoffnungen auf einen großartigen Abend zu machen, ich bin verheiratet, wir müssen deshalb zu dir gehen, da gesellte sich der Kerl mit dem Dreitagebart zu uns, der während der Lesung neben ihr gesessen hatte, und legte den Arm besitzergreifend um ihre Taille. Der Angeber hatte die Hemdsärmel bis zur Mitte des Bizeps hochgekrempelt. Sein Hosenladen stand nicht offen. Wieso schaut er mich so merkwürdig an? Darf man denn hier niemandem auf den Latz kucken? Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier. Ich musste seine Stimme hören. «Wie fandst du die Gedichte?», fragte ich beiläufig. Er zuckte mit den Achseln. «Nicht so toll?», kombinierte ich beherzt. Inge bedachte mich mit einem entschuldigenden Lächeln.
Danach lief ich in unbeholfenen Achtern zwischen den Leuten umher (Mein Publikum! Mein Publikum!), kippte ein drittes Bier, rauchte weitere Zigaretten und fühlte mich ähnlich verloren wie Onkel Jörg, als er mich zur Verleihung der Van-Hoddis-Medaille nach Berlin begleitet hatte. Ich gab unverfängliche Antworten auf dumme Fragen, begrüßte Bekannte meiner Mutter, wieso ist sie eigentlich nicht, als wären wir allerbeste Freunde, hätte ruhig kommen können, Großvater, wenigstens einem hats gefallen, bedankte sich für den «dreifachen Struebing» und fragte: «Wie fühlst du dich jetzt? Nach der Lesung?»
Ich antwortete: «Spitzbergen.»
Moment, Moment, lassen Sie mich weitermachen! Das wollte ich gerade erklären! Im Wohnungsflur, gegenüber des Garderobenspiegels (Afrika und Europa verschwanden, wenn man sich Mitesser ausdrückte), hing eine Weltkarte. Ich hatte sie ursprünglich für Jens aufgehängt, aber eines Tages begann ich, jedes Land, das eine vertrauenswürdige Person bereist hatte (womit der Beweis für die Existenz glaubwürdig erbracht war), mit einem Kreuz zu versehen. Mutter flog mit einem Bekannten nach La Palma, brachte Fotografien mit, ein Fläschchen Sand – ich malte ein Kreuz auf die Islas Canarias (Esp.). Länder, die ich selbst bereist hatte, z. B. Frankreich oder Schweden, versah ich mit zwei Kreuzen. Mein Problem hieß Spitzbergen. Schon als ich die Weltkarte an die Wand geheftet hatte, war mir Spitzbergen zu groß erschienen. Es lag zu weit nördlich. Selbst die Form war fragwürdig, unpassend, und bald war mein Zweifel an der Existenz Spitzbergens ein Familienscherz geworden. Bestärkt in diesem künstlich erzeugten Spleen hatte mich ein Interview mit Philip K. Dick, worin dieser behauptet: Sie bauen nur so viel von der Welt auf, wie sie brauchen, um einen zu überzeugen, dass es sie (die Welt nämlich) auch gibt. Wissen Sie, das ist wie bei einer Low-Budget-Produktion: diese Länder, von denen man immer liest, wie Japan oder Australien (oder Spitzbergen! ganz besonders Spitzbergen!), die existieren gar nicht wirklich.
Da draußen ist gar nichts. Außer man entschließt sich, dorthin zu fahren, und in diesem Fall bauen sie alles schnell auf, die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen, gerade noch rechtzeitig, dass man sie (die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen nämlich) sehen kann. Sie (ignorieren sie den Falschbezug!) müssen wirklich sehr schnell arbeiten. Der Interviewer weiß nicht, ob ihn Dick auf den Arm nimmt, aber ich vermute, dass Dick das selbst nicht wusste. Das Publikum soll genauso wenig wissen wie ich selbst, ob ich Spaß mache oder es ernst meine, offenbarte Salvador Dalí einmal, und ich glaube heute, dass es sich mit meinem Spitzbergen-Tick ähnlich verhielt. Natürlich zweifelte ich nie wirklich daran, dass sich dort oben im Polarmeer ein Archipel befand, das aus den vier großen Inseln Spitzbergen, Nordostland, Edgeinsel und Barentsinsel sowie zahlr. kleineren Inseln bestand, auch zweifelte ich nicht im geringsten daran, dass dieses Archipel 1194 von Wikingern entdeckt und 1596 von W. Barentsz wiederentdeckt wurde (im Unterschied zu diesem niederländischen Seefahrer und Kartographen fand ich mein Spitzbergen zwischen Spitzahorn [Acer platanoides] und Spitzbogen), aber gerade weil Spitzbergen (zus. mit der Bäreninsel das norweg. Verw.-Geb. Svalbard) in keinem Lexikon fehlte, gefiel ich mir in der Rolle des Mittelpunkts einer geographischen Verschwörung. Richtig, Euer Ehren! Spitzbergen ist eine Metapher für die, geschwollen ausgedrückt, Vergeblichkeit allen menschlichen Trachtens.
«So schlimm war es doch gar nicht», meinte Großvater.
«Ich hab im Keller lesen müssen. Und keiner hat gelacht.»
«Ich habe gelacht. Was macht eigentlich dein Roman?»
«Der schneckt so vor sich hin.»
Großvater nahm die Brille ab, um damit in der Luft herumzufuchteln, was er nur tat, wenn ihm etwas besonders zu Herzen ging. «Das Tempo spielt doch keine Rolle! Das einzige, was zählt, ist, ob das Buch gut oder schlecht wird.» Er setzte die Brille wieder auf. «Wird es denn gut?»
«Da fragst du den Falschen. Mal halte ich es für extrem schlecht, dann wieder erfüllt mich ein fast peinlicher Stolz. Vielleicht liegt das daran, dass ich viel zu gut über meine eigenen Tricks und Schwächen Bescheid weiß, um mich noch selbst täuschen oder begeistern zu können. Ich finde das, was ich schreibe, weder spannend noch überraschend, obwohl ich die Leser damit fesseln und überraschen will. Ich schreibe eine Passage, die witzig sein soll, aber bereits beim Überarbeiten geht sie mir auf den Keks und kommt mir dumpf und abgeschmackt vor. Und ich wiederhole mich! Ich sage nur: Lieblingswörter! Manche verwende ich so exzessiv, dass ich das Knochenkotzen kriegen könnte. Und der Satzbau! Der ähnelt sich immer. Schreiben ist ein Herumpuzzeln mit Teilen, die man nur undeutlich sieht, ein Jonglieren mit glitschigen Puzzlestücken, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Aber ich übertreibe. Ein überschätzter SF-Autor hat den Schriftsteller mal mit einem Tänzer in einem chinesischen Papierdrachen verglichen. Alle sehen einen wunderschönen Drachen durch die Straßen ziehen, aber der Tänzer im Inneren des Drachens sieht lediglich das Holzgestänge, das unbemalte Papier, das Pappmaché und den Arsch des Vordermanns.» Mister Mundgeruch steuerte auf uns zu, ich lächelte mild und drückte ihm, ehe er Verdacht schöpfen konnte, mein Tütchen hosentaschenwarmer Eukalyptusbonbons in die Hand. Abermals bewegten sich alle durch den Raum wie die allegorischen Figuren einer barocken Rathausuhr. Großvater trieb davon. Polkinger schob sich mir in den Weg und erklärte, mein größtes Talent sei das ironische Zitat. Es gibt außer dem Motto kein einziges Zitat in dem Gedichtband, du Kretin! «Mir hat Ihre Lesung gut gefallen.» Suuuper! «Wie schade, dass ich nicht kommen konnte», hörte ich Professor Capart ausrufen, und wieder geriet der Raum in Bewegung. Mein Publikum glitt wie auf Schienen dahin – and I awoke and found me here on the cold hill’s side.
Immer öfter stand ich alleine da, alleine im Raum, erschrak, wieso stehe ich alleine da, alleine im Raum, gab mir einen Ruck, Mut, Mut, näherte mich einem diskutierenden Grüppchen, der Paristeil ist der Hit, und prahlte, mit meinem Jugendfreund Marcus Schlumpf-Fallen im Wald gebaut zu haben. «Kleine, mit Reisig abgedeckte Gruben auf den mutmaßlichen Handelswegen der Schlümpfe.» Staunen. «Die Schlümpfe habens übrigens in sich!», erzählte ich einem irritierend aufmerksamen Herrn. «Sie tragen die Phrygiermütze der Jakobiner und dazu kurze Hosen. Sansculotten, Sie verstehen! Kennen Sie die Geschichte dieser